Tersteegen, Gerhard - Briefe in Auswahl - Über einen schwerkranken Bruder. Die gegenseitige Geistesgemeinschaft kann auch ohne leibliche Gegenwart unterhalten werden.
In Jesus, der in unsern Seelen lebe, sehr werte und herzlich geliebte Schwester!
Ich nehme fortwährend den herzlichsten Anteil an dem Zustande unsers lieben kranken Bruders N., und trage im Gebete ihn dem HErrn Jesus vor, so wie es mir durch seine Gnade gegeben wird. Ich weiß für ihn nichts zu wählen oder Besonderes zu erflehen, als nur, dass der HErr mit seinem Geist sei, ihm das Nötige gebe, und seinen vollkommenen Willen in und mit ihm, in der Zeit und Ewigkeit, ausführe! Grüße ihn recht herzlich von mir und von anderen Freunden, wenn er noch lebt und imstande ist, es zu vernehmen, und versichere ihn, dass ich ewig mit ihm vereinigt bleibe vor dem HErrn, dem ich ihn auch mit voller Ruhe und vollem Frieden übergeben kann, wenn es diesem beliebt, ihn von der Erde wegzuholen. Er ist mit Leib und Seele in der Hand des HErrn, in dieser guten und treuen Hand, in der wir ihn lebend und sterbend ruhig können liegen lassen. Der HErr wird alles gut mit ihm machen. Ja, HErr, tue also nach der Fülle deiner unendlichen Güte, und verherrliche deinen Namen auch in unserm Bruder, so wie wir ihn dir als den Deinigen innig anbefehlen. Amen, Jesus!
Ja, es ist so wie Du sagst: dass die gegenseitige Gemeinschaft des Geistes bestehen und zunehmen kann auch ohne körperliche Gegenwart. Wie wahr ist dieses! Man kann einander so innig im HErrn finden, grüßen, segnen, und eine sehr friedliche Gemeinschaft mit- und untereinander pflegen, wenn der HErr uns zu solcher führt. So etwas darf nicht gesucht, sondern muss gefunden werden. Wer die Kreatur nicht loslässt, um allein dem wahren Gute anzuhängen, und dieses vor allem Meister unsers Herzens und Willens werden zu lassen, der kennt den Wert und die Lauterkeit dieser wechselseitigen Gemeinschaft noch nicht, einer Gemeinschaft, die uns allein die leibliche Gegenwart erquicklich macht und die auch bewirkt, dass wir letztere mit voller Ruhe entbehren können. Gott allein ist genug und ewig genug. Er besitze uns also ganz, und seine göttliche Liebe sei das Leben unsrer Seelen! Amen, Jesus! Ich grüße Dich in der Liebe des HErrn. Jesus sei Dein Leben und alles in Ewigkeit.
In Ihm bleibe ich
Dein
durch die Gnade treu verbundener schwacher Bruder.
Mülheim, den 22. Juni 1745.