Schrenk, Elias - Allein durch den Glauben - Vergib deinem Bruder.
Sündigt aber dein Bruder an dir, so gehe hin und strafe ihn zwischen dir und ihm allein. Hört er dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. Da trat Petrus zu Ihm, und sprach: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt vergeben? Ist es genug siebenmal? Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal. Darum ist das Himmelreich gleich einem Könige, der mit seinen Knechten rechnen wollte. Und als er anfing zu rechnen kam ihm Einer vor, der war ihm zehntausend Pfund schuldig. Da er es nun nicht hatte zu bezahlen, hieß der Herr verkaufen ihn, und sein Weib, und seine Kinder, und Alles, was er hatte, und bezahlen. Da fiel der Knecht nieder, und betete ihn an, und sprach: Herr habe Geduld mit mir, ich will dir Alles bezahlen. Da jammerte den Herrn desselben Knechts, und ließ ihn los, und die Schuld erließ er ihm auch. Da ging derselbe Knecht hinaus, und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Groschen schuldig; und er griff ihn an, und würgte ihn, und sprach: bezahle mir, was du mir schuldig bist. Da fiel sein Mitknecht nieder, und bat ihn, und sprach: habe Geduld mit mir, ich will dir Alles bezahlen. Er wollte aber nicht; sondern ging hin, und warf ihn ins Gefängnis, bis dass er bezahlte, was er schuldig war. Da aber seine Mitknechte solches sahen, wurden sie sehr betrübt, und kamen, und brachten vor ihren Herrn Alles, was sich begeben hatte. Da forderte ihn sein Herr vor sich, und sprach zu ihm: du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest; solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe? Und sein Herr ward zornig, und überantwortete ihn den Peinigern, bis dass er bezahlte Alles, was er ihm schuldig war. Also wird euch Mein himmlischer Vater auch tun, so ihr nicht vergebt von euren Herzen, ein Jeglicher seinem Bruder seine Fehler.
Matth. 18, 15. 21-35.
Wir kommen heute an ein wichtiges Kapitel. Im Vaterunser haben wir die Bitte: vergib uns unsere Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern. Unmittelbar nach dem Vater-unser sagt der Herr: denn so ihr den Menschen ihre Fehler vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater eure Fehler auch vergeben. Wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater eure Fehler auch nicht vergeben. Durch diese Wiederholung, und zwar gesteigerte Wiederholung der fünften Bitte will uns der Herr zu bedenken geben, wie wichtig das Vergeben von unserer Seite sei für unsere ganze Stellung zu Gott und dem Nächsten. Der Herr hat vorausgesehen, wie viel auch in Seiner Gemeinde werde gesündigt werden durch Unversöhnlichkeit und Lieblosigkeit, und deshalb schärft Er uns das Vergeben so nachdrücklich ein. Aus eben demselben Grund redet der Heiland in Seinen Abschiedsreden so eindringlich von der Liebe zu Seinen Jüngern. Wohnt die Liebe unter uns, so ist man auch bereit zu vergeben, wenn Einer am Andern sündigt; fehlt es aber an der Liebe, so gibt es allerlei Trennungen. Darum wollen wir uns die Ermahnungen unseres Textes recht zu Herzen nehmen.
Sündigt aber dein Bruder an dir, so gehe hin und strafe ihn zwischen dir und ihm allein. Würde diese Regel immer befolgt, so würde ein großer Teil alles Hasses und aller Unversöhnlichkeit verschwinden. Wie oft gibt es eine Spannung zwischen zwei Menschen, die gar keinen Grund hat, sie beruht ganz auf Misstrauen. Da geht Einer gesenkten Hauptes an einem Andern vorbei, er beachtet ihn nicht. Dieser denkt: was hat er denn gegen mich, dass er so unfreundlich ist? Er geht heim und klagt es seiner Frau. Diese spricht eine Vermutung aus, und es entsteht eine Spannung zwischen den beiden Familien. Das fällt dem, der scheinbar unfreundlich war auf, und er stellt den Andern zur Rede. Was war seiner Zeit die Ursache, dass er ohne zu grüßen an ihm vorbei ging? Er hatte Nachricht von einem bedeutenden Verlust bekommen durch den Konkurs eines Geschäftsfreundes; deswegen ging er an jenem Abend gesenkten Hauptes nach Hause; er hatte gar nichts gegen seinen Freund. Letzterer hatte also ganz unbegründetes Misstrauen gegen ihn. Hätte Ersterer sich nicht ausgesprochen, so wäre die Spannung immer schlimmer geworden.
Da ist eine Arbeiterin in einer Fabrik; sie schüttet einem Seelsorger ihr Herz aus. Sie weiß, dieser Seelsorger verkehrt oft mit einer gewissen Familie. Nun kommt die Frau dieser Familie zwei Tage nachher zu der Frau des Fabrikanten, und die Arbeiterin sieht sie. Sie erschrickt, und der Teufel sagt ihr, der Pastor hat Alles ausgeschwatzt, und diese kommt nur um dich zu verklagen. Der Fabrikherr ist an jenem Tage nicht extra freundlich, und die Vermutung wird Gewissheit: ich bin verklagt. Was geschieht? Der Pastor muss einen tüchtigen Vorwurf haben, natürlich durch den Postboten. Der arme Pastor! Er hat keinem Menschen eine Mitteilung von jener Unterredung gemacht; die ganze Geschichte beruht auf dem reinsten Misstrauen. So schafft der Teufel immer, um die Menschen zu entzweien.
Würde man doch immer dem Wort des Herrn nachkommen: gehe hin, und strafe deinen Bruder zwischen dir und ihm allein. Aber anstatt hinzugehen schreibt man einander „spitze Briefchen“, und kommt dann erst recht auseinander. Liebe Freunde! Lasst uns doch in solchen Fällen hingehen zum Bruder. Es kommt aber sehr darauf an wie man zu ihm geht. Man soll betend zu ihm gehen, mit dem redlichen Willen, sich zu versöhnen. Man kann aber auch heftig zu ihm gehen, und ihm im Zorn Vorwürfe machen und dann gibt es Streit. Verstehen wir den Heiland richtig, wenn er sagt: „strafe ihn.“ Es heißt wörtlich: überführe ihn, suche ihn klar zu machen, damit er seinen Fehler einsieht, damit ihr euch versöhnen könnt. Es liegt ein großer Segen auf dem buchstäblichen Gehorsam gegen solche Vorschriften des Herrn. Aber wie viel wird dagegen gesündigt durch Afterreden! Man kommt nicht zusammen, schreibt einander auch nicht, sondern redet übereinander hinten herum, und je länger die Mücke von böser Zunge zu böser Zunge fliegt, desto mehr wird sie zum Elefanten. O, das böse Afterreden! Wie viel Verbitterung und Entzweiung richtet es immer wieder an! Wie wenige Menschen lassen ihre Zunge ganz heiligen! Wir wollen uns Alle prüfen, ob wir frei seien vom Afterreden. Nehmen wir es ernst mit diesem Laster, und wenn der Geist Gottes uns straft, beugen wir uns, wo es nötig ist auch vor Menschen. Wir müssen frei werden vom Afterreden; die rechten Jünger Jesu haben. keine bösen Zungen, die Liebe ist ihr Kennzeichen.
Was sind denn die Ursachen, die das Lieben, das Vergeben, die Versöhnlichkeit oft so erschweren? Der Hochmut ist eine Hauptursache. Der Hochmütige ist gar bald verletzt, er ist empfindlich, nimmt gleich Alles übel, und macht immer mehr Liebesansprüche an Andere als an sich. Handelt es sich um Versöhnung, so will der Hochmütige seinem Bruder nicht entgegen kommen. Er sitzt auf sein vermeintliches Recht und spricht: „ich bin älter als er“; „meine Stellung verbietet mir zu ihm zu gehen“; „es ist gegen meinen Charakter ihm entgegen zu kommen“; „er hat zuerst gefehlt, er muss zu mir kommen“. Der Hochmütige hat irgendeine Würde, die ihn hindert, den Anfang zur Versöhnung zu machen, und er hält es für „Charakter“, recht bitter zu sein. Wie verblendet macht doch der Hochmut! Er sieht nicht ein, dass kein einziger Mensch Vergebung seiner Sünden bekäme, wenn Gott in Seiner Herrlichkeit es unter Seiner Würde gehalten hätte, uns armen Menschen entgegen zu kommen in Christo Jesu, um uns zu vergeben. O, die erbärmliche Würde des armen sündigen Menschen, seinem Mitmenschen gegenüber! Schäme dich deines Hochmuts. Sobald man sich demütigen kann, wird das Vergeben viel leichter; ja, ohne Demütigung ist bei uns sündigen Menschen wahrhaftiges Vergeben unmöglich.
Eng ist mit dem Hochmut verbunden, eine gewisse Herzenshärtigkeit, die es dem Menschen möglich macht, Unversöhnlichkeit für längere Zeit zu ertragen. Ein Mensch, der unter der Zucht des Geistes Gottes einhergeht, erträgt Unversöhnlichkeit nicht lange. Sie raubt ihm den Frieden Gottes, ohne den er nicht leben kann; er muss sich versöhnen. Steht man aber so, dass man es länger, vielleicht Jahrelang aushält in der Unversöhnlichkeit seinem Bruder gegenüber, so beweist man, dass man nicht unter der Zucht des Geistes Gottes steht, dass das Gewissen abgestumpft, und das Herz mehr oder weniger verhärtet ist. Zuweilen ist Geiz die Ursache dieser Herzenshärtigkeit, die Frage zwischen mein und dein. Wie viele entzweien sich z. B. bei einer Teilung. Meint man, man sei ein wenig zu kurz gekommen, so kann man Jahre lang bitter sein und einander meiden. Es ist schändlich, wenn man über dem Nachlass von Verstorbenen so die Liebe vergisst, dass der nackte Geiz die Herzen entzweien kann. Es ist das ein Beweis, wie der Geiz das Herz hart macht, so dass man um eines Stückes Möbel willen fast zu Grund geht, ja ganz zu Grund gehen kann. Ist Niemand hier, dem der Geist Gottes sagt: du hast ein solch hartes Herz? Prüfe dich doch! Hast du es fertig gebracht, längere Zeit mit Jemand in Bitterkeit und Unversöhnlichkeit zu leben, so erschrick über dich selbst. Bekenne offen deine Herzenshärtigkeit vor deinem Gott, suche Seine Gnade, und versöhne dich mit deinem Bruder.
Eine sehr häufige Ursache von Unversöhnlichkeit ist Eifersucht, allerlei Eifersucht. Da ist eine Schwester, die nicht ertragen kann, dass ihr Bruder seine junge Frau mehr liebt als sie. Da ist eine Mutter, die es nicht begreift, dass ihr Sohn seiner jungen Frau am nächsten steht. Nun gibt es Eifersucht, Missverständnisse, und man quält einander buchstäblich. O, du armes, elendes Menschenkind! Würde die Liebe zu deinem Heiland dein ganzes Herz ausfüllen, dann könntest du dich der gegenseitigen Liebe Anderer freuen. Aber nun bist du selbst so liebearm, und willst deine Leere mit Anderer Liebe, die nicht dir gehört, ausfüllen. Lass dir die Augen öffnen, und suche den Fehler bei dir selbst, damit der Herr dich erlösen könne von deinem Neid und deiner Eifersucht. Auch geschäftlicher Neid entzweit gar Viele und trennt sie oft für immer. Man erschrickt in der Tat, wenn man sieht, wie heutzutage die rücksichtsloseste Konkurrenz das Geschäftsleben beherrscht, und wie Einer den Andern hasst. Es ist ein Jammer, wie viele Mittel der Teufel braucht, um die Menschen, die einander lieben sollen wie sich selbst, zu trennen, ihnen das Leben zu verbittern, und sie an ihrer Seele zu schädigen.
Zuweilen hört man sagen: „ich würde mich gerne mit ihm versöhnen, aber er will nicht.“ Hast du denn auch schon für den unversöhnlichen Teil ernstlich gebetet, dass Gott ihn willig mache, dir die Hand zu reichen? Vielleicht hast du es gerade daran fehlen lassen. Eine Frau klagte mir einst dasselbe über eine Verwandte. Ich betete mit der Frau und riet ihr, sie solle daheim noch für sich beten und dann demütig zu ihrer Tante gehen. Sie tat es. Am andern Tage sagte sie mir mit Freuden, dass die Tante sie freundlich empfangen, sich mit ihr versöhnt und sie gebeten habe, ihr eine Bibel zu besorgen. In sehr vielen Fällen würde das gegenseitige Vergeben viel leichter werden, wenn nur ein Teil demütig und herzlich für den andern beten würde. Oft hört man die törichte Entschuldigung: „ich würde ihm gerne vergeben, wenn es nur wahr wäre, was er gegen mich sagt.“ Sei froh, dass es nicht wahr ist, und du dir deswegen keinen Vorwurf machen musst. Das ist ja gerade ein Grund, der dir das Vergeben erleichtert. Alles, dessen man den Heiland beschuldigte, war nicht wahr; Er vergab und bat für seine Feinde. Mache es auch so.
Ich bin überzeugt, es würden Manche schneller vergeben, und mehr Liebe üben, wenn sie über die Folgen der Unversöhnlichkeit klarer wären; denn diese Folgen sind sehr ernst. Bist du unversöhnlich, so wirst du gelähmt in deinem Gebet. Wie kannst du ein Vaterunser beten, ohne stecken zu bleiben bei der Bitte: vergib uns unsere Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern? Ist es nicht ungemein demütigend, wenn ein Mensch sich gestehen muss: ich kann um meiner Unversöhnlichkeit willen kein Vater. unser beten, ohne unwahr zu sein, ohne Gottes Zorn auf mich herabzurufen? Der Heiland sagt: wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst, und wirst allda eingedenk, dass dein Bruder etwas wider dich habe, so gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfere deine Gabe. Unser Gebet soll das Rauchwerk sein vor Gott; es steigt nicht hinauf zum Gnadenthron, wenn das Herz unversöhnlich ist.
Und wie die Unversöhnlichkeit im Gebet hindert, so hindert sie auch im Genuss des heiligen Abendmahls. Du kannst das Mahl der Versöhnung und der Liebe nicht im Segen genießen, wenn du in deiner Unversöhnlichkeit verharrst, du genießt es zum Gericht. Warum bleiben so viele weg vom Tisch des Herrn? Ihre Unversöhnlichkeit hält sie fern. Welches Urteil stellen sie sich selber aus, wenn sie sich durch ihres Herzens Härte des großen Segens berauben, den ihnen der Herr in Seinem Mahl geben will! Sollte Jemand hier sein, der sich dieser Sünde schuldig gemacht hat, so bitte ich ihn herzlich und dringend: warte nicht länger; eile und versöhne dich mit deinem Bruder, damit du nicht länger ferne bleiben musst vom Tisch des Herrn.
Wir müssen aber noch tiefer gehen, wenn wir die ernsten Folgen der Unversöhnlichkeit besprechen wollen. Stelle dir vor, du lägst auf dem Sterbebette mit Hass und Bitterkeit gegen irgendeinen Menschen. In deinem Herzen wäre kein Friede, sondern Furcht und Angst vor Tod und Ewigkeit, um deiner Sünden willen. Wie kannst du diese Furcht und Angst los werden, wie kannst du dein Herz und Gewissen vor deinem Gott stillen? Es gibt hierfür nur Ein Mittel: das Versöhnungsblut Jesu Christi, für dich geflossen auf Golgatha. Dieses Versöhnungsblut ist unser einziger Trost im Leben und im Sterben. Kannst du nun in deinem Herzen unversöhnlich bleiben, und dich dennoch getrösten der Versöhnung in Jesu Blut? Nein, es geht nicht, du kommst in den schärfsten Widerspruch mit dir selbst. Durch deine eigene Unversöhnlichkeit verlässt du den Boden der Versöhnung durch Christum; der Geist Jesu, der ein Geist der Gnade und der Liebe ist, kann dir die Versöhnung im Blute Jesu nicht aneignen. Das sagt ja auch der Heiland, wenn er spricht: so ihr den Menschen ihre Fehler nicht vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater eure Fehler auch nicht vergeben. Vor dieser Tatsache sollte jeder Unversöhnliche zittern, denn er kann nicht selig sterben, ehe er vergibt. Ich kam seiner Zeit oft zu einem Kranken, und es war mir befremdend, dass meine Besuche bei ihm so lange nicht mehr Frucht schafften. Er wurde zusehends schwächer. Eines Tages teilte er mir mit: gestern habe ich mich mit meinem Bruder versöhnt, wir waren lange entzweit. Von dort an hatte ich mehr Zugang zu seinem Herzen, es war ein Bann weggenommen. Möchten wir doch Alle völlig und ungesäumt aufräumen mit Allem, was Bitterkeit und Unversöhnlichkeit heißt, damit wir Gnade finden, und im Frieden Gottes und im Frieden untereinander unsere Straße ziehen können.
Wir wollen dem Petrus dankbar sein für seine Frage an den Herrn: wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Dass man vergeben müsse, war ihm klar; aber er wusste nicht, wie oft man vergeben müsse. Ist es genug sieben Mal? fragt er. Nach seiner Meinung nahm er jedenfalls den Mund voll, und es unterliegt keinem Zweifel, dass wenn Mancher sieben Mal hintereinander verletzt würde, er sich bleibend von dem, der ihn verletzt, abwenden würde. Aber was sagt der Herr? Nicht sieben Mal sollst du vergeben, sondern siebenzig Mal sieben Mal, das heißt: immer, du darfst nicht müde werden im Vergeben. Des Heilandes Antwort könnte Einem bange machen. Und gewiss, wer nicht das Erbarmen Gottes in Christo Jesu gründlich an seinem Herzen erfahren hat, kann nicht immer wieder vergeben. Steht man aber in Wahrheit in der Gnade und lebt von Gnade, so holt man sich die Kraft, die Geduld und Liebe, um seinem Bruder immer wieder aufs Neue vergeben zu können im ewigen Erbarmen Gottes. Der Herr fordert also nichts von seinen Jüngern, wozu er nicht das Vermögen gibt.
Seine Antwort an Petrus hat aber eine noch viel tröstlichere Seite: Er hat nie etwas gelehrt, was Er nicht erst selber tat. Und so will Er uns sagen: Meine Art ist, immer wieder zu vergeben, auch Meine Feinde zu lieben. Wollt ihr Meine Jünger sein, so müsst ihr es machen. wie Ich. Im Himmelreich muss die Liebe regieren, und Alle, die nicht vergeben wollen, schließen sich selbst aus. So handelt der Herr ja immer noch; Menschen, die fünfzig, sechzig und siebenzig Jahre Seine Feinde waren, vergibt Er, wenn sie Ihn reumütig darum bitten, Er, der sich für Feinde in den Tod gegeben hat. So wollen wir Ihm nachfolgen auch im Vergeben.
In unserem Text finden wir am Schluss noch eine besondere Warnung. Der Herr redet von einem Mann, der zehntausend Pfund schuldig war, etwa 9.610.000 Mark, eine enorme Summe! Er, seine Familie und sein Besitz sollte verkauft werden. Dieser Schuldner fiel aber nieder vor seinem Herrn, bat um Geduld, und versprach, ihm Alles bezahlen zu wollen. Da jammerte den Herrn dieses Knechtes, er ließ ihn los, und die Schuld erließ er ihm auch. Derselbe Knecht, dem so große Barmherzigkeit widerfahren war, würgte nachher seinen Mitknecht, der ihm eine Kleinigkeit schuldete, und warf ihn ins Gefängnis, bis er bezahlte. Die Folge war, dass sein Herr seine Gnade von ihm zurückzog, und ihn den Peinigern übergab. Durch dieses Gleichnis will der Herr offenbar alle, denen Barmherzigkeit widerfahren ist, ermahnen, nie zu vergessen, was Er an ihnen getan habe, und auch ihre Brüder mit Er. barmen zu behandeln. Offenbar nimmt der Herr an, dass ein Mensch, dem Gott schon sehr viel Gnade erwiesen habe, gegen seinen Bruder so hartherzig sein könne, dass er selbst wieder alle Gnade verliere, und schließlich doch dem Gericht anheimfalle. Das ist sehr ernst, und zeigt uns, dass die Erfahrung der Gnade Gottes ein Pfund ist, das wir nur bewahren können durch Üben der Barmherzigkeit an den Brüdern.
Immerhin kann es etwas verwunderlich erscheinen, wenn ein Mann, dem so viel geschenkt worden war, so hart handeln konnte. Da möchte ich aber aus meiner vielen Erfahrung ein Wörtlein sagen. Es sind mir in meiner Seelsorge Menschen begegnet, die dem Tode nahe, also in großer Not waren. Als alle Mittel nichts halfen, riefen sie mich, ich möchte mit ihnen beten. Sie schienen sehr demütig zu sein. Ich betete, besuchte den Kranken täglich und er wurde gesund durch Gottes Gnade. Etwa ein Jahr lang schien es, als wolle er wirklich dem Herrn leben. Auf einmal zog er sich zurück von Gottes Wort, und wurde wieder kalt. Da merkte ich, dass seine einstige Buße, als er in Todesnot war, eine Notbuße war, es war keine Buße, durch die das Herz wirklich zerbrochen, demütig und reumütig wurde vor Gott. So hatte dieser große Schuldner wahrscheinlich Angst, und Notbuße, und schrie flehentlich um Gnade, die ihm dann widerfuhr. Aber sein Herz war nicht gründlich weich geworden. Als er nun seiner Angst enthoben war, hatte er sein altes, hartes Herz, wie vorher, und zeigte es seinem Bruder gegenüber. Hüten wir uns daher vor bloßer Angstbuße, bei der man sich beugt, so lange man die Rute auf dem Rücken fühlt. Ich fürchte, dass es bei Einzelnen, die das Bekehren immer bis zum Sterben sparen, gerade noch zur Angstbuße reicht; wenn sie dann in die Ewigkeit kommen, so bringen sie ihre alten Herzen mit, und werden doch dem Peiniger übergeben. Davor bewahre uns der Herr!
Amen.