Ohlhues, Johann Matthias Peter - Acht Betrachtungen über das fünfzehnte Kapitel des Evangeliums Lucas - Achte Betrachtung - Die Geschichte des ältesten Sohnes

Ohlhues, Johann Matthias Peter - Acht Betrachtungen über das fünfzehnte Kapitel des Evangeliums Lucas - Achte Betrachtung - Die Geschichte des ältesten Sohnes

Die Geschichte des ältesten Sohnes zeigt uns: das Murren der Selbstgerechten wider die Gnade Gottes, dass Er die bußfertigen Sünder annimmt; die Geduld Gottes, in der Er auch diese Murrenden in ihrer Gnadenfrist trägt, damit sie Buße tun. Sollte der Herr, der gekommen ist, das Verlorene zu suchen und die Sünder selig zu machen, die Pharisäer und Schriftgelehrten, die darüber murren, worüber Gott mit Seinen Engeln und Heiligen sich freut, gehen lassen, ohne ihnen ihre Sünde zur Buße vor Augen zu malen? Das lässt Seine erbarmende Liebe, die auch alle sucht, nicht zu; deshalb zeichnet Er sie in dem ältesten Sohn mit klaren und deutlichen Zügen. Er hebt so an:

V. 25. Aber der älteste Sohn war auf dem Feld; und als er nahe zum Haus kam, hörte er das Gesinge und den Reigen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass wir ein Gleichnis vor uns haben, damit wir verstehen, dass es nicht Zufall ist, dass der ältere Sohn bei der Rückkehr des jüngeren nicht zugegen war. Denn diese Art Leute, die Selbstgerechten, sind nicht mit dabei, wenn ein bußfertiger Sünder begnadigt wird; dafür haben sie kein Herz. Freilich geschieht solche Begnadigung auch meistens im Kämmerlein, allein zwischen dem Sünder und Seinem Gott. Doch hindern die Wände weder die Teil nehmende Freude der Heiligen im Himmel, noch die fürbittende Teilnahme der Heiligen auf Erden; sie sind Beide im Geist zugegen; fern aber die Selbstgerechten! Doch wenn das Wunder der Gnade geschehen ist, hören auch sie davon. Das sagen und die Worte: „Und als er nahe zum Haus kam, hörte er das Gesinge und den Reigen.“ Nicht in das Haus, sondern nur nahe dem Haus kommt der ältere Sohn, aber doch nahe genug, um das Gesinge und den Reigen zu hören. Das Haus des Vaters ist die Gemeinschaft derer, die dem Herrn singen in ihren Herzen; aber nicht so allein, sondern, wo sie zusammen kommen, tun sie auch ihren Mund weit auf zum Bekenntnis und Lob des Herrn; und wann wohl weiter, als dann, wenn wiederum ein Sünder begnadigt ist? In diese Gemeinschaft kommen die Selbstgerechten nicht; davor haben sie eine unüberwindliche Scheu; doch nahen sie sich wohl so weit, dass der Lobgesang der Kinder in des Vaters Haus in ihre Ohren dringt. Und da geschieht es denn auch oft, dass sie aus Neugier, Spott und Ärger tun, wie der ältere Sohn, von dem wir lesen:

V. 26.27. Und rief zu sich der Knechte einen, und fragte, was das wäre. Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat ein gemästet Kalb geschlachtet, dass er ihn gesund wieder hat.

Die Frage ist nicht so unschuldig, als sie scheint; sie ist in dem Trotz getan, der bald genug offenbar wird; das Gesinge und den Reigen, von dem er wohl weiß, dass es, weil in dem Hause des Vaters, auf des Vaters Befehl geschieht, erbittert ihn dennoch, und zwar schon, ehe er noch mal weiß, warum es geschieht; denn es ist veranstaltet ohne sein Wissen und Willen, er ist nicht mit dabei, das ist Grund genug seinen Unwillen zu erregen. So sehen wir es die trotzigen Pharisäer alter und neuer Zeit machen. Wo die Kinder Gottes in Versammlungen sich zusammentun zur Stärkung ihrer Gemeinschaft und in Gehorsam gegen das Wort des Herrn (Kol. 3,16.): „Lasst das Wort Christi unter euch reichlich wohnen, in aller Weisheit; lehrt und vermahnt euch selbst mit Psalmen und Lobgesängen, und geistlichen lieblichen Liedern!“ da bleibt gewiss das unwillige Murren der Pharisäer nicht aus. Sie wollen freilich des Vaters Kinder sein, der das geboten hat, worüber sie murren; aber in Versammlungen außer dem Gotteshaus, wenn es nicht kirchliche Handlungen gilt, an Werktagen, was geht sie da das Gebot des Vaters an! Dem, meinen sie, geschähe an den Sonn- und Festtagen in der Kirche genug. Wenn sie deshalb auf diese und andere Erscheinungen eines wahrhaft erweckten Lebens stoßen, die ihnen so befremdlich sind, können sie nicht ohne Fragen daran vorbei; die entstehen ihnen namentlich dann, wenn jemand wie ein Brand aus dem Feuer errettet und so die Macht der Gnade über die Sünde recht augenscheinlich offenbar geworden ist. Und wenn da denn nun an euch, ihr Knechte des Herrn, Jemand fragend herantritt: „Was ist das? Was hat das zu bedeuten? Wie ist es mit diesem und jenem Sünder zugegangen, dass es plötzlich so ganz anders mit ihm geworden ist?“ da seid allezeit bereit zur Verantwortung Jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in euch ist! Da gebt so einfältig, wie der gefragte Knecht, Auskunft: „Dem Bruder sind seine Sünden über das Haupt gegangen und wie eine schwere Last zu schwer geworden; in dieser Angst um seine Sünde ist ihm durch Gottes Gnade das Herz aufgegangen für die Barmherzigkeit des Vaters, der Seine eigenen Sohnes um unsertwillen nicht verschont hat; da hat er sich denn an den Herrn Jesum, welcher um unserer Sünde willen dahin gegeben, und um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt ist, mit dem Flehen um Vergebung gewandt; und nicht vergebens; denn Er stößt Niemanden hinaus, der zu Ihm kommt; ihm ist Barmherzigkeit widerfahren; und nun freuen mit dem Gott der Gnade wir Begnadigten uns, dass er mit uns an der Gnadentafel sitzt, und preisen für die Gnade, die der alleinige Grund unserer Freude ist, den barmherzigen dreieinigen Gott, der nicht will, dass Jemand verloren werde, sondern dass sich Jedermann zur Buße kehre.“ Wenn ihr so bekennt, dürft ihr freilich nicht erwarten, dass sogleich und stets die murrenden Selbstgerechten bußfertige Sünder werden; nein, wenn auch jedenfalls getroffen durch das Wort, dass nicht leer zurückkommt, nehmen sie doch meistens es nicht mit Sanftmut auf, sondern mit Zorn, wie der ältere Sohn:

V. 28. Da ward er zornig, und wollte nicht hinein gehen. Da ging sein Vater heraus, und bat ihn.

Das Murren der Pharisäer und Schriftgelehrten, dass Jesus die Sünder annimmt und mit ihnen isst, haben wir recht deutlich in diesem Zorn des älteren Sohnes; er ward zornig, und worüber? Dass der Vater sich des Reuigen erbarmt hat, und sein verlorener Bruder nicht mehr ein verlorener Herumtreiber, sondern wieder ein Kind in dem Haus des Vaters ist. Darüber ist er zornig, und zwar so sehr, dass er nicht hinein gehen, mit Allen, die im Haus sind, keine Gemeinschaft haben will, also nicht nur mit dem begnadigten Bruder und den andern Tischgenossen des Vaters nicht, sondern auch mit dem Vater selber nicht. Nicht wahr? es ist kaum glaublich, dass solches in Wahrheit geschehen könnte, und doch wiederholt es sich noch immer. Geht nur mal hin und verkündigt einem stolzen Selbstgerechten: „Siehe, dieser oder jener verlorene Mensch hat sich bekehrt von dem Irrtum seines Wegs, und ist nun ein fröhliches seliges Gnadenkind im Vaterhaus; wir sind so eben versammelt, uns seiner Umkehr zu freuen und dafür zu danken;“ und ladet ihn dann ein, mit in eure Gemeinschaft zu kommen; meint ihr, er werde es tun? Nein, mit Zorn wird er die Zumutung von sich weisen, mit solchen armen begnadigten Sündern, die er, der vermeintlich Gerechte, verachtet, Gemeinschaft einzugehen; mit solchen will er keine Gemeinschaft; aber mit dem Vater dieser armen begnadigten Sünder doch wohl? Nein, auch mit diesem Vater nicht; nicht mit dem Vater unsers Herrn Jesu Christi, der die Ehrbarsten und vermeintlich Gerechten eben so wenig, als die offenbarsten Sünder ohne Buße selig macht, aber auch den Schächer als Kind annimmt, wenn er nur Buße tut. Aber dieser erbarmende Vater lässt auch diese trotzigen Sünder nicht; das sagen uns die Worte: „Da ging sein Vater heraus, und bat ihn.“ Wie viele menschliche Väter mag es wohl geben, die das in ähnlichem Fall tun würden? Der trotzige zornige Sohn will nicht hinein; da geht sein Vater heraus und legt sich aufs Bitten: „Komm doch! Nimm doch Teil an unserer Freude! Setz dich doch an dem für dich offenen Platz!“. Ihm bricht das Herz, dass er sich seiner erbarmen muss; denn wenn man überhaupt Unterschiede machen darf, muss man sagen: Das Sündenelend ist bei dem älteren Sohn noch größer, als es bei dem jüngeren gewesen ist; dieser gar verloren, jener noch verlorener; aber noch ist die Möglichkeit da, ihn zu gewinnen und zu erretten; deshalb geht der Vater heraus und bittet ihn. O ihr Alle, die ihr in eurer vermeintlichen Gerechtigkeit der Buße nicht zu bedürfen wähnt, in die Gemeinschaft der begnadigten Sünder nicht eingehen wollt, besinnt euch! Denn seht, ihr seid der ältere trotzige Sohn, dieser hässliche Sohn, dessen Gestalt im Gleichnis euch selbst vielleicht anekelt; ja, er ist euer Bild. Und wie vor ihm sein Vater, so steht vor euch der himmlische, natürlich in Seinem Sohn, und bittet: „Lasst euren hoffärtigen Trotz fahren, die ihr Mich täglich sucht, und Meine Wege wissen wollt, als ein Volk, das Gerechtigkeit schon getan, und das Recht ihres Gottes nicht verlassen hätte! Erkennt eure Missetat, dass ihr wider Mich, den Herrn, euren Gott gesündigt habt, und lasst euch versöhnen mit Mir! Und geht ein in Meine und Meiner begnadigten Kinder Gemeinschaft!“1) Bei dem älteren Sohn war das Bitten vergebens; in trotzigem Zorn fährt er gegen den Vater heraus:

V. 29. 30. Er antwortete aber, und sprach zum Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir, und habe dein Gebot noch nie übertreten; und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich wäre. Nun aber dieser dein Sohn gekommen ist, der sein Gut mit Huren verschlungen hat, hast du ihm ein gemästet Kalb geschlachtet.

Bei dem jüngeren Sohn hieß es immer „Vater;“ der köstliche Gnade verheißende Name war ihm auf seinen verlorenen Wegen tief im Herzen sitzen geblieben. Nicht also bei dem älteren Sohn; wenn der Vater nach seinem Begehren getan hat, so hat er ihn auch wohl Vater geheißen, aber in seinen Augen ist das dann ein Lohn und Lob für den Vater, eine Gnade des Sohnes gegen den Vater gewesen; davon weiß er nichts, dass es Gnade ist, den Vater Vater heißen zu dürfen; und weil sein Herz nichts von der Vatergnade weiß, schweigt auch sein Mund jetzt von dem Vaternamen, da der Trotz seines argen Herzens mit dem Tun des gnädigen Vaters sich in offenbarem Widerspruch findet. Der Vater habe, meint er, wieder Unrecht getan; wieder, sagen wir; denn, nach seiner Meinung, gewiss nicht zum ersten Mal; bisher jedoch hat er murrend und verdrießlich geschwiegen; nun aber scheint das ihm vermeintlich zugefügte Unrecht ihm zu groß und zu grob, als dass er schweigen könnte, und die passende Gelegenheit gekommen zu sein, dem Vater mit der neuen die alte Schuld mal vorzurechnen. „Siehe!“ hebt er an; das soll heißen: Siehst du nicht das Unrecht, das du mir getan hast, und wie guten Grund ich habe, zornig zu sein und nicht hinein zu wollen? Obgleich es offenbar ist, siehst du es ja wohl doch nicht; denn sonst würdest du ja wohl nicht so unverschämt sein, mich in solche Gesellschaft hineinzunötigen! Aber wenn du denn so blind bist, so halte still! ich will dir jetzt den Star stechen: „So viele Jahre diene ich dir!“ das bedenke zuerst, was das heiße; sieh mich mal an, den vortrefflichen Sohn; und ich diene dir; der Dienst war kein leichter, hat viel Schweiß und Mühe gekostet, ist mir oft recht sauer geworden; aber ich habe es dennoch die vielen Jahre hindurch ausgehalten bei dir, der du meine Dienste, die doch dir zu gut gekommen sind, schlecht lohnst; aber dennoch, ich bin nicht weggelaufen, wie dein Sohn, obgleich mir oft genug die Lust dazu gekommen ist; nein, ich bin geblieben, und habe jedes Mal getan, was du mir geboten hast, so dass ich hier vor dir stehen kann mit dem Ruhm: „Und habe dein Gebot noch nie übertreten!“ So rühmt sich der Blinde seines Dienens, und hat doch nicht dem Vater, sondern nur sich gedient; Alles nur in Selbstsucht um seinetwillen getan, um sein Erbe zu mehren; und wenn er auch nie mit äußerlicher Übertretung ein bestimmtes Gebot des Vaters bisher übertreten hätte, mit dem Herzen hat er alle Tage übertreten, weil er nichts mit fröhlichem kindlichem Gehorsam getan hat; und jetzt wenigstens übertritt er auch äußerlich ganz offenbar die beiden Gebote des Vaters: „Du sollst deinen Vater ehren!“ und: „Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen!“2) Er kennt weder des Vaters Gesetz, noch Gnade. Da haben wir den Trotz aller Selbstgerechten bis auf den heutigen Tag! Macht der Vater ihnen einen Strich durch ihre Pläne und Anschläge, erlangen sie ihre vermeintlichen Ansprüche nicht, da erstirbt der Vatername alsbald auf ihren Lippen, weil die Vatergnade nicht in ihren Herzen wohnt; dringt Not und Trübsal herein, da fragen sie murrend: „Warum geht es mir also!“ Das, meinen sie, hätten sie nicht um den Vater verdient mit ihrem Dienst nun schon so viele Jahre; sie wähnen, ein Recht zum Fordern zu haben; und tut der Vater nicht nach ihrem Sinn, da heben sie alsbald mit einem „Siehe!“ an, ihn an ihre vermeintlichen Verdienste und an seine, wie es ihnen scheint, offenbare Schuldigkeit zu erinnern; da sprechen sie: „Siehe; ich bin kein Lästerer, Mörder, Ehebrecher, Dieb, Säufer; ich lebe ehrbar und rechtschaffen; ich arbeite redlich um das tägliche Brot; ich komme Niemandem zu nahe; besuche auch die Kirche und das heilige Abendmahl; ist das nicht Alles löblich und habe ich damit hier nicht gute Tage und dort die ewige Seligkeit verdient?“ Gewiss ist das Alles löblich, aber verdient ist damit nichts vor Gott. Die blinden stolzen Selbstgerechten rühmen aber sich dieses Alles als eines Verdienstes; sie wissen nichts davon, dass alle ihre Gerechtigkeit ist, wie ein unflätig Kleid;3) deshalb können sie es nicht fassen, dass Gott in allen seinen Wegen gerecht ist und bleibt, und ihnen nach dem Maß ihrer Ungerechtigkeit noch lange nicht vollauf vergilt, wenn Er mit Seiner gewaltigen Hand ihnen ihre irdischen Anschläge zerschlägt; und erkennen sie das nicht mal, wie viel weniger denn das, dass sie höllenwürdige Sünder sind, dass Gnade dazu gehört, sie, die vermeintlich Gerechten, von dem ewigen Verlorengehen zu erretten, dieselbe unausforschliche große Vatergnade, deren die offenbaren, gröbsten Sünder bedürfen; das erkennen sie nicht, weil sie nicht lernen wollen, auch in dem unmöglichen Fall, dass sie Alles getan hätten, was ihnen befohlen ist, zu sprechen: „Wir sind unnütze Knechte, wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren.“4) In dieser ihrer Blindheit rühmen und lügen sie, Gottes Gebot nicht übertreten zu haben; sie lügen, indem sie so rühmen, denn sie haben auch nicht ein einziges gehalten, sondern alle mit dem Herzen übertreten; aber nicht das allein; sie lügen auch dann, wenn sie nur sagen wollen: wenigstens nicht mit schwerem Übertreten; denn wo wäre, um nur Eines zu nennen, Einer unter diesen Gerechten, der nicht mal gelogen hätte? Wo bleibt aber denn der Ruhm? Er ist aus! Aber diese falsche Art meint dennoch, der Vater müsse ein besonderes Gefallen an ihrem Dienen haben, damit sie vorgeben Ihm zu dienen, damit sie aber in Wahrheit doch nur sich selber dienen, um gute Tage, um eigene Ehre, damit sie sogar wähnen, Gott also zu ihrem Schuldner zu machen, dass sie von Ihm die Seligkeit fordern könnten. So rühmen sie sich denn, weil sie weder Buße noch Glauben kennen, woraus allein der kindliche Gehorsam der Liebe erwächst, mit falschem Ruhm, wie der ältere Sohn, der in seinem Trotz fortfährt zu lästern: „Und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich wäre!“ Das klingt ja ganz schrecklich! Wer dem Sohn glauben wollte, müsste den Vater für einen ebenso harten Herrn halten, als den Bürger des Heidenlandes, an den der jüngere Sohn sich hängte. „Und du hast mir nie einen Bock gegeben!“ so klagt er an; wenn nicht mal einen Bock, was denn? Am Ende gar nichts? Hat er denn bei seiner Arbeit gedarbt, wie der jüngere Sohn bei den Säuen? Hat der Vater ihm nicht Speise und Trank, Kleidung und Nahrung gegeben? Das Alles heißt bei ihm nicht: gegeben, das ist ihm wohl verdienter Lohn für seine Arbeit, dafür nur karge, zu karge Bezahlung; wenigstens den Bock hätte er noch haben müssen, dass er mit seinen Freunden fröhlich wäre! Gönnt der Vater ihm denn keine Freude? Hat er denn nie Teil nehmen dürfen an den nicht fehlenden Freuden des Vaterhauses? Ist er nicht eben jetzt noch sehr dringend vom Vater eingeladen, vom gemästeten Kalb mitzuessen und sich mitzufreuen? Gewiss, wie immer, so ist ihm auch jetzt sein Plätzchen bereit, wenn er nur kommen will! Aber mit dem Vater und des Vaters Freunden sich zu freuen, das ist ihm keine Freude; ihn verlangt nach andern Freuden mit andern Freunden. Wir tun ihm also kein Unrecht, wenn wir sagen: Der Bock, den er begehrt, steht den Träbern des jüngeren Sohnes gleich, und die Freunde sind um nichts besser, als die Huren, mit denen der Bruder sein Gut verschlungen haben soll; die Sache ist im Grunde, genau besehen, dieselbe, nur der Name verschieden. Da haben wir denn die Selbstgerechten wieder in lebendiger Gestalt vor uns! Alles, was sie aus des Vaters Hand haben, gilt ihnen, auch wenn sie es so heißen und mit dem Munde dafür danken, nicht als Gabe, weil sie nichts von der Gnade des Vaters wissen, sondern nur von ihrem Verdienst, dem mit allen empfangenen Gaben doch immer noch nicht genug geschehe; sie haben, nach ihrem Wahn, immer noch mehr verdient, als sie haben; vor Allem begehren sie Böcke, Freuden außer dem Vaterhaus; denn die Freuden, die des Vaters Gnade in Seinem Sohn Seinen Freunden an Seiner Gnadentafel bereitet, und wozu der Vater auch sie freundlich lädt, sind ihnen keine Freuden; auch ihr Gottesdienst, was sie denn Alles so heißen, ist ihnen keine Lust, sondern eine Last. In Gemeinschaft mit ihren besonderen Freunden, die nicht des Vaters Freunde und Tischgenossen sind, also mit den Kindern der Welt wollen sie sich freuen; Scherze, Narrenteidinge, Lustbarkeiten, die den Christen nicht ziemen, das sind die Freuden, die Träber, nach denen sie verlangt. Nicht wahr? widrige Gestalten diese heuchlerischen Scheinsöhne und Scheintöcher! Es macht keine Freude, sie anzusehen! Aber heilsam ist es, diese verkappten Gestalten entlarvt zu sehen; denn der Pharisäer sitzt mitunter auch noch denen, die ihn schon überwunden zu haben meinen, noch recht tief und verborgen im Herzen. Darum lasst uns der zeichnenden Hand des Herrn weiter mit Aufmerksamkeit folgen! Der ältere Sohn ist mit seiner trotzigen Rede noch nicht am Ende; er fährt fort: „Nun aber dieser dein Sohn gekommen ist!“ „Dieser!“ grade wie das Dieser der Pharisäer und Schriftgelehrten V. 2; mit Verachtung spricht er so; „Dieser!“ damit will er sagen: „Dieser übel berüchtigte, nichtswürdige Herumtreiber! Und Dieser ist von dir aufgenommen als dein Sohn! Am Ende begehrst du wohl, dass ich ihn auch meinen Bruder heißen soll? Nein, daraus wird nichts; dazu halte ich mich denn doch zu gut. Für dich ist er freilich nicht zu schlecht; du hast ihn ja als deinen Sohn aufgenommen; nun, ein sauberer Vater, der solchen sauberen Sohn aufnimmt, wenn er nur kommt!“ Lästert er nicht so? Gewiss, wir haben nichts in seine Worte hineingelegt, sondern nur sie ausgelegt; diese entsetzlichen Lästerungen liegen wirklich in seinen Worten; das macht er selbst uns noch gewisser, wenn wir ihn über den Sohn des Vaters weiter hören: „Der sein Gut mit Huren verschlungen hat!“ Damit will er dem Vater nachdrücklich sagen: „Schämst du dich nicht, dich so wegzuwerfen, einen solchen gemeinen Menschen deinen Sohn zu heißen?“ „Der sein Gut mit Huren verschlungen hat!“ Das ist wohl möglich, doch erzählt uns die Geschichte das nicht; woher weiß es denn der ältere Sohn? Sein arges Herz sagts ihm; er weiß wohl, was er in des Bruders Stelle getan hätte, und auch jetzt noch gerne täte! So richtet und malt er sich wider Willen selbst, indem er den Bruder richten und mit recht starken Farben malen will, um dem Vater das vermeintliche Unrecht recht deutlich zu machen, dass er diesen Verworfenen nicht nur als Sohn aufgenommen, sondern ihm sogar ein Freudenmahl bereitet hat, was er dem Vater aufrückt mit dem Wort: „Hast du ihm ein gemästet Kalb geschlachtet!“ Dem ungerechten faulen Hurenknecht ein gemästet Kalb! Dem gerechten fleißigen Sohn nicht mal einen Bock! Du ungerechter Vater! - Nicht wahr? ein sauberer Sohn dieser ältere? Ganz so murrt er, wie die Pharisäer und Schriftgelehrten vorher: „Dieser nimmt die Sünder an, und isst mit ihnen!“ Wie bei ihnen, so auch bei ihm kein Wort von der Buße, die der Sünder getan hat, von der Umkehr, mit der er von seinen Sündenwegen umgekehrt ist in das Haus des erbarmenden und gerechten Vaters! So hadern die Selbstgerechten, die der Buße nicht zu bedürfen wähnen, mit dem Vater über die Annahme derer, die sie im Gegensatz von sich, den vermeintlich Gerechten, Sünder heißen! Von den begnadigten Sündern sprechen sie immer nur spottend als von den lieben Kindern Gottes; sie wollen sich wohl hüten, diese Brüder zu heißen. Den Armen ist es in ihrer Blindheit verborgen, dass sie die wahrhaftigen Kinder Gottes auch erst dann mit ganzer Wahrheit ihre Brüder würden nennen können, wenn sie selbst zuvor rechte Kinder des Vaters geworden wären, der in Seinem Sohn die Gottlosen gerecht macht. Aber von dieser Gnade, die mächtiger, als die Sünde, die bußfertigen Sünder gerecht macht, haben sie nichts an ihrem Herzen erfahren; deshalb sprechen sie auch nicht von der Gerechtigkeit dieser gerechten Gnadenkinder, sondern immer nur von ihren Sünden; und zwar nicht nur von den Sünden, von denen sie wirklich wissen; nein, da munkeln sie auch sonst von allerlei noch, darin diese lieben Kinder Gottes - so spotten sie! - nicht nur früher sollen gewandelt haben, sondern auch jetzt noch. Mit dem Vater solcher Kinder, mit den Kindern solchen Vaters wollen sie denn natürlich keine Gemeinschaft haben! Die mögen ihr gemästet Kalb an der Gnadentafel allein genießen! Sie bleiben lieber bei den Böcken der Welt, die sie ohne Buße verzehren können!

Wer kann es fassen, dass Er diese Seine Vatergnade schmähenden, wider Ihn trotzenden Sünder nicht nur in Geduld trägt, sondern in Seinem Sohn ihnen auch mit suchender Liebe nachgeht! So hören wir, wenn wir weiter lesen:

V. 31. 32. Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und Alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und gutes Muts sein; denn dieser dein Bruder war tot, und ist wieder lebendig worden; er war verloren, und ist wieder gefunden.

„Mein Sohn!“ so redet der Vater ihn an, obgleich ihm das Herz, der Sinn und der Gehorsam des Kindes fehlt; das ist ja soeben recht offenbar geworden; das musste auch ihm zur Beschämung offenbar werden bei dieser Anrede des Vaters, wenn er noch nicht ganz verstockt war; denn bei dem flüchtigsten Blick auf sich selbst konnte er erkennen: Ich habe mich nicht als Sohn gegen den Vater betragen! Wenn er das aber mit der Scham wahrhaftiger Reue erkannte, so brauchte er nicht zu verzagen, das bezeugte ihm der Vater zugleich in der Vatergnade verheißenden Anrede: „Mein Sohn!“ Von dieser Vatergnade zeugt auch das Wort: „Du bist allezeit bei mir, und Alles, was mein ist, das ist dein!“ Das ist ja sein Rühmen, dass er kein Wegläufer, wie der jüngere Sohn, sondern allezeit bei dem Vater geblieben; da hat er denn täglich erfahren können, dass alle Güter und Freuden des Vaters sein sind, wenn er sie nur in der Sitte und Ordnung des Hauses nach dem Willen des Vaters nehmen will. Und auch jetzt noch ist das Erbe sein, wenn er sich nur unter den Gnadenwillen des Vaters beugen und in die Freude eingehen will, die die Gnade des Vaters bereitet. Seht, so heißt der Vater auch diese Abtrünnigen noch Kinder, wenn Er sie ruft: „So kehrt nun wieder, ihr abtrünnigen Kinder!“5) Indem Er so ihnen, wenn sie umkehren, Seine Vatergnade zusagt, straft Er damit freilich sie zuvor als Abtrünnige, die nur Scheinkinder sind, weil sie nicht in kindlichem Sinn und kindlichem Gehorsam der Liebe vor dem Vater wandeln, nicht als rechte Kinder allezeit bei dem Vater gewesen sind, wie sie zwar rühmen, aber mit falschem Ruhm. Auch für sie gilt freilich das Wort des Vaters an den älteren Sohn: „Du bist allezeit bei mir!“ Sie haben nicht, wie die Genossen des jüngeren Sohnes auch alle äußere Gemeinschaft mit dem Vater abgebrochen; nein, die vielmehr ist da; äußerlich sind sie im Haus des Vaters geblieben; sie kommen unter das Wort, besuchen das heilige Abendmahl, das Gebet ist noch in ihrem Mund; also äußerlich sind sie allezeit bei dem Vater geblieben, aber nicht, wie sie mit falschem Ruhm rühmen, als rechte Kinder, sondern nur als Scheinkinder; denn innerlich sind sie abtrünnig, dem Vater fern und fremd. Bleiben sie diese Scheinkinder, dann werden sie freilich auf ewig enterbt werden, auch äußerlich aus dem Vaterhaus fort und in die ewige Finsternis hinein müssen, wo Heulen und Zähnklappen sein wird. Doch der Vater möchte sie gerne vor dem ewigen Darben, dass die Enterbung über sie bringen wird, bewahren; deshalb bietet Er ihnen noch alle Seine Gnadengüter an, indem er zu ihnen spricht: „Alles, was mein ist, das ist dein!“ Noch ist das Erbe, das ihnen durch das Blut des Sohnes Gottes erworben und in der Taufe beigelegt ist, ihr, weil sie noch nicht auf ewig enterbt sind, sondern noch es ererben können; aber sie können freilich nur dazu gelangen in der Ordnung des Vaters, durch Buße und Glauben; erwerben können sie es nicht, sondern nur ererben; denn hier heißt es: Ohne Verdienst, allein aus Gnaden! Wenn sie deshalb zum Erbe kommen wollen, so müssen sie es lernen, mit den von ihnen als Sündern verachteten, aber vor Gott gerechten Kindern Gottes sich der Gnade zu freuen. Das gibt der Vater dem älteren Sohn auch zu bedenken mit dem Wort: „Du solltest aber fröhlich und gutes Muts sein; denn dieser dein Bruder war tot, und ist wieder lebendig worden; er war verloren, und ist wieder gefunden.“ Das sollte sich freilich von selbst verstehen, dass der Bruder sich über die Errettung des Bruders freute; und wer das nicht tut, der ist gewiss kein rechter Bruder des Bruders, und also auch kein rechter Sohn des Vaters; wer das sein will, muss den als Bruder anerkennen, den der Vater als Sohn anerkennt. Das schärft der Vater dem älteren Sohne ein, wenn er ihm gegenüber von dem jüngeren Sohn nicht sagt: „Dieser mein Sohn!“ sondern: „Dieser dein Bruder!“ Also: „Wenn du mein Sohn sein willst, darfst du dich seiner nicht als deines Bruders schämen; du musst Teil nehmen an meiner Freude über seine Errettung; musst mit hinein in mein Haus, an meinen Tisch, an die Seite deines Bruders, und zwar fröhlich und gutes Muts! Willst du dass aber nicht, nun, dann bleib draußen, und wisse, dass du fortan keinen Teil mehr hast an Allem, was mein ist; dann bist du enterbt!“ - Nicht wahr? fast sollte man meinen, es sei nicht anders möglich, als dass Alle, auch die hoffärtigsten Selbstgerechten, sich freuten, wenn ein Sünder Buße tut, begnadigt und errettet wird. Doch das Zeugnis des Eingeborenen vom Vater, des ganzen Wortes Gottes, der täglichen Erfahrung lehrt uns anders. Wenn ein offenbarer Sünder soweit aus seinem Taumel auf dem Weg der Natur aufwacht, dass er ein ordentlicher Mensch wird, das wird freilich wohl gelobt. Aber wenn ein Sünder nüchtern wird aus dem Strick des Teufels und Buße tut, und von der Gewalt des Satans durch die Gnade zu dem lebendigen Gott bekehrt, durch die Herrlichkeit des Vaters zu dem Leben, das aus Gott ist, erweckt, durch das Blut des Sohnes Gottes gereinigt, durch den Heiligen Geist geheiligt, nun anfängt sich der Gnade zu rühmen, die ihn hoch, hoch über alle vermeintlich Gerechten erhebt, weil er aus Gnaden das ist, was sie nur scheinen, ein Kind Gottes und gerecht, - da bleibt gewiss das Murren und Lästern nicht aus. Ja, ihr, die ihr euch selbst vermesst, fromm zu sein, und die Anderen verachtet, und mit dem Pharisäer sprecht: „Ich danke Dir, Gott, dass ich nicht bin wie andere Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner!“6) ihr müsst herunter von eurer geträumten Höhe! Ihr müsst arme bußfertige Sünder werden, müsst die von euch verachteten Kinder Gottes als Brüder und Schwestern lieben und auf dem Gnadenweg der Buße mit dem dreieinigen Gott und Seinen Kindern euch freuen lernen über jeden Sünder, der Buße tut! Also hinein in die Gemeinschaft der Bußfertigen, als eurer Brüder und Schwestern! Ohne sie als solche anzuerkennen und zu lieben, könnt ihr nicht des Vaters Kinder sein. Denn wider all euer Murren steht fest des Vaters Wort, das Er von jedem bußfertigen Sünder, von jeder bußfertigen Sünderin spricht: „Dieser Mein Sohn! Diese Meine Tochter!“ Da seht denn wohl zu, was ihr in eurem Herzen für eine Antwort habt, wenn der Vater euch fragt: Liebt ihr Meine Söhne und Töchter als eure Brüder und Schwestern? Denn fahrt ihr beharrlich fort, die zu verachten, die der Vater als Seine Kinder liebt, da könnt ihr auch nicht mit ihnen erben, sondern enterbt auf ewig werdet ihr draußen bleiben in Gemeinschaft mit euren unbußfertigen Genossen; und mit den Verzagten, und Ungläubigen, und Gräulichen, und Totschlägern, und Hurern, und Zauberern, und Abgöttischen, und allen Lügnern, wird euer Teil sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt, welches ist der andere Tod.7) Du aber, o Leser, der du zu den hoffärtigen Selbstgerechten gehörst, die der Buße nicht zu bedürfen meinen, damit du vor der Hölle bewahrt werdest, beuge deine Knie im Namen Jesu mit dem Gebet: „Vater, ich bin nicht wert, Dein Sohn zu heißen; aber ziehe mich aus Gnaden durch den Heiligen Geist zu Deinem Sohn, dass ich durch Ihn zu Dir komme und mache mich um Seiner Wunden und Seine Blutes willen zu Deinem Kind, wofür ich mich bisher fälschlich gehalten habe!“ Uns aber, die wir durch die Gnade des dreieinigen Gottes mit der Kindschaft begnadigt sind, lasst uns also loben, danken und bitten:

Gelobet seist Du, Vater unsers Herrn Jesu Christi, dass Du uns Buße und Glauben zum Leben in das Herz gegeben, und durch die Besprengung mit dem Blut Deines Sohnes Jesu Christi uns von unseren Sünden gereinigt, und durch die Heiligung des Heiligen Geistes uns zum Gehorsam gebracht, und nach Deiner großen Barmherzigkeit zu einer lebendigen Hoffnung wiedergeboren hast durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten! Du wollest uns nun auch in Deiner Kindschaft halten, damit uns das unvergängliche und unbefleckte und unverwelkliche Erbe fest bleibe, das behalten wird im Himmel denen, die aus Gottes Macht durch den Glauben bewahrt werden zur Seligkeit! Amen!

1)
Jes. 58,2; Jer. 3,13; 2 Kor. 5,20.
2)
2 Mos. 20,12; 3 Mos. 19,17.
3)
Jes. 64,6.
4)
Luk. 17,10.
5)
Jer. 3,22.
6)
Luk. 18,9-14
7)
Off. Joh. 22,15; 21,8
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