Schlatter, Adolf - Der Römerbrief - Kap. 9, 30-10, 21. Der Unglaube bringt Israel zu Fall.
Statt über Gott zu klagen, weil es sich aus dem Reiche Gottes ausgeschlossen sieht, suche Israel mit Ernst bei sich selbst den Grund, um deswillen es gefallen ist. Das ist die rechte Weise wahrhafter Tröstung. Zuerst muss das Auge sich senken vor Gott und das „Warum“ verstummen, das sich gegen ihn auflehnen will, und dann muss es sich einwärts richten zur Selbstprüfung, damit sich zeige, woher der Schaden stammt. Darum hat Paulus die um Jerusalem Trauernden zuerst in die Beugung vor Gottes Wahl und Entscheidung geführt, und nun prüft er Israels Verhalten und zeigt, was dem Juden fehlt und ihm den Fall zuzog. So stellt er ins Licht, warum Gott ihm in seinem Zorn widersteht.
Aber war nicht eben in dieser Hinsicht Gottes Weg überaus dunkel und seine Gerechtigkeit völlig verborgen?
Israel war ja so fromm! jedenfalls viel frömmer als die Heiden. Es strebte mit allen Kräften nach der Erfüllung des Gesetzes und suchte von Morgen bis zum Abend das ganze Leben hindurch nach der Gerechtigkeit als nach seinem höchsten Gut. Was kümmerte dagegen den Heiden die Gerechtigkeit? Israel eiferte für Gott; und dem Heiden lag an Gott nichts. Wie viel Gebete brachte Israel täglich zu Gott herzu, auch Gebete um den Anbruch seines Reichs und die Sendung des Verheißenen! Wie treu bekannten sie den Namen ihres Gottes! Wo waren unter den Heiden die Witwen, die ihr letztes Scherflein in den Gotteskasten legten dem Gebot gehorsam, Gott zur Ehre? In Israel waren Tausende bereit, alles zu opfern und ihr Leben zu lassen für ihren Gott. Und nun half alle diese Frömmigkeit Israel nichts und die Männer in Jerusalem, die Gott dienten Tag und Nacht, fanden Christum nicht; dagegen fiel den Heiden seine Gabe zu, die in Gottlosigkeit dahingelebt hatten im Sündendienst. Das schien vielen ein Rätsel auch dann, wenn sie nicht ungläubig gegen Gottes freie Macht zur Erbarmung und zum Zorne murren wollten. Warum erbarmt er sich Israels nicht, das ihn doch mit solchem Eifer sucht? In diese Frage bringt nun Paulus Licht.
Er schätzt die Frömmigkeit und den Gottesdienst Israels nicht gering; er kennt ihn ja aus eigener Erfahrung und er weiß wohl, wie viel Ernst, Anstrengung und Hingebung in demselben enthalten war. Und das ist ein Band zwischen ihnen und ihm, welches sie ihm teuer macht. Eben dies, dass sie für Gott eifern, treibt ihn zur Fürbitte für sie vor Gott, 10, 1 u. 2. Aber ihrem Streben nach der Gerechtigkeit fehlt der Glaube und ihrem Eifer für Gott die Erkenntnis, 9, 32. 10, 2. Sie haben bei ihrem Gottesdienst nur den einen Gedanken: Werk, Werk! Glauben - das missfällt ihnen, dessen weigern sie sich. Auf Gott zu warten, auf ihn zu horchen, bei ihm die Hilfe zu suchen gegen Sünde und Tod, und sich an seiner Gnade genügen zu lassen, auch da, wo sie uns noch nicht zum Schauen führt, das erscheint ihnen als eine schwere Last und ein unerträgliches Gebot. Vom Glauben erwarten sie nichts, das Werk muss alles tun; das heißt aber von Gott nichts erwarten, und alles von sich selbst. Sie trachten wohl nach der Gerechtigkeit; aber sie schwebt ihnen nur als ihr eigener Erwerb und Besitz vor. Für die Offenbarung der göttlichen Gerechtigkeit sind sie blind. Sie wollen dieselbe nicht empfangen, sondern herstellen als ihre eigene Tat.
Dadurch geraten sie überall mit Gott in Streit; sie streiten mit Christus, mit der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, ja mit dem Gesetze selbst, auf das sie doch all ihre Hoffnung und ihr Vertrauen setzen. Christus wird ihnen zum Ärgernis, 9, 32.33. Sie wollen die Herrlichkeit Gottes sehen und erleben, mit ihrer die Welt bewegenden und erneuernden Macht; so erscheint sie aber in Jesus nicht. Er steht vor ihnen in seiner Knechtsgestalt und Kreuzesgestalt, als der, der uns gleich ward, weil er an unsre Stelle trat. Da ist Glaube der einzige Weg, der zu ihm hinführt, Glaube, der ihm vertraut, ob er auch nicht sieht. Aber eben glauben mögen sie nicht, sondern sie fragen als ein ungläubiges Geschlecht: was tust du für ein Zeichen? und sie fragen umsonst. So wenden sie sich von ihm ab, und er wird ihnen nicht zum Heiland und Erlöser, sondern zum Stein des Anlaufens, an dem sie fallen, und auch dies nach göttlicher Ordnung; Gott hat ihn dazu gesetzt.
Eben damit heben sie den Kampf an gegen Gottes Gerechtigkeit und werden ihr, so eifrig sie nach der Gerechtigkeit suchen, doch nicht untertan, Vers 3. Dass Gott uns Christum zur Gerechtigkeit gemacht hat, und wir sie nicht bei uns selbst suchen und finden können, sondern in ihm haben, dass nichts uns Vergebung verschafft als sein Blut, und nichts uns mit dem Willen Gottes einigt als sein Geist, das lehnen sie mit allen Kräften von sich ab und werfen es weit von sich weg. Sie treten nicht in die Stellung hinein, die Gott ihnen bereitet hat zu ihrer Rechtfertigung, sondern widersetzen sich der ihnen angebotenen und zugeteilten Gerechtigkeit.
Sie dienen wohl dem Gesetz, aber mit Unverstand, dem Gesetz selbst zuwider, Vers 4. Sie sehen nicht, dass das Ziel und Ende des Gesetzes Christus ist und es uns einzig dadurch in die Gerechtigkeit führt, dass es uns zu Christo leitet und zum Glauben willig macht. Statt dessen behandeln sie das Gesetz als ihren Mittler mit Gott und als den Schlüssel zum Himmelreich und werfen um seinetwillen alles weg, was als Gottes vollkommene Gabe über dem Gesetze steht. So lassen sie das Gesetz nicht, wie es Gott gegeben hat, sondern machen sich aus demselben selbst ein Gesetz zurecht nach ihrem Gutdünken und ihrer Einbildung.
Paulus stellt nun noch einmal den Unterschied hervor zwischen der Gerechtigkeit von unten und derjenigen von oben, zwischen derjenigen, die aus dem Gesetz entsteht, wie sie Israel sucht, und derjenigen, die der Glaube hat, wie sie Gott gibt, und er benutzt dazu zwei Worte des Gesetzes selbst, Vers 5-11. „Wer das tut, der wird leben“, das ist der klare, scharfe Ausdruck für die Gerechtigkeit, die das Gesetz hervorbrächte, wenn ihm nicht unsere Fleischlichkeit in den Weg träte. Wir wären die Täter des göttlichen Willens und aus unserem eigenen Handeln nach Gottes Gebot würde uns als der von ihm geordnete Lohn und Ertrag unserer Arbeit das Leben erwachsen. Mit der Gerechtigkeit, die uns von oben kommt, verhält es sich anders, und auch zu ihrer Beschreibung braucht Paulus ein Wort des Gesetzes. Nachdem das Gesetz Israel vorgelegt ist, heißt es nämlich, 5 Mose 30, 11-14: „Das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht verborgen, noch zu fern, noch im Himmel, dass du möchtest sagen: wer will uns in den Himmel fahren und uns holen, dass wir es hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du möchtest sagen: wer will uns über das Meer fahren und uns holen, dass wir es hören und tun? Denn es ist das Wort nahe bei dir in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.“ So, sagt Paulus, steht der Glaubende vor Gott. Der Glaubende spricht nicht: wer wird mir in den Himmel hinaufsteigen? als wäre der Himmel noch verschlossen, als müsste er ihn erst öffnen, und die Gabe Gottes erst herabholen aus ihm und Gott erst bewegen, sie niedersteigen zu lassen zu ihm. Der Glaube tut nicht, als ob er Christus herabziehen müsste mit seiner eigenen Frömmigkeit, seinem Gottesdienst, seinem Eifer und Werk. Nein, Christus ist gekommen! Das weiß und hält der Glaube fest. Er steht auch nicht so vor dem Abgrund des Todes, als müsste er erst denselben öffnen und überwinden, als wäre er noch verschlossen und unbezwungen. Er spricht nicht, als müsste er erst Christum aus den Toten auferwecken. Nein, Christus ist auferstanden und emporgestiegen aus dem Tode. Das fassen wir glaubend ins Herz und der Glaube öffnet auch unsern Mund und wir bekennen es, dass Jesus der Herr ist, vom Himmel gekommen und zum Himmel erhöht, so dass wir sein eigen sind, dass er der Auferstandene ist, der Leben und Unvergänglichkeit ans Licht gebracht hat an sich selbst. Und damit sind wir gerecht; eben dies ist unsere Gerechtigkeit. So erfüllt das Evangelium das, was das Gesetz über die Nähe des göttlichen Gebotes sagt. Ja, ein Wort, dasjenige nämlich, das Jesum als den Herrn preist, ein Wort, das uns nahe ist, weil es Gott selbst in der Sendung und Auferweckung seines Sohnes vor uns hingestellt hat, ein Wort, das in unserem Herzen lebt im Glauben und in unserem Munde ist als unser Bekenntnis, das ist das uns von Gott Gebotene, das ist unsere Gerechtigkeit, nach der Verheißung der Schrift, dass wer an ihn glaubt, nicht zuschanden wird.
Wenn Israel die Gerechtigkeit und das Leben verloren hat, so hat das also nicht darin seinen Grund, dass dieselben ihm unzugänglich und entzogen wären. Sie sind allen vorgelegt und nahe gebracht, so nahe, als nur immer die Liebe Gottes sie uns bringen kann. Und diese Nähe des Heils, die es uns fasslich und erlangbar macht, sowie wir es begehren, spricht nun Paulus im Folgenden aus, Vers 12-15. Vom einen Herrn und seinem unerschöpflichen Reichtum für alle geht alles aus. Er ist bereit sich rufen zu lassen und wendet sich jeder Anrufung gebend und helfend zu, so dass die an ihn gewandte Bitte uns in den Besitz der Gabe setzt. Solche Anrufung hat allerdings eine innere Bedingung, aber nur eine, nicht Gesetz noch Werk, sondern Glaube; wenn wir ihm vertrauen, dann rufen wir ihn an. Und der Glaube hat wiederum eine innere Bedingung, und wiederum nur eine, nicht Werk noch Gesetz, sondern Hören; wenn wir hören, was Gott für uns getan hat, so glauben wir.
Und das Hören ruht in der Verkündigung der Botschaft, und diese wiederum in der Sendung der Boten. Aber damit ist nun alles genannt, was vorhanden und hergestellt sein muss, damit wir die Gerechtigkeit besitzen. Gott sendet seine Boten; diese verkündigen mir, was Gott mir gibt; ich höre es; mein Hören vollendet sich innerlich im Glauben; aus dem Glauben wächst mein Rufen zum Herrn hervor; mein Rufen bringt die Gabe in meine Hand: damit ist die Kette der Vorgänge, die mir das Heil zuleiten, geschlossen. Das ist der Heilsweg, wie er uns nun vorliegt, in seiner einfachen Vollständigkeit.
Diese Heilsordnung setzt jedoch die Unerlässlichkeit und Notwendigkeit des Glaubens ins helle Licht. Zwischen das Hören und das Empfangen der Gabe hat Gott keine Forderung, keine Leistung, keine Vorbereitung, nichts hineingestellt als die Bitte, die Christum ruft. Aber wie sollen sie den anrufen, an den sie nicht glauben? Fehlt der Glaube, so fällt jene Kette auseinander und ihr Anfang, die Zusage Gottes, und ihr Ende, der Empfang seiner Gabe, kommen nimmermehr zusammen. Gott mag vor mir seine Gnade aufs herrlichste preisen und die ganze Fülle seiner Liebe und Erbarmung mir vorhalten, was hilft mir mein Hören, wenn es nicht Glauben in mir weckt, wenn ich mit dem stumpfen, starren Auge des Unglaubens diesen ganzen reichen Schatz betrachte, und keine Begehrung nach ihm in mir wach wird und meine Hand sich nicht nach ihm ausstreckt und mein Mund sich nicht öffnen mag zu der Bitte: Herr, hilf! Nur durch den Glauben hindurch wird das Hören zum Empfangen und das Wort zur Kraft. Nun gilt aber von Israel die Klage des Propheten: Herr, wer glaubt unserer Predigt? Es ist dem Evangelium nicht gehorsam geworden. Da kann der Ausgang und das Ergebnis kein anderes sein als dies, dass die Gabe Gottes für Israel nicht vorhanden ist, so nahe sie ihm ist, und sein Reich ihm unerreichbar ist, ob es auch in Christo zu uns gekommen und uns geöffnet ist.
Nichts anderes als der Mangel des Glaubens hat Israel ins Unglück gebracht. An der Sendung der Boten, die ihm das Wort Gottes überbrachten, fehlte es nicht. Die Weissagung ging in Erfüllung, die von solchen sprach, die Israel den Frieden verkündigen. Diese Boten sind gekommen und ihre Wege waren lieblich, denn sie kamen nicht mit Drohung und Scheltwort, sondern sie boten mit dem Evangelium den Frieden Gottes an. Oder haben sie's nicht gehört? Der Apostel antwortet mit Ps. 19,5. Wie die Sonne, der himmlische Bote, der jeden Morgen aufsteht als Zeuge der Herrlichkeit Gottes, mit seiner Predigt alle Lande umfasst, also drang auch das Wort von Christo von Land zu Land, und seine Boten haben. nicht im Winkel geredet, sondern ihren Mund weit aufgetan.
Nicht einmal die Entschuldigung bleibt Israel, dass sie es nicht gekannt und gewusst hätten, was Gott in Christo tut, sondern überrascht worden seien, als sein Evangelium mit Macht hinausbrach in alle Lande. Sie lasen das alles schon längst in der Schrift. Schon das Lied Moses sagte ihnen, dass sich Israel zurückgesetzt finden werde hinter die Heiden. Wenn dem Juden das Herz kochen will darob, dass er in der Ferne stehen soll, während der Heide zu Christo herzu gerufen ist, so bedenke er, dass ihm schon längst gesagt ist, dass Gott ihn dadurch zum Eifer reizen wird, dass er den Heiden über Israel erhöht. Und bei Jesaja ist vollends die Gnade in ihrem wunderbaren Walten schon aufs klarste abgebildet und dargestellt. Während er Israel beschreibt als das widerspenstige Volk, das Gottes Hand von sich stößt, verheißt er denen, die Gott nicht suchten, dass sie ihn finden werden.
Worin liegt also der Grund ihres Falls? Nur in ihrem Unglauben, nur darin, dass die Stimme der Gnade sie nicht zum Gehorsam bewog, weil die Güte Gottes ihnen missfiel und sie seine Gabe verachteten. Sie antworteten dem Evangelium: wir wollen dich nicht. Gott ist rein und gerecht in seinem Gericht, und der Mensch beschuldige sich selbst.