Schlatter, Adolf - Der Römerbrief - Kap. 1, 18-32. Die heidnische Sünde.
Das erste, was Paulus zur Erkenntnis bringt, ist die Verwüstung, welche die Sünde im menschlichen Wesen anrichtet, bis zum abscheulichsten Laster hinab. Dazu hält er uns zuerst das heidnische Leben vor, weil hier die Sünde offen ans Licht tritt, während sie sich vor dem Gesetz ins Dunkel zurückzieht und verbirgt. Darum ist sie am Heiden deutlicher erkennbar in ihrem bösen Wesen und ihren bitteren Folgen, welche zeigen, mit welcher Zornesmacht Gott ihr widersteht.
Hinter aller Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen steht ein Darniederhalten der Wahrheit als der Grund und die Wurzel unserer Verdorbenheit, Vers 18.
Unser Handeln kann nicht mit nichts beginnen, nicht mit einem eigenen Gebilde, sondern nur mit Gottes Gaben, durch die er uns fürs Leben ausrüstet. Wir haben auch in der Tat die Ausrüstung, die wir zum Handeln bedürfen, von Gott empfangen, in der Wahrheit, die uns Gott zu unserm innern Eigentum macht.
Niemand in der Welt hat so hoch und herrlich von der Wahrheit geredet als die Männer der heiligen Schrift. Sie sehen dieselbe zum Herrn über den ganzen Menschen, der nicht nur ein Stück an uns erfasst, etwa nur unsern Kopf als bloße Theorie, während das Leben davon nicht berührt würde. Sie reden nicht von einem Wissen, welches das Herz nichts anginge und uns nicht zum Glauben und Lieben führte. Nein, die Wahrheit will und kann alles, was in uns ist, füllen; denn es gibt nichts in uns, was der Wahrheit nicht bedürfte: unser Denken bedarf ihrer, damit wir helle erleuchtende Gedanken hervorbringen; unser Wollen bedarf ihrer, damit es sich nach der Regel Gottes gestalte; unser Wirken bedarf ihrer, damit es nicht tote, sondern fruchtbare Werke schaffe von unvergänglichem Wert. Darum will die Wahrheit mit starkem Triebe in uns allen hervorbrechen in unser Wollen und Wirken hinein und in uns herrschen und thronen mit regierender Macht. Aber wir drücken sie nieder, wehren ihren Einfluss ab und führen einen innern Krieg mit ihr, der sie ohnmächtig macht. Der Einzug der Wahrheit in unser ganzes Wesen vollzieht sich nicht bloß auf dem Naturwege, etwa wie das Sonnenlicht in seiner natürlichen Kraft in alle Täler und Furchen der Erde dringt. So dringt sie allerdings zum Teil in unsre Erkenntnis hinein, ohne unser Zutun als unsre Ausrüstung, welche uns Gottes Güte mitgibt ins Leben. Das Erkennen ist diejenige Seite an uns, wo wir offen sind für Gott, die Stelle, wo uns Gott mit sich in Gemeinschaft hält, auch während wir ihn verlassen haben. Aber wie soll die Wahrheit in unsern Willen kommen anders als durch unser Wollen? Und das ist die Stelle, wo wir uns selbst verderben. Wir halten die Wahrheit eingesperrt in unser Wissen, so dass sie von uns bloß gekannt wird, aber nicht getan; sie bleibt als ein totes Gut unwirksam in uns liegen, weil wir ihr den Gehorsam versagen. Damit ist die Verrenkung und Zerrüttung unsers innern Wesens geschehen und der tödliche Riss in dasselbe hineingebracht und die Bosheit entspringt.
Der Inhalt dieser Wahrheit ist die Kenntnis Gottes, Vers 19 und 20. Mit ihr kann kein andres Wissen wetteifern; sie tritt, sowie sie in uns aufgegangen ist, sofort in die Mitte unsers Geistes als die Wahrheit in allen Wahrheiten. Das ist an unsern Gedanken wahr, was den Blick auf Gott in sich hat, was auch in der Welt und ihrem Lauf das zu erfassen vermag, was Gottes ist. Der Mensch besitzt diesen Kern aller Wahrheit und hat ein Erkennen, das Gott wahrnimmt, so dass man ihm nicht erst zeigen muss, dass Gott ist. Das ist dasjenige Wissen, mit dem wir anfangen, das nicht erst nachträglich zu unsern übrigen Gedanken hinzukommt, sondern unser ursprüngliches und erstes Eigentum ist. Es wäre zwar ein ungeschickter Ausdruck, der den Gedanken des Apostels ungenügend wiedergäbe, wenn wir von angeborner Erkenntnis Gottes reden wollten. Erkennen ist ein inneres Geschehen, das sich nicht naturhaft forterbt, etwa wie unserm Leibe gewisse Eigenschaften unverlierbar eingebildet sind. Das Erkennen blitzt wie ein Lichtstrahl in unserm Inwendigen auf und es muss immer neu zu diesem Aufleuchten kommen, wenn die Erkenntnis in uns fortbestehen soll. Aber die innern Erfordernisse zu diesem Aufleuchten des Lichts sind uns gegeben und die äußere Anregung zu demselben fehlt uns ebenso wenig. Denn die Welt ist so gebildet, dass sie unser Auge für Gott öffnen kann, weil sie Gottes Werk und Schöpfung ist, Vers 20.
Darum wird, obgleich es ja Gottesleugner gibt, doch in allen Gott leugnenden Lehren immer wieder eine Art Gott aufgestellt, ein Weltschöpfer und Weltherr, der mit ewiger Kraft und Herrschaft ausgestattet ist. Heiße man es Natur, Idee, Gesetz, Schicksal, Zufall usw., stets findet sich etwas, was diejenige Stelle ausfüllt, welche nach der Schrift Gott zukommt. Diesen Platz kann der Mensch nicht völlig leer lassen, noch sich selbst in denselben stellen, da er weiß, dass er sich nicht selber schafft und regiert; und er weiß noch mehr, nämlich dies, dass er nicht verfolgt und gehasst ist; denn er ist von vielen Gütern und Gaben umringt und findet sich getragen und beschenkt von einer gebenden Hand. Darum ist die Frage im Grunde nur die: wen wir als Gott anerkennen und ehren wollen, nicht aber die, ob wir einen Gott haben wollen oder nicht.
Diese Erkenntnis, die wir Gott verdanken, will jedoch in uns nicht eingesperrt und gefesselt bleiben. Die Wahrheit lockt und ladet den Menschen, und der Reiz, die Lockung, der Trieb, der von ihr ausgeht, ist der, dass wir Gott preisen als Gott, Vers 21. Sie wirbt um unsern Willen, dass wir Gott verehren und uns vor ihm beugen in Bewunderung und Anbetung. Und noch tiefer steigt Gott herab. Er lässt nicht nur einen Schimmer seiner Majestät und Herrlichkeit hineinfallen in unser geistiges Leben, sondern er neigt sich gebend zu uns herab. Gute und vollkommene Gaben gehen von ihm aus und sie werben wieder um unsern Willen: sie suchen unsern Dank. Die Gabe will uns aufwärts leiten zum Geber; sie kommt zu uns als Zeuge von ihm, damit sie uns erhebe zu ihm, und diese Erhebung des Empfangenden zum Gebenden, durch welche die Gabe wieder zurückströmt zu ihm und die Gemeinschaft der Liebe gestiftet ist, geschieht im Dank.
Aber der Mensch preist Gott nicht als Gott, noch dankt er ihm. Das ist die Wurzel und der Grundschaden in unsrer Sündigkeit. Ist es recht, wenn wir den Genuss der Gabe an uns raffen und den Geber missachten, nur die Gabe suchen und den Geber nicht? Ist es recht, wenn die Größe Gottes unserm Blick sich enthüllt und wir uns nicht beugen vor ihm? Soll der Herrlichkeit Gottes die Antwort der Anbetung von uns verweigert sein? Wenn wir die Wahrheit in uns niederdrücken, so ist das Ungerechtigkeit, Vers 18.
Wo sind nun die Gerechten? Wo sind die, welche die Wahrheit nicht in sich erstickten und darniederhalten? Sind wir die Anbeter Gottes, die ihre Kenntnis Gottes nicht vergraben, sondern hervorbrechen lassen in sein Lob? Sind wir die Dankbaren, deren Blick nicht nur begierig auf die Gabe, sondern aufwärts zum Geber schaut? Der Vater sucht Anbeter und findet sie nicht; so sind wir allzumal Sünder. Willst du dein Unrecht ermessen, so sieh auf dein Gebet: wie gebetslos bist du! so sieh auf deinen Dank: wie undankbar bist du!
Eben dies, dass in der Tiefe unsrer Sünde die Entehrung und der Undank gegen den gekannten Gott stehen, ergibt die Verdammlichkeit derselben und macht sie zur Schuld. Die uns gegenwärtige Wahrheit bietet unserm Willen Grund und Halt dar, der ihn vor Ungerechtigkeit schützen würde. Aber wir ergreifen ihn nicht; so fällt unser Unrecht auf uns allein, auf unsre Wahl und unsern Entscheid als unsre Schuld. Und indem Gott sein Licht nicht auslöscht in uns und seine Wahrheit uns nicht entzieht, sondern fort und fort seine Werke vor uns zeugen lässt von ihm, nimmt er uns jedes Mittel der Verteidigung und Rechtfertigung. Gottes unsichtbares Wesen wird an der Schöpfung gesehen, damit wir keine Entschuldigung haben, Vers 20, sondern uns schuldig bekennen müssen vor ihm. Auf die Frage: hast du mich nicht gekannt? müssen wir antworten: ja, ich kannte dich! du hast mir deine Wahrheit offenbar gemacht. So macht Gott die Sünde überaus sündig1), damit uns kein Winkel übrig bleibe, darin wir uns vor Gott verstecken und gegen ihn wehren könnten. Denn das ist, wie uns der Römerbrief immer wieder sagen wird, der Anfang und die Bedingung aller Hilfe, dass wir aufhören uns gegen Gott zu verteidigen, sondern uns voll und ganz seinem Recht untergeben. Darum erinnert Paulus schon bei der heidnischen Sünde daran, dass Gott dem Sünder keine Entschuldigung gelassen hat.
Auf die Ungerechtigkeit der Menschen antwortet Gott vom Himmel her in königlicher Machtwirkung mit seinem Zorn, Vers 18. Nicht der Zorn ist das erste, was der Mensch von Gott erfährt, sondern die Güte, die ihm Gottes Herrlichkeit enthüllt und seine Gaben schenkt, damit er ihn ehre und ihm danke. Weil aber diese Güte verschmäht und missbraucht wird, darum verschließt sie sich und an der entweihten Güte entsteht der Zorn. Gott stehet auf der Seite der Wahrheit, und weil sich der Mensch der Wahrheit widersetzt, so widersteht ihm Gott. Der Feind der Wahrheit hat nun Gott zum Feind. Der Mensch muss nun selber leiden, was er Gott angetan hat. Er hat Gott verworfen, so wird sein eigner Sinn verwerflich; er hat das Licht der Wahrheit verschmäht, so muss er im Finstern sein und die Lüge haben; er hat Gott die Ehre versagt; so schändet er sich selbst. Das ist die Gerechtigkeit des göttlichen Zorns, dass er dem Menschen nichts antut, was dieser nicht zuerst Gott angetan hat. Er beugt lediglich des Menschen eignes Handeln auf ihn selbst zurück und lässt den Pfeil, den er gegen Gott abschoss, auf sein eignes Haupt zurückfallen. Gott gibt den Menschen nur darum preis, weil dieser zuerst Gott preisgegeben hat.
Die Erweisung und Offenbarung des göttlichen Zorns ist nicht nur künftig, sondern wir erfahren schon jetzt in unserm Lebenslauf, dass Gott uns widersteht mit Zorn. Die unterdrückte Wahrheit zieht sich von uns zurück. Zwar treibt der Geist beständig Gedanken, Urteile und Absichten in mannigfaltiger Fülle aus sich hervor; aber sie sind von der erleuchtenden und weisenden Wahrheit verlassen, und werden leer und nichtig, Träume und Schäume. Das Herz wird finster und der närrische Wahn entsteht bei aller Einbildung, weise zu sein, vor allem der religiöse Wahn, das Götzenbild, das gesamte Trugsystem der falschen Religion, und der Mensch gießt die Glut und Kraft seiner Andacht und Anbetung, die er Gott verweigert hat, vor einer Menschenfigur aus, ja vor dem Bilde eines Wurms, Vers 21-23, vergl. 25.
Aber die Folgen jener Grundsünde greifen noch weiter um sich. Es liegt zwar schon im Götzendienst Entehrung und Schändung des Menschen, weil er ihn dem Wahn und der Lüge untertan macht; doch lässt derselbe noch den natürlichen Bestand des Menschen unversehrt. Aber nun schlägt der verheerende Funke auch hinüber in die sinnlichen Triebe und dieselben entzünden sich zu heillosem Brand und Gott löscht ihn nicht. Die Unsittlichkeit ist Gottes Antwort auf die Unfrömmigkeit. Im Laster erfährt der Mensch, dass er von Gott verlassen ist, nachdem er Gott verlassen hat. Paulus erinnert zuerst an die Verkehrung der geschlechtlichen Triebe in widernatürliche Begierden, Vers 24; 26-27. Eben diese Laster waren das Unglück und der Ruin der Völker, unter denen er das Evangelium verkündete, und zwar standen sie in engster Beziehung zu deren Götzendienst, da gerade die Tempel und Feste durch heillose Unzucht befleckt waren. Sodann offenbaren diese Dinge in besonderem Maße den Charakter des Lasters. Der Mensch entehrt sich selbst damit und schändet seinen Leib; er legt Hand an sich selbst und untergräbt die natürliche Grundlage seiner Existenz in selbstmörderischem Tun. Er wird dazu getrieben durch die tyrannische Macht seiner verirrten Triebe, ob es ihm auch selber graut vor dem, was er tut, und er wohl weiß, dass er sich selber ins Elend stürzt. Er hat in der Sünde einen Zwingherrn gefunden, dem er in willenloser Ohnmacht untergeben ist. Hernach erinnert Paulus weiter an die mannigfaltige Bosheit, mit der wir einander quälen, verleben und schädigen, Vers 28-31. So wird die Sünde dem Menschen zur Kette und zum Kerker, in welchem er verdirbt, und darin erfährt er Gottes Zorn.
So steht der Mensch in tiefster Zerrüttung vor uns. Weil Gott die Wahrheit in ihm wach erhält, kennt er die göttliche Rechtsordnung, dass die des Todes würdig sind, die solches tun, Vers 32. Er kann sich das göttliche Urteil über seine Sünde nicht verbergen. Auch der Mensch richtet das Böse unwillkürlich, und zwar unbedingt und ganz; er weiß, dass dasselbe kein Existenzrecht hat und nicht geschehen noch bestehen darf, dass also wer es verübt, sein Leben verwirkt. Und dennoch tut er es nicht nur, und zwar mit Lust, sondern hat auch seine Freude daran, wenn es andere tun. Er gibt Beifall, lacht, lobt und ermuntert zur Schlechtigkeit. Das ist der Riss in unsrem Wesen und der Widerspruch in uns selbst, der uns zerstört. Wir würden über dieses Vergnügen und Lachen erschrecken, mit dem wir gelungenen schlechten Streichen zusehen, während uns doch die Nichtswürdigkeit und Todeswürdigkeit der Sache innerlich zweifellos ist, wären wir nicht daran gewöhnt. Da stehen wir schon nahe bei der teuflischen Lust an der Verführung, die über den Untergang des Verführten lacht.
Allein wuchs nicht auch viel herrliches und großes auf heidnischem Boden hervor? z. B. der Drang der Griechen nach Weisheit oder die bürgerliche Tüchtigkeit, Wahrhaftigkeit und Hingebung der Römer! Und wenn wir auch nicht an solche hervorragende Erscheinungen denken, dürfen wir uns nicht vorstellen, dass auch unter den heidnischen Völkern mancher Lebenslauf sittsam, keusch und fromm verlaufen. ist? Aber alles Große und Reine, was auf religionslosem Grunde in alter oder neuer Zeit hervorgetreten ist, hat in der Darstellung des Apostels sehr wohl Raum und hebt sie eben deshalb nicht auf. Er zeichnet uns den Heiden keineswegs als ein blindes stumpfes Geschöpf, das ohne Begabung von oben wäre; vielmehr weiß derselbe, was Gott ist, und kennt sein Recht. Und der Stufengang und Fortschritt des Fallens, den er beschreibt, ist nicht so aufzufassen, als ob er sich nur einmal zutrüge, so dass auf ein Geschlecht, das Gott kennt und nicht ehrt, nun ein anderes folgte, welches in blindem Wahne falschen Gottesdienst aufrichtet, und sodann ein drittes, das im Laster verfault; sondern diese Geschichte wiederholt sich immer neu in allen ihren Stufen. Ihr Ausgangspunkt ist stets vorhanden, da Gottes Wahrheit und Güte immer neu um die Anerkennung und Dankbarkeit der Menschen wirbt. Von dieser göttlichen Grundlage aus können kräftige Gegenwirkungen erfolgen, welche dieses Fallen und Versinken in der Sünde in Einzelnen oder ganzen Geschlechtern hemmen und aufhalten. Aber diese Gegenwirkungen überwinden die Entfaltung der Sünde nicht, sondern werden selbst von ihr weggerissen, und dies darum, weil auch sie selbst durch die Wurzel der Sünde, durch die Nichtachtung Gottes, vergiftet sind.
Die Männer, welche der Predigt des Paulus mit Bedenken gegenüberstanden, fürchteten, er gebe dadurch, dass er uns Freiheit vom Gesetz und Gerechtigkeit allein im Glauben suchen heißt, der heidnischen Sünde Raum und Recht. Darum zeigt Paulus den römischen Christen, wie er von der Sünde der Heiden denkt. Sie sollen sehen, dass er sie in ihrer ganzen Größe, Furchtbarkeit und Verdammlichkeit vor Augen hat und den Zorn Gottes sehr wohl sieht, der über ihnen steht und in ihnen sein strafendes Werk vollzieht. So erkennen sie von Anfang an, dass es bei seiner Predigt der Gnade und des Glaubens nicht auf eine leichtfertige Behandlung der Sünde, sondern auf eine völlige und gründliche Erlösung von derselben hinausläuft. Nur so begreifen sie auch, was er sagen wollte, wenn er sich den Schuldner der Heiden nannte, warum er mit so brennendem Eifer das Evangelium von Land zu Land weiterträgt. Es handelt sich darum, dem Menschen die Hilfe zu bringen aus so tiefer Not.
Doch noch viel mehr als an seine eigene Rechtfertigung denkt Paulus bei diesem Bild der heidnischen Versunkenheit an das, was die Gemeinde für sich selbst bedarf, damit sie sich mit aufrichtigem und völligem Glauben an Christum halte. Warum führt uns sein Brief nicht sofort zu Christo hin? Paulus hat uns ja gesagt, was er uns durch denselben zeigen will, nämlich das, was der Glaube sucht und hat, dass wir im Glauben die Kraft Gottes empfangen uns zur Errettung, weil uns Gott die Gerechtigkeit und mit ihr das Leben schenkt aus Glauben heraus, Vers 16 und 17.) Allein nun lässt er uns nicht schon zuerst den Inhalt des Evangeliums schauen und führt uns nicht gleich schon vor die Kraft Gottes in ihrer seligmachenden Wirkung uns zur Gerechtigkeit und zum Leben mit ihrem lockenden, verheißenden Reiz, sondern er heißt uns zuerst den Menschen ansehen in seinem eigenen Handeln, und zwar den Heiden mit seiner offenbaren Gottlosigkeit und Lasterhaftigkeit. Warum geht er diesen Gang? Darum, weil es sich keineswegs von selbst versteht, dass wir an Christum glauben wollen, vielmehr müssen wir erst zum Glauben bewogen, erweckt und getrieben sein. Und unsre Willigkeit zum Glauben entsteht daraus, dass uns der Blick in die Bosheit und Gefährlichkeit unsres eigenen Handelns geöffnet wird.
Wir suchen im Glauben unser Gut und unsre Kraft über uns selbst in Christo, dem wir glauben. Darum müssen wir zuerst eingesehen haben, dass wir sie nicht bei uns selber finden. Wir suchen nicht bei Gott, was wir in uns selbst besitzen. Wie sollten wir nach dem noch verlangen, was wir schon haben? wie die Hand erheben nach dem, was die Gnade schenkt, wenn wir reich sind durch. uns selbst? Und wenn wir auch wollten, wir könnten es nicht, weil wir nicht erwarten können, dass Gott für uns tue, was wir selbst vermögen, und an unsre Stelle trete in dem, was wir selbst zu tun imstande sind. Wir müssen uns deshalb, wenn Glaube in uns entstehen soll, darüber klar werden, ob wir uns selbst genügen und uns auf unser eigenes Handeln verlassen können, oder ob wir zu Christus hinzutreten und unser Vertrauen auf ihn gründen wollen. Darum fragt es sich zuerst: was haben wir selbst? Und nur wenn wir einsehen, dass wir nicht nach der Regel und dem Willen Gottes handeln, und nicht selbst so wirken können, dass ein gutes Lebenswerk daraus entstünde, ist Raum in uns vorhanden zum wahrhaftigen Glauben, der in die Gnade Gottes greift. Zu dieser innern Entscheidung hilft uns Paulus dadurch, dass er unsern Blick auf die Zerrüttung lenkt, in welcher der Mensch steht. Wie können wir bei dem bleiben, was wir in uns selber finden, da wir mit schlimmem, scharfem Widerspruch in uns selbst zerfallen sind, und loben, was wir selbst verurteilen müssen, und uns belustigen mit dem, was wir als den Weg zum Tod erkennen? Wie können wir die Hilfe bei uns selber suchen, da wir durch den gerechten Zorn Gottes in die Sünde hineingebunden sind als in den Kerker, der uns gefangen hält? Unsre Ungerechtigkeit wird nur dadurch zurecht gebracht, dass Gott uns Gerechtigkeit bereitet. Wir sind von Gott dahingegeben; das wird nur dadurch geändert und aufgehoben, dass wir durch denselben Gott herbeigerufen und aufgenommen werden. Gegen den Zorn Gottes hilft nur Gnade Gottes und die Antwort, mit der wir der Gnade entsprechen, ist Glaube, der sich ihr hingibt und sich ihr anvertraut.
Und zwar handelt es sich nicht nur um die Erkenntnis, dass uns irgend welche Hilfe wünschbar und nötig ist, sondern es gilt einzusehen, wozu wir Hilfe bedürfen und was für Gaben wir bei Gott suchen müssen. Der Mensch erwartet gern allerlei Gaben und Hilfe von Gott, aber deshalb schließt er sich noch nicht gläubig an Christum an. Vielmehr wenn das, was ich von Gott begehre, nicht in Einklang steht mit dem, was mir Christus geben will, so kann kein Glaube an ihn in mir entstehen. Dieser erwächst daraus, dass ich das bei Christo finde, wonach ich mich mit allen Kräften meiner Seele strecke, weil ich erkenne, dass ich es bedarf. Nun offenbart sich im Evangelium für uns die Gerechtigkeit; darum kommt der Mensch dadurch zum Glauben, dass sein Verlangen und Begehren auf die Gerechtigkeit gerichtet wird. Zu diesem Zweck, um uns die Ungerechtigkeit unleidlich und die Gerechtigkeit zum Ziel unsers Sehnens und Verlangens zu machen, hält uns Paulus die Zerrüttung des Menschen vor. Wir sollen fragen lernen: wer bringt die Wahrheit zum Siege in mir? wer macht mir Gott so groß, dass ich ihn anbete, und seine Güte so herrlich, dass ich ihm danke? wer löscht jene Lust an der Schlechtigkeit in mir, durch die mir die Bosheit ergötzlich ist? wer einigt mich mit Gottes Recht, mit dem ich in Zwiespalt bin? ja, wer kann das Rätsel lösen, das kein Mensch zu lösen vermag, wie ich eins werde mit Gottes Recht, das der Sünde den Tod zuspricht, und doch bewahrt und errettet werde vor dem Tod, der mich zerstört? Solches Fragen und Begehren muss in uns wach geworden sein; das findet bei Christo Antwort und Erfüllung und führt zum Glauben an ihn. Darum aber, weil der Glaube am Verlangen nach der Gerechtigkeit entsteht und dasselbe von Anfang an in sich hat, verträgt er sich auch niemals mit Sündenlust und ist von aller leichtfertigen Geringschätzung der Sünde frei.
Endlich zeigt uns schon der Gang und Verlauf der Sünde, wie der Glaube für uns zur Pforte der Gerechtigkeit werden wird. Der Weg in die Verdorbenheit hebt damit an, dass wir Gott nicht achten und seine Gaben mit Undank an uns ziehen. Nun erscheint in Christo über dem Zorn wiederum die Freundlichkeit und Gnade Gottes und ruft uns in ihm zu sich. So stehen wir aufs neue vor der Frage, ob wir Gott ehren und danken wollen. Wenden wir uns ungläubig ab, so verweigern wir Gott wiederum die Anerkennung und den Preis und danken ihm wiederum für seine Gabe nicht. Der Glaube dagegen preist Gott in der Herrlichkeit seiner Erbarmung, nimmt seine Gabe willig hin und sagt ihm Dank. Darum ist er der Anfang unsrer Heilung, Aufrichtung und Wiederherstellung; denn er ist die Aufhebung und der Abbruch jener heidnischen Wurzel aller Sündigkeit. Und gleichwie der Zorn aus dem Undank alle Bosheit und Verlorenheit erwachsen ließ, also lässt nun die Gnade mit lebendiger Macht aus dem Glauben Gerechtigkeit und Leben für uns erstehen.