Theremin, Franz - Von der Salbung Christi.
Am Sonntage vor den Fasten 1833.
Evangelium Johannis, K. 12. V. 1 - 8.
Sechs Tage vor den Ostern kam Jesus gen Bethanien, da Lazarus war, der Verstorbene, welchen Jesus auferwecket hatte von den Todten. Daselbst machten sie ihm ein Abendmahl, und Martha dienete, Lazarus aber war derer einer, die mit ihm zu Tische saßen. Da nahm Maria ein Pfund Salbe von ungefälschter köstlicher Narde, und salbete die Füße Jesu, und trocknete mit ihrem Haar seine Füße; das Haus aber ward voll vom Geruch der Salbe. Da sprach seiner Jünger einer, Judas, Simons Sohn, Ischariothes, der ihn hernach verrieth: Warum ist diese Salbe nicht verkauft um drei hundert Groschen, und den Armen gegeben? Das sagte er aber nicht, daß er nach den Armen fragte; sondern er war ein Dieb, und hatte den Beutel, und trug, was gegeben ward. Da sprach Jesus: Laßt sie mit Frieden, solches hat sie behalten zum Tage meines Begräbnisses. Denn Arme habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit.
Was sollen wir, meine Brüder, Denjenigen antworten, welche allen frommen Gefühlen den Krieg erklären; welche sie nicht nur für unnütz, sondern auch für gefährlich ausgeben; und welche schon deshalb gegen die christliche Frömmigkeit eingenommen sind, weil dieselbe nicht ohne eine lebhafte Mitwirkung und Theilnahme des Herzens gedacht werden kann?
Wenn wir auch diese Feindschaft nicht theilen, so werden wir doch der Einsicht, der Ueberlegung, der Erkenntnis; ihren hohen Werth auf dem ganzen Gebiete des christlichen Glaubens und Lebens nicht absprechen wollen; ja wir werden zugeben müssen, daß manche wohlmeinende, aber unklare und unerleuchtete Menschen, indem sie sich dem Drange eines Gefühls, das sie für fromm hielten, überließen, in große Verirrungen gerathen sind. Wie sollen wir also diese Frage nach dem Werthe der christlichen Gefühle beantworten? Sollen wir ihre Vortrefflichkeit leugnen oder behaupten; sollen wir die etwa in uns vorhandenen ausrotten oder beleben?
Unter den zahlreichen Stellen der Schrift, welche über diesen Gegenstand Licht verbreiten können, scheint mir der vorgelesene Abschnitt eine der wichtigsten. Laßt uns aus demselben eine Belehrung schöpfen über das fromme, christliche Gefühl, und zwar erstlich über seine Beschaffenheit; zweitens über seine Bewährung; drittens über die Mittel es zu erwecken. - Wir beginnen diese Betrachtung nicht mit kaltem, sondern mit bewegtem Herzen; denn nahe ist ja die Zeit, wo das Kreuz Jesu Christi uns wieder vor die Augen gestellt wird, und wo sein erlösendes Leiden die ganze Macht unserer Gefühle in Anspruch nimmt. Wohlan! Wir werden ja sehen, was von diesen Gefühlen zu halten sey. Du aber, o Herr, leite uns durch dein Wort und durch deinen Geist in alle Wahrheit, denn wir suchen nichts als Wahrheit! Amen.
Welch eine Zeit und welch ein Kreis, worein die evangelische Erzählung uns versetzt! Jesus, begriffen auf seiner letzten Reise nach Jerusalem, seinem Leiden und Tode entgegen gehend, ist in Bethanien angekommen. Im Hause Simons des Aussätzigen, wahrscheinlich Eines der Vielen, denen der große Arzt des Leibes und der Seele die Gesundheit wiedergegeben hatte, sitzt er zu Tische. Neben ihm, Lazarus, dessen schon einmal vom Tode geschlossenes Auge sich dem Strahle der Sonne wieder geöffnet hatte; welchen das Dunkel des Grabes und das Licht der Auferstehung umschwebte, - der Erweckte neben dem Erwecker. Martha - sie ist uns bekannt, diese gläubige, fromme, geschäftige Schwester des Lazarus - sie dient; wo der Herr zugegen ist, da mag sie sich die Ehre, ihm zu dienen, nicht nehmen lassen. Auch Maria, die andere Schwester des Lazarus, kennen wir; sie war es, die, wenn der Herr ihr Haus besuchte, zu seinen Füßen saß, und seine Worte begierig in sich sog. Doch wir sollen noch einen andern Zug von ihr erfahren.
Sie blickt auf Jesum - wie jetzt, so hat sie noch niemals sich von Verehrung und Dankbarkeit gegen ihn durchdrungen gefühlt. Was verdankt sie ihm nicht! Er hat in ihrem Geiste ein höheres Licht, in ihrem Herzen eine heilige Sehnsucht nach ewigen Gütern entzündet. Er ist die Auferstehung und das Leben; er hat es bewiesen, da er ihren Bruder dem Tode entriß. Als der Freund ihres Hauses, in herablassender Liebe, hat er nicht selten unter ihrem Dache verweilt. Welchem Schicksale mag er jetzo entgegen gehen? Die Aufregung der Gemüther ist groß; viele sind für, noch mehrere gegen ihn; seine Feinde drohen - und seine Freunde sollten schweigen? O daß sie selber durch Ein Wort, durch Ein Zeichen ihm ihr ganzes Herz darstellen könnte! Was besitzt sie, um es in diesem Augenblick ihm hinzugeben, ihm zu weihen? Da denkt sie an Etwas - der Gegenstand ist zwar nur gering, doch sie mochte aus irgend einem Grunde Werth darauf legen; sonst hätte sie wohl jetzt nicht daran gedacht - es ist ein Gefäß von Alabaster, das einen köstlichen Balsam verwahrt. Sie nimmt es, nahet, zerbricht es; der Balsam fließt auf das Haupt Jesu und auf seine Füße, zu denen sie niedersinkt, und die sie mit ihren Haaren trocknet. - Was war das? Nichts als der Ausdruck ihres frommen Gefühls, das sie durch diese stumme Handlung an den Tag legte, wie ein Anderer vielleicht es durch Worte, durch Gebärden, durch Thränen offenbart haben würde. Ja es lag sogar in diesem Ausdruck etwas - wie soll ich sagen? - Ueberschwängliches, etwas, das die gewöhnlichen Grenzen überschritt. Deshalb erregt es auch Mißbilligung und lauten Tadel bei den Anwesenden. Aber Jesus nimmt ihr Gefühl, und sogar den Ausdruck desselben in Schutz. Laßt sie mit Frieden, spricht er in unserm Evangelium, wozu Matthäus noch die Worte hinzufügt: Sie hat ein gutes Werk an mir gethan. Wahrlich ich sage euch, wo dieß Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtniß was sie gethan hat. Diese Verheißung erfüllet sich auch heute, wo wir ihrer Liebe zu Christo gedenken, um die unsere daran zu entzünden.
Sind denn aber dadurch alle Gefühle die sich für fromm ausgeben, und die einen solchen Schein haben, gerechtfertigt? Nein, das sind sie nicht; wir haben hier vielmehr ein untrügliches Merkmal gefunden um die echten, wahren von den unechten, unwahren zu unterscheiden. Echt und wahr ist ein jedes Gefühl, welches, wie das der Maria, sich auf die Person Jesu bezieht; dessen Wesen und Hauptbestandtheil Liebe zu dem Erlöser ist. Dieses soll unbedingt anerkannt und gepflegt werden. Unecht sind alle auf dem Boden der natürlichen Selbstsucht gewachsenen, mit Hochmuth und Ehrgeiz gemischten Gefühle, die auf die Vergötterung einer menschlichen Persönlichkeit, der eigenen oder einer fremden, hinauslaufen, und nicht in Gottes Wort und dessen ewiger Wahrheit, sondern in selbstersonnenen Meinungen ihre Stütze finden. Diese werden wir gern dem Tadel Preis geben, so sehr sie auch suchen mögen sich als christlich gelten zu machen. Zwischen diesen und den echten stehn andre in der Mitte, die man zwar noch nicht vollkommen nennen, für die man aber Anerkennung oder doch Schonung fordern darf. Sie entstehn, wenn das Gemüth, das noch nicht sein ganzes Heil in Christo gefunden hat, durch das gestaltlose Jenseitige, Uebersinnliche, wie die Meeresfläche durch den Wind, berührt wird, und in dieser Berührung zusammenschauert und sich erhebt. So sehen wir wohl den Jüngling und die Jungfrau, oder überhaupt Menschen die im Uebergange vom natürlichen zum Glaubensleben begriffen sind, erschüttert und bewegt, wenn sie den Ton der Glocken, den Gesang der Gemeine vernehmen, wenn man zu ihnen redet vom Tode und vom ewigen Leben, von ihren hingeschiedenen Angehörigen, die vor dem Throne Gottes stehn, wenn man ihnen den Segen der Frömmigkeit und den Fluch der Sünde schildert. O möchten doch solche Erscheinungen häufiger senn, als sie in der jetzigen trockenen und kalten Zeit angetroffen werden; möchten doch solche Rührungen bei jeder Einsegnung, bei jedem ersten Abendmahle aus den Augen der jungen Christen hervorbrechen; möchte doch der unentschieden Umherirrende, wenn er in ein einsames Nachdenken versinkt, anfangen zu weinen, ohne eigentlich selbst zu wissen, warum! Dieß sind schöne Blüthen; wir wollen sie nicht zerknicken, sondern Pflegen; manche fallen wohl ab, ohne Früchte zu bringen; aber die Frucht selbst, woraus entsteht sie denn, wenn nicht aus der Blüthe? Ist nun aber Jesus der Seele Alles in Allem geworden, findet sie nur in ihm Erlösung und Seligkeit, kann sie Gott nur schauen in dem Ebenbilde seines Sohnes, wenden sich auf ihn alle ihre Kräfte um ihn zu umfassen, ihm zu huldigen und zu dienen, dann ist ihr Gefühl echt, vollkommen; dann ist es klar, lichtvoll, weise, denn es beruht auf der Erkenntniß der göttlichen Wahrheit, und des Verdienstes Jesu Christi, oder doch auf einem Eindruck, der an heilsamen Wirkungen der Erkenntniß gleich kommt. Dann ist nichts mehr zu wünschen als daß es den ganzen Menschen erfüllen und beherrschen möge!
Aber doch ja mit Maaß! werden Einige sagen. Was? Mit Maaß? Wie kann man Maaß fordern in dem, was seiner Bestimmung nach schrankenlos, unermeßlich senn soll? Wenn man eure Kinder ermahnte, Euch doch ja mit Maaß zu lieben, würde es Euch gefallen? Und doch, was seyd Ihr gegen den Herrn; was ist die Liebe, die man Euch schuldig ist, gegen diejenige, die ihm gebührt? Wißt Ihr nicht daß er mehr geliebt seyn will, als Vater und Mutter? Selbst eine sündliche Begier, zum Beispiel der Ehrgeiz, findet wohl bei Euch Entschuldigung eben wegen der Unersättlichkeit, womit sie über alle Grenzen hinausstrebt; und dieselbe Gewalt die in euren Augen eine verdammliche Leidenschaft adelt, die wolltet Ihr in dem heiligsten Gefühle nicht gestatten? Mit Maaß! Wird man auch nicht bald sagen, es sey nöthig Gott mit Maaß zu lieben! Aber wie spricht Gott? Er spricht: Du sollst lieben Gott deinen Herrn von ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Gemüthe; das heißt, ohne alles Maaß, alle Schranken, alle Grenzen. So soll man Gott lieben, und daher auch Jesum, denn er ist Gott; Gott der Heiland, in welchem die beiden Gegenstände unserer Liebe, Gott und Mensch, vereinigt sind.
Dieses Betragen der Maria wird gemißbilligt; und der Urheber des Tadels ist Judas. Warum, spricht er, ist diese Salbe nicht verkauft um drei hundert Groschen, und den Armen gegeben? Das sagte er aber nicht, bemerkt Johannes, daß er nach den Armen fragte; sondern weil er das, was diesen bestimmt ward, zu veruntreuen pflegte. Durch eine jede dem Herrn erwiesene Huldigung mußte auch das Herz des Verräthers, der ihn haßte, sich verwundet fühlen. Aber dieser Tadel wird bei dem Matthäus und Marcus auch den andern Jüngern in den Mund gelegt, die, nachdem Judas ihn zuerst ausgesprochen, in aufrichtiger Meinung, und in einem guten Sinne ihn wiederholt haben mögen. Alsdann konnte er bei ihnen nur aus der Forderung entspringen, das fromme Gefühl, wenn es wahr und echt sey, müsse sich als solches durch gute Thaten erweisen und bewähren. Diese Forderung müssen wir als gegründet anerkennen, und sie ist es, von der wir nun zweitens reden wollen.
Diese Forderung also war gegründet; aber fand sie denn ihre Anwendung auf den vorliegenden Fall? Die That setzt eine Veranlassung voraus; und wo war unter diesen Umständen die Aufforderung zum Wohlthun? Klopften etwa Arme an die Thür; drängten sie sich in das Zimmer, umgaben sie hungrig die zu Tische Sitzenden? Wäre dieß der Fall gewesen, so würde Maria sie gewiß reichlich bedacht haben; und damit wäre denn Judas wohl auch nicht zufrieden gewesen. Hier waren keine Arme; aber hier war Jesus zugegen. Gab es denn nur Pflichten gegen die Armen, gab es denn nicht auch Pflichten gegen ihn zu erfüllen? Arme habt ihr allezeit bei euch, spricht Er deshalb, aber mich habt ihr nicht allezeit. Vor ihm die Gefühle der Liebe und der Verehrung auszuströmen, welche das Herz erfüllten, das verlangte, das erheischte jetzt seine Gegenwart; und wer dieß that, wie konnte man dem vorwerfen, nicht etwas Anderes gethan zu haben, wozu sich doch keine Gelegenheit bot?
Aber so ungerecht ist die Welt. Sie setzt dem Glauben die Werke, dem Gefühl die That entgegen, und gibt zu verstehn: wer da glaube, der wirke nicht; wer da fühle der handle nicht. Als wenn man nicht das Eine thun könnte, ohne das Andere zu lassen; als wenn es nicht möglich wäre mit dem Glauben die Werke, mit der Pflege und Erweckung der frommen Gefühle, das thätige Handeln zu verbinden; als wenn nicht nach Zeit und Umständen bald mehr das Eine, bald mehr das Andere hervortreten müßte. Wenn Ihr am Morgen, nach dem Erwachen, ehe Ihr zu eurem Tagewerke übergeht, Euch vor dem Angesichte Gottes sammelt, um zu beten, ist das etwa Pflichtvergessenheit? Ist es unerlaubt der Arbeit eine Stunde abzubrechen, um, bevor man sich dem Schlafe hingibt, Gott das Abendopfer des Dankes und Lobes darzubringen? Will man dem frommen Gefühle und seiner Erweckung durchaus keine Zeit gönnen, so könnte man ja am Ende so weit gehen, Euch eure Anwesenheit an heiliger Stätte zum Vorwurf zu machen. Was thut Ihr da? könnte man sagen; Ihr schwelgt in frommen Gefühlen; aber Gefühle sind unnütz. Ihr hättet lieber während der Zeit einen Kranken besuchen, einem Armen beistehn, eine Pflicht eures Berufes erfüllen sollen. Was würdet Ihr auf solchen Vorwurf erwiedern? Gemach! würdet Ihr sagen; wir feiern den Sabbath des Herrn, wir erfüllen Gottes Gebot. Deshalb sind wir nicht gerade schlechter als Andere, die in ihrer Werkstatt, an ihrem Schreibtische zurückgeblieben sind; deshalb werden wir auch nicht gerade, wenn wir diesen Raum verlassen haben, uns den Pflichten unsers Berufes, und den Liebesdiensten gegen Kranke und Arme entziehen.
Das Gefühl also hindert nicht das Wirken. Aber es soll noch mehr thun, um sich zu bewähren, es soll das Wirken hervorrufen. Und das thut es auch. Und zwar werdet Ihr hierbei nicht allein an ein äußeres, sondern auch an ein inneres Wirken denken müssen. Ehe die That rein, kräftig, Gott wohlgefällig hervortritt, wie viel innere Hindernisse sind nicht zu besiegen; wie viel geistige Kämpfe zu bestehn! Da ist der Eigennutz, da ist die Weltlust, da sind unzählige Leidenschaften, die dem Gebote Gottes widerstreben. Was soll sie unterdrücken? Das Gesetz des Gewissens? Ich verkenne nicht die Würde und die Kraft dieses Gesetzes; ich danke Gott dafür als für eine der höchsten natürlichen Gaben. Ich habe nur immer gefunden, daß es gegen die größten Feinde des Menschen, gegen die Leidenschaften und Begierden, gar wenig vermag; und daß Viele, die sich auf dieß im Innern thronende Gesetz berufen, nichts als leidige, der Sünde ergebene Schwätzer sind. Wollt Ihr die verderbten Gefühle und Neigungen nicht nur hin und wieder zurückhalten, sondern sie ertödten, vertilgen: so setzt Gefühl gegen Gefühl, Neigung gegen Neigung; nämlich frommes Gefühl gegen irdisches, Liebe zu Christo gegen Weltliebe; nur dann fliehet Hoffahrt, Ehrgeiz und Lust; nur dann wird das Innere geheiligt und umgewandelt. Diese Herrschaft über das eigne Herz, die mancher Greis entbehrt, und die schon mancher Jüngling, manche Jungfrau allein durch die Liebe zu Christo erringt, soll diese nicht als die Bewährung des frommen Gefühles gelten? - Außer den weltlichen Leidenschaften haben wir noch oft zu kämpfen mit Schmerzen, die uns verwunden, mit einer Trauer, einem Gram, die mit ihrer ganzen Last sich auf das Herz wälzen, und es niederdrücken. Was wird diese Wunden heilen; was wird dem Herzen Kraft geben, trotz der Bürde die es beschwert, sich zu Gott, zum Urquell alles Trostes zu erheben, ihm für seine Strafen zu danken, und sie als Mittel der Heiligung anzuwenden? Liebe zum Herrn allein, sonst gibt es hier nichts, das helfen kann.
Aber auch an der Bewährung durch äußere Thaten wird es nicht fehlen. Der Liebe, welche Maria für Jesus äußert, setzt Judas die werkthätige Liebe gegen Arme entgegen. Wie ungerecht! Was hat zu allen Zeiten den Eifer des Wohlthuns mehr entflammt als Liebe zu dem Herrn? Die Christen vergaßen es nicht, daß er die Hungrigen gespeiset und die Kranken geheilt, daß er im Geben mehr Seligkeit als im Nehmen gefunden, ja daß er selbst sich seines unermeßlichen Reichthums entäußert hatte, um ein Armer unter den Armen zu seyn. Wo sie nun einen Armen sahn, da sahn sie in ihm den Herrn Jesum selbst. Er hatte ja gesagt: Arme habt ihr allezeit bei euch, aber mich habt ihr nicht allezeit, und hatte so die Armen gewissermaßen an seine Stelle gesetzt. Er hatte gesagt: Was ihr gethan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir gethan. O was hätte man für ihn nicht gethan, wenn man so glücklich gewesen wäre, ihm, da er noch auf Erden wandelte, zu begegnen! Wie gern hätte man Alles was man an Schätzen, an Kräften besaß, ihm dargeboten und geweiht! Nun weihte man es um Seinetwillen den Armen. Verwaisete Kinder wurden erzogen, kraftlose Greise wurden verpflegt, in die Hütten des Elends drang das Mitleid, und brachte Bekleidung für die Nackten, Speise für die Hungrigen, Arznei für die Kranken. Die Wohlthätigkeit ward eine Lieblingstugend der Christen; wäre sie es geworden, wenn sie den Herrn nicht geliebt hätten? Wenn sie auch jetzt, und zwar in einem bedeutenden Umfange ausgeübt wird; wenn sie leibliche und geistige Bedürfnisse, nahe und entfernte berücksichtigt; wenn sie das Wort Gottes verbreitet, wenn sie Boten des Heiles über das Weltmeer sendet: aus welchem Antriebe, zu wessen Ehre geschieht es? Aus Liebe zum Herrn, zu seiner Ehre!
Pflichten gibt es aber auch, welche schwerer sind als die des Wohlthuns, zu deren Erfüllung Glück, Leben, Alles was dem Menschen sonst theuer ist, und seyn darf, aufgeopfert werden muß. Zu solchen Opfern bedarf es einer hohen Begeisterung, die nicht aus dem Gesetze, wenn es kalt und ruhig zu uns spricht, die nur aus der Liebe zu Christo geschöpft werden kann. In den frühern Jahrhunderten führte man oft die Christen vor einen heidnischen Richter; dieser zeigte ihnen die Zurüstung zu einer gräßlichen Marter, die ihrer wartete; er ermahnte sie ihres Lebens, ihrer Eltern, ihrer Frauen und Kinder zu schonen, sich zu retten, indem sie Christum verleugneten. Sie sollten ja nur eine Hand voll Weihrauch nehmen, und ihn in das Feuer werfen, das auf einem Götzenaltar brannte. Meint Ihr daß in ihrem Herzen nicht auch die Liebe zum Leben, und zu ihren Angehörigen gesprochen habe? Wie hätte es nun gestanden um das Bekenntniß Christi, der diejenigen verleugnen wird vor seinem himmlischen Vater, die ihn vor den Menschen verleugneten; wie hätte es gestanden um das Beispiel, das ganze Jahrhunderte, und das viele noch ungeborne Geschlechter von Jenen erwarteten, wenn nicht über alle natürlichen Gefühle ein höheres Gefühl in ihnen geherrscht hätte? Dieß war die Liebe zu Christo; und in dieser sprachen sie: Den Herrn, der uns erlöset hat, den verleugnen wir nicht; übrigens leiden wir Alles, was Ihr wollt. Jahrhunderte vergingen; da hatten die Mächtigen der Erde sich versammelt, um den Helden der evangelischen Kirche zum Widerrufe seiner Lehre aufzufordern. Er jedoch, der erkannten Wahrheit treu, und die Verleugnung derselben zurückweisend, rief: Hier steh' ich; ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen! Und warum konnte er nicht anders, als weil Liebe zu Christo ihn zwang, die unverkennbar in diesen, eines Apostels würdigen Worten, hervorbrennt?
In einem Worte, meine Brüder: Liebe zu Christo ist des Gesetzes Erfüllung. Durch sie liebt und ehrt das Kind seine Eltern; durch sie gehorcht ein Volk seinem Fürsten; durch sie treibt der Bürger in Fleiß und Ehrbarkeit sein Gewerbe; durch sie wird der Staatsmann, mehr als durch Ehrgeiz, zur Erfüllung seiner Pflichten gestärkt; durch sie ist der Krieger tapfer und unüberwindlich im Kampfe. Alles gedeiht da, wo sie die Herzen erfüllt; da, wo sie fehlt, schwindet Pflichttreue und Glück, und Alles stürzet zusammen.
Darum suchen wir jetzt drittens in unserm Texte eine Belehrung über die Mittel, wodurch sie erweckt werden kann. Denn wenn der Herr uns fragte, ob wir ihn lieben, müßten nicht Viele beschämt die Augen niederschlagen, und schweigen? Und selbst diejenigen, welche diese Frage bejahen können, werden sie nicht hinzusetzen: Dieß Gefühl, das wir kennen, wie ist es so schwach; diese Liebe, die wir empfinden, wie ist sie so kalt, so lau, so ohne herzdurchdringende Kraft! O möchte sie doch in uns, möchte sie in Aller Herzen brennen; möchte die ganze Welt von diesem heiligen Feuer entzündet werden!
Hier kommen uns die Worte zu Statten, welche Christus zur Rechtfertigung der Maria spricht: Solches hat sie behalten zum Tage meines Begräbnisses; oder wie Marcus sie anführt: Sie ist zuvorgekommen meinen Leichnam zu salben zu meinem Begräbniß. Als wenn er gesagt hätte: Euch befremdet eine solche Aufwallung des Herzens, eine solche Verschwendung der Liebe? Nehmt an, sie hat dabei an meinen Tod gedacht. Ihr wißt ja nicht, wie bald er bevorstehn, und Euch Alle in die tiefste Betrübniß stürzen kann. Was sie dann thun würde, hat sie schon jetzt gethan; sie hat mich als einen Todten behandelt. Tadelt Ihr sie noch? Begreift Ihr jetzt nicht dieß Auflodern ihres Gefühls; werdet Ihr nicht Alle, im Hinblick auf meinen Tod, eine größere Liebe für mich empfinden?
Ja, meine Brüder, der Tod ist ein mächtiges Erweckungsmittel der Liebe. Denkt Euch irgend einen Menschen, einen Armen, einen Freund, einen Feind, euren Vater, eure Mutter, euren Gatten. Ein Tag wird kommen, an welchem er daliegen wird, kalt, starr, unbeweglich, mit geschlossenen Augen. Er antwortet auf keine Frage; erwiedert keinen Blick; dankt für kein Liebeszeichen. Daß man den Leichnam in einen Sarg lege, und ihn zur Erde bestatte, das ist Alles was man für ihn thun kann; sonst bleibt nichts mehr übrig; keine Wohlthat kann ihm mehr erwiesen, keine Freude gewährt; keine Kränkung, kein Unrecht abgebeten werden. Wenn Ihr dieß bedenkt, werdet Ihr nicht um so treuer alle Liebespflichten gegen ihn erfüllen, um Euch nicht für den Tag seines Todes die qualvollsten Vorwürfe zu bereiten? Deshalb, wenn ein Nothleidender Euch um eine Wohlthat bittet, Ihr würdet sie ihm verweigert haben - aber Ihr denkt: es ist vielleicht die letzte die er fordert; morgen kann er sie nicht mehr empfangen - und Ihr gewährt sie ihm. Wenn ein Mensch Euch beleidigt, Euch erzürnt hat, und es bietet sich eine Gelegenheit, ihm einen Dienst zu erweisen, Euch mit ihm zu versöhnen - euer Herz sträubt sich - aber Ihr denkt: diese Gelegenheit ist vielleicht die letzte; er soll nicht mit Groll gegen mich aus dem Leben scheiden; und Ihr geht hin und reicht ihm die Hand zur Versöhnung. Wenn Eure Eltern sich beklagen, o Ihr Kinder, daß Ihr, anstatt der Freude, die sie erwarteten, ihnen so manchen Kummer verursacht - Ihr meint, sie thäten Euch Unrecht, forderten zu viel. Aber Ihr fragt Euch: Werde ich es noch meinen, wenn ich an ihrem Sterbelager siehe; wird mein zerrissenes Herz ihnen dann nicht bezeugen, daß sie nur forderten was sich gebührte? Und dieser Gedanke, dieses Bild hat alle frommen, kindlichen Gefühle in Euch erweckt und neu belebt. Wenn in euerm Verhältnisse, o Ihr Ehegatten, Unzufriedenheit sich einschleicht - Ihr denkt dann wohl an die früheren Zeiten, wo eure Einigkeit so vollkommen schien, wo noch kein Mißklang sie störte - und Ihr thut wohl daran zu denken; aber denkt doch auch daß Einer unter Euch dem Andern die Augen zudrücken, und daß alsdann jedes kältere lieblose Wort, jede unfreundliche Behandlung ihm wie ein zweischneidiges Schwert durch das Herz fahren wird: denket daran, und Ihr werdet Euch lieben, wie in den Zeiten eurer Jugend.
Und wenn nun ein Mensch gestorben, wenn nach seinem Tode schon manches Jahr Verflossen ist, wenn sein Bild, wenn sein ganzes Leben in der Erinnerung der Seinigen zu verlöschen anfängt - Eines sieht doch noch da vor ihrem Geiste, als eine große, heilige Trümmer, die von fern her in die Augen fällt, welche die Blicke an sich zieht, fesselt, und von welcher man sie nur gewaltsam wegwenden kann: dieß ist seine Todesstunde! Man denkt wie die Krankheit begann, wie sie fortschritt, wie mit ihr und mit ihren Schmerzen auch seine Hoffnung und Ergebung, sein liebreiches, freundliches Erweisen gegen die Seinigen zunahm; wie er dann mit einem letzten, tiefen Athemzuge hinsank; und wie man nun anfing zu fühlen, und immer tiefer und schmerzlicher fühlte, was man an ihm verloren hatte. An seinen Tod knüpft sich sein Leben, und verklärt durch höhere Liebe tritt auch dieses aus dem Schatten der Vergangenheit hervor.
Dieß wirkt der Tod eines Menschen; was wird also nicht der Tod Jesu Christi bewirken; welches Feuer der Liebe wird er nicht entzünden? Denn welcher Tod ist diesem gleich an der Größe der Schmerzen und an der Tiefe der Bedeutung, an der Erhabenheit und Sanftmuth des Sterbenden? Seht ihn unter seinen Jüngern bei dem letzten Mahle, das ihn herzlich verlangt hatte, mit ihnen zu halten; hört die Worte, in denen er scheidend Alles was sein Inneres bewegte, gegen sie aushaucht. Folgt ihm wenn er über den Bach Kidron sich nach Gethsemane begibt, wo, in dem Dunkel der Nacht, unnennbare Schmerzen ihn ergreifen, wo er zittert und zagt, wo er betend aus dem Boden liegt, und bei den schlafenden Jüngern vergebens Theilnahme sucht. Nun kommt die bewaffnete Schaar; von einem falschen Freunde wird er durch einen Kuß verrathen; wird vor das Gericht seiner Feinde geführt, die ihn aus Haß und Bosheit verdammen, deren freche und ruchlose Diener sein heiliges Angesicht schlagen. Ihr hofft daß ein anderer Richter, der von seiner Unschuld überzeugt ist, ihn retten werde. Nein, er läßt ihn geisseln, führt ihn, der zum Spotte mit einem Purpurmantel und einer Dornenkrone angethan ward, vor das Volk, indem er spricht: Seht welch ein Mensch! und bestätigt dann, da die Menge immer heftiger gegen den Heiligen wüthet, das Bluturtheil. Jesus wird mit dem Kreuze beschwert; er trägt es, sinkt nieder unter seiner Last; erreicht seine Todesstätte; wird mit den Händen und Füßen an das Holz befestigt. Nun öffnet er den Mund, und spricht: Vater vergib ihnen! Er versorgt seine Mutter, er begnadigt einen Verbrecher; ruft in der bängsten Todesnoth, daß sein Vater ihn verlassen habe, und daß ihn dürste nach seiner Befreiung und nach unserm Heil; befiehlt dann seinen Geist in die Hände des Vaters, und nachdem er dessen Willen ganz vollbracht hat, neigt er das Haupt und stirbt. - O jedes Wort dieser Erzählung, jeder Umstand dieser Geschichte ist eine Flamme, die in das Herz dringt; ist ein Stachel der das Innere verwundet; ist ein Vorwurf daß wir Den so wenig lieben, der uns so geliebt hat, der so gestorben ist, der uns den Tod leicht macht, und uns zur Seligkeit führt. O Herr, Herr, so flehen wir zu dem Gekreuzigten, gib doch, daß wir um deiner Liebe, um deines Todes, um deiner blutigen Marter willen; gib doch daß wir für die Vergebung der Sünden und für die Freuden des Himmels, die Du uns erworben hast - eine Liebe zu Dir hegen mögen, so heiß, so innig als unser Herz sie zu fühlen und zu fassen vermag. Oder vielmehr stärke dieß schwache, erweitre dieß enge, entzünde dieß kalte Herz, daß wir von der unermeßlichen Schuld gegen Dich nur einen kleinen Theil abtragen mögen. So werden wir rufen bei der Betrachtung des Leidens Christi; indem wir uns vorwerfen daß wir nichts empfinden, werden wir anfangen etwas zu fühlen; sein Tod wird der Zunder unsrer Liebe seyn.
Wolltet Ihr denn nicht, Ihr frommen Seelen, dieß Mittel anwenden? Wollt Ihr nicht, öfter als Ihr es bisher gethan habt, Euch unter das Kreuz Jesu Christi stellen zur Betrachtung seines Leidens? Sehet, in der Zeit, die nun bald wieder beginnt, findet Ihr dazu eine eigene und dringende Aufforderung. O laßt diese dem Schmerze und der Liebe gewidmeten Tage nicht unbenutzt vorübergehn. Vermeidet eitle Zerstreuungen und weltliche Freuden, welche den höheren Gefühlen den Tod bringen. Heilige Pflicht scheint es Euch den wiederkehrenden Todestag eurer Angehörigen durch tiefen Ernst, und gerührtes Andenken zu feiern; und in der Zeit des Leidens Jesu Christi wolltet Ihr Seiner, und seiner Schmerzen, und seines Todes uneingedenk seyn? Sammelt denn in der Stille eure Gedanken um das Kreuz des Herrn. Sagt euren Kindern und euren Hausgenossen ein Wort von ihm, von seiner Liebe, und von seinem Leiden. Sondert einen Umstand desselben aus für die Betrachtung eines jeden Tages. Gehet so fort Schritt für Schritt, Tag für Tag, bis zur großen Feier seines Sterbetages. Und wahrlich, eure erloschene und nun mächtig entzündete Liebe, eure erstorbenen und nun belebten Gefühle, sie werden dem Herrn lieblich duften, wie der Balsam, den Maria über sein Haupt und über seine Füße ergoß; sie werden eine tiefe Spur in euerm Innern zurücklassen, und ihre Segnungen bis in eure spätesten Jahre erstrecken.
Diese Erweckung der Liebe durch das Gedächtniß des Leidens Jesu Christi wünsche ich heute besonders Euch, den Genossen seines heiligen Mahles. Ihr wollt seinen Tod verkündigen; o bedenket daß der Tod immer eine ernste, rührende Begebenheit ist; daß kein Tod ernster, rührender gewesen ist, als der Tod des Herrn. Nahet denn auch mit Ernst, und wenn es möglich ist, nicht ohne Rührung; verschließt Euch wenigstens nicht derjenigen, die der Geist in Euch erregen mag. Vor allen andern Gedanken herrsche in Euch der Gedanke an den Herrn; vor allen andern Umständen seiner Geschichte schwebe Euch sein Tod vor den Augen; vor allen andern Gaben, bittet um die Gnade ihn zu lieben.
Ihn zu lieben! Nach diesem Ruhme trachtete Maria, da sie seinen Leichnam salbete zu seinem Begräbniß; danach trachtete Petrus als er rief: Herr, Du weißt alle Dinge, Du weißt, daß ich Dich lieb habe. Danach trachtete Johannes, als er unter dem Kreuze stand, und als er in seinem Briefe schrieb: Lasset uns ihn lieben, denn er hat uns erst geliebt. Wir, meine Brüder, gern wollen wir auf jeden andern Ruhm verzichten; aber nach dem Ruhme wollen wir trachten, daß die Engel, wenn sie unsere Seele gen Himmel führen, von uns sagen: Dieser Mensch hat den Herrn Jesum geliebt! Amen.