Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl – Der Ruf zu einem innern Leben ist eine sehr große Gnade Gottes und erfordert ein fortwährendes Absterben von der Eigenliebe. Seinen irdischen Beruf aufzugeben, ist nicht ratsam.
In der Gnade des Herrn Jesus werter Freund und Bruder!
Deine beiden lieben Briefe vom 13. und 30. Januar habe ich erhalten. Was mich betrifft, so bin ich immer noch leidend, dann krank, dann wieder ein wenig an der Besserung, doch immer so, dass ich große Ursache habe, Gott zu danken, der mit so viel Güte und Treue über mich wacht, und mir bei den kleinen Leiden und Trübsalen auch die Gnade verleiht, sie tragen zu können und zu wollen, und das Herz immer bereitwilliger macht, sich Ihm allein hinzugeben, der das einzige und wahre Leben, die Stütze und Ruhe unsrer Seele ist in Ewigkeit. Der HErr überwältige und vertilge durch die allmächtige Kraft seiner Liebe alle tiefverborgene Widersetzlichkeit und Eigenheit in uns, und locke uns wie verirrte Schäfchen durch seine treue Hirtenstimme immer näher zu der Gemeinschaft des Geistes mit Ihm! Amen! Du sagst, lieber Freund: dass Du nichts ersprießlicher findest, als Dich so viel wie möglich dem innern Leben zu widmen, und das äußere so viel zu meiden, soweit es möglich ist. Ich gestehe, dass ich dieses nicht ohne tiefe Rührung lesen konnte. Nicht nur ein Licht, sondern auch einen Ruf und eine Hinneigung nach diesem innern Leben zu empfangen, ist eine übergroße Gunst Gottes, die auch durch übergroße Treue beantwortet werden muss. Im Innern leben heißt ganz vor Gott leben, Ihm mit aller Liebeskraft anhängen, stille halten und folgen wie unserm Gott, unserm Leben und unserm alles. Darum ist das inwendige Leben ein beständiges Sterben des natürlichen Lebens, der Sinne und der Eigenliebe durch die einwirkende Kraft und Gemeinschaft des Todes Jesu Christi, dessen überschwänglich erhabene Erkenntnis bewirkt, dass man alles andere für gar nichts achtet, und den Geist je länger je mehr von allem und von sich selbst abzieht, um allein in Christo zu ruhen und zu bleiben, der uns durch sich selbst einnehmen und beseelen will und muss, und in dem unser Heil zu finden ist. Ich habe, bester Freund, hin und wieder einige Zweifel bei Dir verspürt, ob man wohl in diesem Leben diese oder jene Stufe der Heiligung und Gemeinschaft mit Gott erreichen könne? Aber ich sehe nicht, dass dergleichen Einschränkungen zu irgend etwas anderm dienen können, als um uns noch träger und mutloser auf unsrer Laufbahn zu machen, da uns in Christus Jesus doch so teure und große Verheißungen geschenkt worden sind. Handelt sich die Frage darum, was wir vermögen oder verdienen, dann können wir nur feststellen, dass wir weder viel noch wenig, sondern gar nichts erlangen können. Wir müssen die Verheißungen Gottes nach seiner Güte und Macht abmessen, daher dürfen wir alles erwarten, und vermögen alles auszuführen; übrigens bekümmere ich mich nicht um den nutzlosen Zwist, ob man in diesem Leben vollkommen werden könne; denn ich weiß gewiss, dass uns Gott darin vollkommener machen kann, als die armseligen Begriffe, die wir von der Vollkommenheit haben, uns zu denken erlauben. Wenigstens brauchen wir nicht zu fürchten, dass wir allzu vollkommen werden sollen. Darum nur fortgeschritten und vergessen, was dahinten ist, und nachgejagt dem vorgesteckten Ziel nach dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu (Phil. 3, 14).
Dich zu diesem Zwecke auf einmal und ganz deiner weltlichen Geschäfte zu entschlagen, dazu kann ich auch nicht anraten. Die durch lange Gewohnheit befestigte Tätigkeit darf nicht so plötzlich aufhören, wenn nicht etwa dazu überflüssige Gnade und Festigkeit im Innern verliehen wird; andernfalls würde Körper und Geist darunter leiden. Aber die Beziehungen langsam vermindern, und allmählich fallen zu lassen und zugleich den Geist auf der andern Seite je und je an eine heilige Einsamkeit, an ein inniges Gebet und an eine stille Hingebung an Gott in Erwartung seines göttlichen Lichtes und Kraft, Liebe und Gegenwart zu gewöhnen, dies, glaube ich, wird dir heilsam und Gott angenehm sein. In dem Maß, als das inwendige Leben und die innere Festigkeit zunimmt, kann die äußere Tätigkeit daran gegeben werden, wäre es auch am Ende ganz. Denn nach meiner Ansicht hast du schon so viel damit geleistet, dass selbst die Welt in dieser Hinsicht nichts mehr von dir verlangen kann. Ferner sind die Geschäfte dem Geiste und dem innern Leben am wenigsten schädlich, die nicht viel Anstrengung erfordern, die wir nur als einen Gottesdienst, und um dem Nächsten zu dienen, verrichten. Doch dir ist alles dieses selbst hinlänglich bekannt. Nimm meine Äußerungen in Liebe auf, sie kamen mir so unerwartet ein, denn ich dachte nur einige Zeilen zu schreiben; lass uns Gott Raum machen, der uns so nahe ist durch seinen Sohn Jesus Christus, dass alles, was in uns lebt, sich unter der Herrschaft seiner Liebe beuge! Amen.
Ich grüße Dich herzlich, werter Freund, so wie auch Deine liebe Ehefrau, und bleibe durch die Gnade
Dein
schwacher Freund und Bruder.
Mülheim, den 15. April 1736.