Spurgeon, Charles Haddon - Worte der Weisheit für das tägliche Leben - Das Licht am Abend.
Seht unsre Lebenssonne nicht vor dem Nachmittag unter, so können wir alle ganz gewiss sein, dass wir den Abend unsres Lebens hienieden auch genießen dürfen. Ob wir nun vorher durch den Tod von dieser Welt genommen werden, oder ob uns Gott jenen Lebensabend hienieden schenkt, so steht doch immer das Eine fest, dass nach wenig Jahren ein jeder von uns, ob Mann oder Frau, dem gelben Blatte gleichen wird, das im Herbstwinde weht.
Findest du das so melancholisch? Mir scheint es durchaus nicht so. Vielmehr erkenne ich die Zeit der alten Tage mit all ihrer Gebrechlichkeit und Schwachheit als eine Zeit, die für den Christen ganz besondere Segnungen und Vorzüge in sich fasst. Der weltliche Sünder, der seine Vergnügungssucht mit dem Hinsiechen seiner Kräfte und mit der welkenden Gesundheit bezahlt, ja, für ihn sind die alten Tage eine Zeit der Langeweile und der Pein! Aber für den alten Veteranen des Kreuzes, ich sage es noch einmal, für ihn sind die alten Tage eine Zeit der Freude und des Segens. Als ich gestern Abend durch eine liebliche Gegend fuhr, musste ich unwillkürlich denken, wie dieses Abendbild ein Gleichnis des Lebens sei. Die Hitze der Sonne ist vorüber; auch die heiße Sonne unserer ersten Frömmigkeit, die keine tiefen Wurzeln treiben ließ, sondern die mit ihrem Brennen dieselben nur versengte, diese Sonne, deren zerstörende Glut unsre spätere, wirkliche Gottseligkeit beinahe noch mit verbrannt hätte, und deren heiße Strahlen leicht alles Leben hätten vernichten können, wenn wir nicht an den Wassern des Lebens wären eingepflanzt gewesen, sie ist nun untergegangen; den alten Christen drückt in dieser Welt nun keine besondere Sorge mehr. Er spricht zu den Geschäften, zu dem Getümmel und zu den Streitereien dieser Zeit gelassen: „Ihr seid mir nur Eitelkeit! Meine Beschäftigung besteht jetzt darin, meinen Beruf und meine Erwählung fest zu machen und mein Vertrauen nicht fortzuwerfen, bis meine Veränderung kommt! Mit all euren Vergnügungen und euren Sorgen habe ich nichts mehr zu tun.“ Die schwierigen Aufgaben des Lebens sind vollbracht. Er braucht nicht mehr im Schweiße seines Angesichtes so hart zu arbeiten, wie es in jüngeren Jahren geschah; seine Familie ist herangewachsen, und nicht mehr wie früher auf ihn angewiesen. Vielleicht hat ihn Gott so gesegnet, dass er keine Nahrungssorgen behielt, oder vielleicht ist er auch in einem Armenhause untergebracht, so dass er dort die letzten Jahre der Pilgerschaft vollbringen darf. Das bleibt sich alles gleich; die Tage fließen jetzt still und ruhig dahin, und endlich naht die Stunde, wo der alte Mann sich ganz zur Ruhe legt, wie ein Arbeiter, der vom Felde heimkehrt, um sich in süßem Schlummer zu erholen. Wenn der Abend naht, so pflegen wir uns mit unserer Familie zu versammeln das Feuer knistert, die Vorhänge werden herab gezogen und in dem traulichen Kreise vergessen wir das Getöse der Welt. Unsre Aufgaben liegen nicht mehr da draußen, sie haben ihr Hauptthema in dem engeren Kreise des Hauses. Habt ihr nicht zuweilen in den Briefen alter Leute oder Großeltern bemerkt, wieviel sie von dem Ergehen ihrer Kinder enthalten? Da heißt es immer wieder: „Johannes ist wohl,“ „Marie ist krank,“ „in der Familie geht es gut,“ während jüngere Geschäftsfreunde kaum andres schreiben, als: „Die Geschäfte gehen schlecht,“ „die Aussichten dieses Unternehmens haben sich gebessert.“ Solche Bemerkungen findet man in den Briefen alter Leute selten oder niemals, denn in den alten Tagen erstirbt das Interesse für die Welt. Der Mann mit den grauen Haaren denkt eigentlich nur noch an seine Familie, und wie herrlich ist es, wenn dem Greise auch in der Finsternis des Alters das Licht wieder aufgeht! „Um den Abend wird es Licht sein,“ so sagt Gottes Wort. Darum hinweg mit der Furcht vor den Tagen deiner Schwachheit! Fürchte nicht die Stunden des Siechtums! Wohlauf, alter Krieger des Kreuzes, lass den Mut nicht sinken, denn wenn die alten Lichter verlöschen, so werden die neuen frisch angezündet. Fürchte dich nicht! Wohl mag die Nacht kommen, da alle Kraft entschwindet, allein, das Licht wird aufgehen in dieser Nacht. „Um den Abend wird es Licht sein,“ da scheinen dem Christen manche Lichter, die er vorher noch gar nicht gekannt hat, und die der Heilige Geist mit seinem Licht selber anzündet. Da ist zuerst das Licht einer reichen Erfahrung; man kann zurück blicken auf manches Eben-Ezer, bei dem es immer wieder hieß: „Bis hierher hat der Herr geholfen.“ Ferner kann man auf die alte Bibel schauen, die schon in jungen Jahren den Weg erleuchtete, und dabei spricht man mit dankerfülltem Herzen: „Die Wahrheit dieser Verheißungen habe ich erfahren, der Bund ist mir niemals gebrochen worden; gar manches Jahr habe ich meine. Bibel gelesen, aber niemals habe ich eine Verheißung darinnen gefunden, die unwahr gewesen wäre; alle ihre Worte sind mir gehalten worden und nichts hat gefehlt an all dem Guten.“
Noch ein andres Licht scheint dem treuen Diener Gottes, das ihn am Abend erfreuen darf. Dieses ist die Erinnerung daran, wie Gottes Gnade ihn zu manchem Guten befähigte, das er vollbringen durfte. Da besuchen ihn hier und da seine geistlichen Kinder und erzählen wohl noch von dem Segen, den sie in den Unterredungen mit ihm gefunden hatten, und indem er auf seine Kinder und Kindeskinder blickt, erhebt er gemeinsam mit ihnen die Stimme zum Lobe des mächtigen Erlösers. Ja, zur Abendzeit fehlt ihnen nicht das Licht. Zu allerletzt kommt dann aber die Nacht mit all ihrem wirklichen Ernst. Der alte Mann hat lange genug gelebt; er liegt auf seinem Bett und muss nun sterben. Jetzt geht die Sonne völlig unter und auch das letzte Licht verlischt. „Öffnet die Fenster und lasst mich zum letzten Mal den blauen Himmel sehen,“ so heißt es dann, aber die Sonne ist ja untergegangen, ich kann die Berge nicht mehr sehen; sie sind wie grauer Nebel; meine Augen sind dunkel und alle Welt ist dunkel.“ So wird es schwarz. Doch plötzlich bricht ein Licht. strahl durch die schwarzen Schatten. Das Antlitz des Sterbenden verklärt sich, und freudig ruft er aus: „O Tochter, Tochter, komm her! ich sehe eine neue Sonne aufgehen! Sagtest du mir nicht soeben, die Sonne wäre untergegangen? Ich sehe eine andre, und drüben, wo mir die Hügel im Dunkel entschwanden, o Tochter, da sehe ich Berge, da glänzt es wie scheinendes Gold, es glüht wie Messing, und ich sehe eine Stadt, so herrlich wie Jaspis; das Tor ist geöffnet und selige Geister kommen heran! Was reden sie? O, sie singen! sie singen! Ist das der Tod?“ Und ehe er die Frage völlig ausgesprochen hat, ist er schon hinüber gegangen in jenes Land, wo's keiner Antwort mehr bedarf und wo es keinen Tod mehr gibt. Er ist durch die Perlentore gegangen, seine Füße stehen auf den goldenen Gassen, sein Haupt ist mit der Krone der Unsterblichkeit gekrönt. Die Palme des ewigen Lebens trägt er in seiner Hand. Gott hat ihn angenommen in dem Geliebten.