Spitta, Carl Johann Philipp - Frei von der Sünde, aber Knechte der Gerechtigkeit.
Kein Mensch ist jemals sein eigener Herr; er ist entweder der Sünde Knecht, und dann ist er zu seinem Verderben frei von der Gerechtigkeit; oder er ist der Gerechtigkeit Knecht, und dann ist er zu seinem Heile frei von der Sünde. Eine und dieselbe Gnade, die uns frei macht von der Sünde, macht uns auch zu Knechten der Gerechtigkeit. Davon schreibt der Apostel Röm. 6, 18: „Nun ihr frei geworden seid von der Sünde, seid ihr Knechte geworden der Gerechtigkeit.“ Die Gnade macht frei von der Sünde. Wer es in ihrem Dienst nicht mehr aushalten kann und klagt: „Meine Sünden gehen über mein Haupt und wie eine schwere Last sind sie mir zu schwer geworden!“ an dem ist die vorlaufende Gnade Gottes schon zu seiner Befreiung wirksam. Er hüte sich aber vor der Vermessenheit, aus eigener Kraft sich selbst befreien zu wollen. Es wird ihm nicht gelingen, und jeder mißlungene Versuch der Selbstbefreiung seine Banden nur noch ärger machen. Nur die Gnade des dreieinigen Gottes macht frei. Gott errettet von der Obrigkeit der Finsterniß. Welche der Sohn Gottes frei macht, die sind recht frei. Das Gesetz des Geistes macht frei von dem Gesetz der Sünde und des Todes. Suche du Erkenntniß der Gnade Gottes, die in Christo erschienen, durch das Evangelium bezeugt, durch die heiligen Sakramente versiegelt, durch den heiligen Geist dem Glauben zugeeignet, und keinem vorenthalten wird, der sie begehret. Laß nicht nach im Gebet, bis es dir gegeben wird, von ganzem Herzen zu glauben, daß du an Christo habest die Erlösung durch sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünden. Wo aber Vergebung der Sünden ist, da ist auch Leben und Seligkeit. Da ist man frei geworden von der Sünde. Zwar klebt auch dem begnadigten Menschen die Sünde noch an; es steigt ein arger Gedanke in ihm auf, es regt sich in ihm eine böse Lust, es geht ein unrechtes Wort über seine Lippen, es kommt im Werk und Wandel hie und da ein Fehlgriff und Fehltritt vor: aber er steht nicht mehr auf Seiten der Sünde, sondern auf Seiten Gottes. Er nimmt keinerlei Sünde durch Entschuldigung und Beschönigung gegen Gottes Urtheil und Recht in Schutz, er erkennt, verdammt, bereut, beweinet und beklagt sie, sucht aus der Fülle der Gnade die Vergebung und Reinigung der Sünde, und hütet sich um so sorgfältiger vor ihr. So macht die Gnade frei von der Sünde, aber auch zu Knechten der Gerechtigkeit, wie der Apostel schreibt: „Ihr seid Knechte der Gerechtigkeit geworden.“ Damit aber soll nicht der Geist und Sinn der Begnadigten als ein knechtlicher bezeichnet werden. Denn es heißt: „Ihr habt nicht einen knechtlichen Geist empfangen, daß ihr euch abermal fürchten müßtet, sondern einen kindlichen Geist, durch welchen wir rufen: Abba, lieber Vater!“ Sondern es wird damit der Zustand der Begnadigten bezeichnet als eine Dienstbarkeit der Gerechtigkeit. Dieselbe Gnade, die uns von der Sünde erlöset, läßt uns nicht überhaupt los, sondern ziehet uns zu sich, verbindet uns mit sich selbst, legt uns anstatt des drückenden Sündenjochs und der schweren Sündenlast ihr sanftes Joch und ihre leichte Last auf, und lässet uns in Seilen der Liebe gehen. Da ist gut Knecht sein. Da ruft man mit Freuden und Frohlocken (Psalm l16, 16.): „O Herr, ich bin dein Knecht; ich bin dein Knecht, deiner Magd Sohn. Du hast meine Bande zerrissen!“