Merle d'Aubigné, Jean Henri - Der Schächer am Kreuz.

Merle d'Aubigné, Jean Henri - Der Schächer am Kreuz.

Predigt über Luc. 23, 39 - 43.

Text: Luc. 23, 39-43.

„Aber der Uebelthäter einer, die da gehenkt waren, lästerte ihn, und sprach: Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns. Da antwortete der andere, strafte ihn und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammniß bist? Und zwar wir sind billig darinnen, denn wir empfangen, was unsere Thaten Werth sind, dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt. Und sprach zu Jesu: Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst. Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“

Meine Brüder!

Die Worte, die ihr so eben vernommen habt, führen uns in einen Tempel ein, in das ehrwürdigste Heiligthum, das je auf Erden stand. Der Hügel Morijah ist des Tempels Grund, seine Decke ist das Himmelsgewölbe, die Kanzel ist ein Kreuz, Christus selbst ist der Prediger, zwei Uebelthäter, mit ihm dem Tode übergeben, sind die zuhörende Gemeinde. Nie sah ein Tempel, nie konnte einer sehen, was dieser Tempel auf Golgatha sah, der von Ewigkeit dazu erwählt und erbaut war, „daß dem Uebertreten gewehrt, die Sünde zugesiegelt, die Missethat versöhnt, und die ewige Gerechtigkeit gebracht, die Geschichte und Weissagungen zugesiegelt, und der Allerheiligste gesalbt werde!“ (Dan. 9,24.) Dort ists geschehen, „daß Güte und Treue einander begegneten, Gerechtigkeit und Friede sich küßten, daß Treue auf der Erde wuchs, und Gerechtigkeit vom Himmel schaute!“ Psalm 8, 11. 12.

Die große Sache selbst, die hier geschah, kann sich in Ewigkeit nicht wieder erneuern. „Einmal, am Ende der Tage, ist Christus erschienen, um durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben.“ (Hebr. 9, 26.) Dennoch geschah auch Etwas in diesem Tempel, was sich in allen christlichen Tempeln wiederholt. Ehe noch der Herr auf Golgatha als Priester und Opfer erschien, war er dort als Prediger der Gnade. Dort redete er als derjenige, der die Pforten des ewigen Paradieses aufthut, und niemand schließt sie zu. Einer der beiden Zuhörer ward bekehrt und errettet, der andre blieb in Unbußfertigkeit und unter seiner Verdammniß. Das war das Ergebniß jener Predigt vom Kreuz, und so oft seit achtzehnhundert Jahren das Wort vom Kreuze verkündigt ward, immer hat es wieder dasselbe Ergebniß gehabt.

Nur von dem ersten jener beiden Zuhörer wollen wir heute zu euch reden. Den Anblick des Schächers, der am Kreuze des Heilandes Buße thut, den möchten wir in dieser Stunde vor eure Seele stellen.

Heilig und feierlich ist alles in dieser Kreuzesgeschichte. Nie ist die Erlösung Jesu Christi in herrlicherer Größe offenbar geworden! Alles gewinnt hier auf Golgatha eine ungemeine Bedeutung. Drei große Gegenstände aber sind es vor allen, die uns der Blick auf den Schächer zeigt: zuerst die Größe unsrer Sünde; dann die Größe der Liebe Christi, und endlich die Größe unserer Verpflichtungen. Werden wir nicht alle hier etwas zu lernen haben? Wird nicht selbst jeder wiedergeborne Christ unter uns die Nothwendigkeit fühlen, in seinem Herzen jene verschiedenen Zustände immer wieder durchzugehen, durch welche der Schächer auf dem Wege seiner Bekehrung hindurchdrang? Muß nicht die schon gerechtfertigte Seele sich immer aufs Neue demüthigen, so oft sie im Lichte des Evangeliums die Größe ihrer Sünde erblickt? Wird sie nicht vor Dank und Freude jauchzen, so oft sie die Größe der Liebe Christi erwägt; wird sie nicht stets wieder von neuem Eifer erglühen, wenn sie die Größe ihrer Verpflichtungen bedenkt!

Geist vom Vater und vom Sohne! Führe uns in diese großen Wahrheiten ein in dieser Stunde, die wir unter dem Kreuze verleben wollen! Das geschehe!

I.

Die Größe der Sünde und des Verderbens der menschlichen Natur ist durchs Evangelium kund geworden. Je mehr eine Kirche diese Größe der Sünde anerkennt, desto mehr ruht sie auf dem Grunde der reinen Wahrheit. Unsre evangelische Kirche sieht die Sündlichkeit des Menschen nicht nur für einen Mangel an, für ein Entbehren des Bildes Gottes, das in dem Sündenfall verloren ward, wie sie die römische Lehre ansieht; sie erkennt, daß etwas wirklich Böses in dem Menschen vorhanden sei, eine neue, sündliche Grundrichtung unseres Herzens, die seit dem Fall das ganze Wesen des Menschen durchdrungen, und seine Natur gänzlich verderbt hat. Sie hält nicht dafür, daß dies Verderben ein solches sei, wobei der Mensch dennoch sich in freier Selbstbestimmung zum Guten hinneigen, sich zum Guten bereit machen könne, sie glaubt vielmehr, daß das erste Verlangen nach Erlösung, der erste Schritt auf dem Wege zu Christo, das erste Begehren, des ewigen Lebens theilhaftig zu werden, eben so ein Werk der göttlichen Gnade sei, als der vollkommene Genuß des Heils.

Doch, damit ist noch wenig gewonnen, daß eine Kirche die Wahrheit in ihrer ganzen Reinheit lehrt, wenn nicht zugleich auch jeder, der ein Glied derselben ist, diese Wahrheit an sich selbst erfahren hat. Habt ihr, theure Zuhörer, die Größe der Sünde schon erkannt in eurem eigenen Leben, in eurem Willen, in euren Herzen? - Ists nicht also, daß selbst erleuchtete Christen leicht den Felsen vergessen, aus dem sie gehauen sind, (Jes. 51, 1.) und das natürliche Verderben ihres Herzens gerne mit einem Schleier bedecken? Wollte Gott, es ertönte in unsrer Mitte häufiger jener Angstruf, den einst einer der treuesten Diener unsers Gottes in der Zelle seines Klosters unter Seufzen und Thränen ausstieß: „O meine Sünde! meine Sünde! meine Sünde!“1)

Gerne wollen wir euch zugestehen, daß nicht alle Menschen in gleichem Maaße strafbar erscheinen, wir wollen es zugeben, daß vor den Augen der Welt kein Einziger unter uns ein solcher Verbrecher sei, als der Uebelthäter in unserm Texte: aber das behaupten wir, daß die Sünde dennoch in uns allen furchtbar groß sei, ja groß genug, um uns auf ewig auszuschließen von aller Gemeinschaft mir Gott im Himmel!

Es waren drei verschiedene Statten, an denen der Schächer die Größe seiner Sünde las, - dreifach ist auch die Stätte, an der wir die Größe unserer Sünde erkennen sollen.

Der Schächer findet sie zuerst in seinem Gewissen. Das Gewissen wacht auf, es redet, es mahnt ihn an seine Sünde, und er ruft: „Wir empfangen, was unsre Thaten werth sind!“ (V.41.) Lerne dort auch deine Sünde erkennen! Leihe, ich bitte dich, den beiden Stimmen ein aufmerksames Ohr, die dein Gewissen dich hören läßt; der einen, die dir sagst, was du hättest thun sollen, und der andern, die dich an das erinnert, was du gethan hast; der einen, die zu dir redet von der Gerechtigkeit, von der Wahrheit, von der Liebe zu Gott, von Barmherzigkeit, von Sanftmuth, von Demuth, von Selbstverleugnung, von Keuschheit, von Aufopferung für Andere; und der andern, die dir sagt: von dem Allen hast du nichts gethan! Du hast das heilige Gebot Gottes in keinem Stücke erfüllt! - Gottesvergessenheit, Ungerechtigkeit, Lüge, Härte, Stolz, Wollust, Unreinigkeit, Zorn, Untreue in allen deinen Pflichten, Vergötterung deiner selbst, - siehe da, das Innerste deiner Natur, und das Bild deines Lebens! O steige nur einmal mit dem Schächer hinab in die Tiefen deines Gewissens, und jene Sünde, die dir bei dem äußern Ueberblicke deines Lebens so geringe schien, wird dir alsdann in ihrer wahren Größe offenbar werden, sie wird dich mit Scham erfüllen und mit dem Bewußtsein, daß du der Verdammniß werth seist!

Das hatte der Schächer in seinem Gewissen gelesen, nun hub er seine Augen auf und blickte gen Himmel, und las auch dort ein Urtheil Gottes wider ihn. „Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott!“ sprach er V.40. Auf das Urtheil der Verdammniß, das Gott in seinem Worte wider die Sünde ausgesprochen hat, müssen wir hinblicken, um die Größe unserer Sünde zu begreifen. Was ist's, das Gott von der Sünde bezeugt, die in uns ist? - Er sagt: „der Tod ist der Sünde Sold!“ (Röm. 6, 23.) „Welche Seele sündigt: die soll sterben!“ (Ezech. 18, 20.) Was muß die Sünde in Gottes Augen sein, wenn er nach seiner Gerechtigkeit es recht findet, sie mit dem ewigen Tode zu strafen? - An der Größe der Strafe ermesset die Größe der Missethat, und der Fluch, mit dem das Buch des Gesetzes besiegelt ist, mag es uns lehren, wie schwer unsre Uebertretung sei! Aber sprichst du, mit solchem Maasstabe kann ich nicht messen, ich kann es nicht fassen, daß die Sünde in diesem kurzen Leben begangen, wirklich in der Ewigkeit und durch alle Ewigkeit hindurch bestraft werden solle.„ Du kannst es nicht fassen? - Aber mein Bruder, wenn das, was dir übertrieben und vergrößert zu sein scheint, die klaren Aussprüche des Wortes Gottes sind, willst du es wagen, dich gegen Gottes Gerechtigkeit und gegen das Urtheil des Gesetzes zu erheben, ehe du zuvor alle Tiefen der Gottheit und alle Geheimnisse seines herrlichen Reiches erforscht hast? - Denn wie mag man urtheilen über Dinge, die uns unbegreiflich sind! Hast du erst die Weisheit erlangt, daß du die Wege dessen richten kannst, dessen Wege nicht unsere Wege sind, daß du all das Unheil erkennest, das in der Sünde verborgen liegt, daß du mit Gewißheit zu behaupten vermagst, es erwachse für die ganze Schöpfung kein Schade daraus, wenn der Herr des Weltalls seine heiligen Gebote ungestraft übertreten lasse; - hast du diese Weisheit erlangt, dann lieber Zuhörer, richte, wenn du willst, die göttliche Gerechtigkeit, dann setze dein Unheil dem Urtheil des Allmächtigen entgegen, dann heiße deinen Richter von seinem Richterstuhle herabsteigen, und setze du dich, dich selbst an seine Stelle.

„Wer ist, der so fehlet in der Weisheit, und redet so mit Unverstand!“ spricht der ewige Gott (Hiob 38, 2.) „Solltest du mein Urtheil zu nichte machen, und mich verdammen, daß du gerecht seist!“ (Hiob 40, 3.) „Ach Herr ich habe unweislich geredet, was mir zu hoch ist und ich nicht verstehe! (Hiob 42, 3.)

Aber bedurfte es selbst dieses Blickes in die Höhe des Himmels hinauf oder in die Tiefe des Herzens hinab? Zu seiner Seite hört der Schächer noch eine andere Stimme erschallen, die ihm lauter als alle übrigen seine Sünde bezeugt. Es scheint nicht, daß dieser Missethäter irgend eine wahre Reue gefühlt habe, ehe er ans Kreuz geschlagen ward. Aber seit er dort hängt, neben dem gekreuzigten Herrn, seit er Zeuge ist seiner Sanftmuth und Geduld mitten unter den Qualen, seit er hört, wie er erbarmungsvoll für seine Mörder zum Vater bittet: welch ein ganz neues Licht geht da in seiner Seele auf! - Der, der hier zu seiner Seite ans Kreuz erhöht ist, den er so oft zu seinem Volke von nie erhörten Dingen zeugen hörte, - sollte er nicht wirklich der sein, auf den die Propheten weissagend hingewiesen haben, von dem Jesaias predigt: daß er unter die Uebelthäter werde gerechnet werden? - sollte es nicht der Heilige in Israel selbst sein! Dieser Gedanke erschüttert ihn, die Unschuld Christi ist eine Anklage wider ihn, an der Seite eines so reinen, heiligen Wesens fühlt er sich um. so unreiner und befleckter, das Bewußtsein aller seiner Sünde wacht aufs Neue in seiner Seele auf, sie beugt, sie verdammet ihn. „Dieser“ ruft er „hat nichts Ungeschicktes gehandelt. Wir aber, wir sind billig darin, wir empfangen, was unsere Thaten werth sind!“ (B. 41.)

O ihr, für die Gott seinen Sohn dahingab, und die er entweder noch zu dieser Erkenntniß führen, oder in diesem Glauben stärken will, sehet, es ist Christi Tod vor Allem, der uns die Größe unsrer Sünden erkennen lehrt! Ermesset die Größe der Schuld an der Größe des Preises, durch den sie bezahlt ward! Mußte nicht das Verderben, in das unsre Sünde uns hinabgestürzt hatte, sehr tief sein, da der Herr, der allmächtige Gott, ein so wunderbares Mittel anwandte, uns daraus zu erretten? - Mußte nicht unsre Sünde unendlich und die Strafe derselben unendlich sein, weil der Unendliche selbst es auf sich nahm, sie zu versühnen? - Kommt, ihr unbußfertigen Herzen, kommt, tretet unter das Kreuz auf Golgatha! Wer hat es aufgerichtet an dieser Stätte des Fluchs? - Eure Sünde! - Was macht dies göttliche Antlitz so erbleichen? Eure Sünde! - Was führt diese heil. Seele in den bittern Todeskampf? - Eure Sünde! Und diese Sünde, die in dieser Stunde der Finsterniß so unbeschreiblich groß ist, kann sie je in euern Augen wieder klein werden? Müßt ihr nicht immer wieder im Lichte dieses Kreuzes von Neuem die Größe eures Verderbens erkennen! -

II.

Ist aber eine richtige Vorstellung von der Größe unsrer Sünde so unerläßlich wichtig für uns, so ist eine wahre Erkenntniß von der Größe der Liebe Christi uns nicht weniger unentbehrlich. Jede Lehre, die die Sünde verkleinert, verkleinert auch die Gnade Jesu Christi. Ist der Schade unbedeutend, so ist auch die Rettung unbedeutend, aber je größer das Uebel, desto größer der, der daraus erlöst. Die da meinen, die natürlichen Kräfte des Menschen zum Gutesthun seien nicht gänzlich durch den Fall eingebüßt, halten auch dafür, diese Kräfte könnten und sollten etwas dazu beitragen, um den Menschen wieder herzustellen und zur Gnade Gottes zu führen. Dann aber ist Jesus nicht mehr der Heiland, er ist nur ein Helfer; denn ein Helfer unterstützt den, der selbst noch einige Kraft besitzt, ein Heiland aber kommt, „zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ (Luc. 19, 10.) Unsre Kirche bekennt sich laut zu der vollen Größe des Werks und der Liebe Christi! Sie spricht es entschieden aus, daß Gott allein es sei, von dem unsre Rechtfertigung ausgehe, sie findet den Grund derselben allein in dem Verdienste Christi, ohne irgend ein Verdienst des Menschen damit zu vermischen, - so daß, wenn Gott das ewige Leben gibt, er damit dem Sünder, dem er nichts schuldig ist, als Verdammniß und Tod, ein freies Geschenk seiner Gnade darreicht! Das soll euch, meine Brüder, der errettete Schächer zeigen, er soll Euch die ganze Größe und Macht der Liebe Christi offenbaren, mit welcher er die durch die Sünde verlornen Seelen selig macht. Der Schächer ist seiner Sünden überführt, er weiß es, daß nichts Gutes in ihm ist, aber er glaubt es, daß Jesus, der hier am Kreuze sterbend hängt, hingeht, das Reich einzunehmen, das dem Messias verheißen war. Er bittet ihn nicht, ihn für diese Welt zu erretten, ihn diesem vergänglichen Leben und seinen trügerischen Reizen wieder zu geben; aber er hat volle Zuversicht zu ihm, daß er ihn erlösen werde von dem zukünftigen Zorn. Er wendet sein Haupt zu ihm, er richtet den Blick der Bewunderung und des Glaubens auf sein Kreuz und ruft: „Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ (V. 42.) und die Antwort ist das große Wort des Heils: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein!“ (V. 43.)

Vielleicht, mein Bruder, hast du schon oft gesagt: Wenn meine Sünde so groß ist, wer wird mich davon erlösen? Je mehr mir die Größe derselben vorgehalten wird, um desto mehr vergrößert sich mein Elend. Es drängt mich von allen Seiten, es wirft mich nieder, - wo ist die Macht, die noch aus solcher Noth erretten kann? -

Geliebte Brüder, das Heil, das dem Schächer widerfuhr, ist genugsam, um auch Eure Herzen mit Zuversicht zu erfüllen zu der Macht und Gnade des Heilandes.

Denn sehet, wie rettet Christus den Schächer? - Er allein rettet ihn! Keiner ist zugegen, der ihm helfe, diese Seele zu erretten. Beide, der Eine wie der Andere von der Erde erhöht, sind allein, von den Menschen getrennt, verlassen, ausgestoßen von allen. Dort ist kein Priester, der für den Schächer ein Opfer darbrächte, kein Beichtvater, der sein Bekenntniß annähme, kein Sakrament, um ihn dadurch loszusprechen, keine Arme und Hilfsbedürftige, durch deren Unterstützung er sich den Trost bereiten könne, seine Seele um Almosen erkauft zu haben. - Kein Mensch ist zugegen, nichts von dem Allen, Christus und der Schächer, der Schächer und Christus, sonst Niemand! Kein Priester, kein Beichtvater, als Christus, kein Sakrament als sein Leib, für uns gebrochen, Kein Armer, kein Hülfsbedürftiger, als der Schuldbeladene selbst, der die Gnade des Herrn begehrt. Christus allein blickt diese Seele an und macht sie selig! Ist das nicht ein Beweis von der großen Macht dessen, der das vollbringt? Kannst du noch Bedenken tragen, dich dem in die Arme zu werfen, der solche Kraft offenbart? - Aber nicht nur vermag er allein zu retten, mehr noch, er rettet nur da, wo er alleine ist. Will man ihm helfen und zu seiner Seligkeit selbst etwas beitragen, so zieht er sich zurück. Dies, sein Werk will er mit Keinem theilen. Achte darauf wohl: willst du zu ihm gehen, so verzichte auf jedes andere Heil, Hoffest du etwa, deine Buße, deine guten Vorsätze, dein aufrichtiges Verlangen möchte in Verbindung mit dem Verdienste Christi deine Rechtfertigung bewirken? - Freilich, man. wird nicht selig ohne Buße, ohne guten Vorsätze: aber du weißt noch nicht, was Buße ist, wenn du aus ihr ein Verdienst machst! Und was deine guten Vorsätze anbetrifft, - ach, wir sind nicht tüchtig etwas Gutes zu denken, als ans uns selbst, spricht Paulus. Der Herr allein macht selig, ohne einen Genossen, ohne Gehülfen. „Ich, ich bin der Herr,“ spricht er „und ist außer mir kein Heiland!“ (Jes. 43, „Ich trete die Kelter allein, und ist niemand unter den Völkern bei mir!“ (Jes. 63, 3.) Siehe das ist die Weise, wie Jesus errettet! -

Aber wann rettet er? In was für einem Augenblicke erlöst er die Seele dieses Uebelthäters von der Verdammniß und vom Tode? - Der Herr war bis zur tiefsten Schwachheit erniedrigt, seine Schmerzen hatten die größte Höhe erreicht, der Kelch seiner Leiden war voll und floß über. Seine Feinde sprachen höhnend: Er kann ihm selbst nicht helfen! Engel wandten ihr Antlitz ab, um nicht Zeugen des furchtbaren Geheimnisses zu sein. Das Wort der alten Weissagung ward erfüllt: Ich bin ein Wurm, und kein Mensch! (Ps. 22, 6.) Und siehe, - in dieser tiefsten Tiefe der Leiden offenbart der Herr die ganze Fülle seiner Macht. Er erlöset eine Seele vom ewigen Tode in eben dem Augenblicke, in dem er selbst in den Tod hinabsinkt; er thut seine Macht und Herrlichkeit kund, während Schmach und Verachtung ihn aufs tiefste erniedrigen! Schon ersterben seine Lippen, und doch bekehrt sein Wort noch ein Menschenherz; seine Arme sind durchbohrt und angeheftet, und dennoch trägt seine Macht eine Seele aus dem Reich der Finsterniß hinüber in das Reich des Lichts! Vom Fluchholze herab verkündigt er Vergebung der Sünde; an der Schwelle des Todes theilt er Leben aus; auf der Richtstätte verheißt er ein Königreich! Und warum das? Wie die Schrift sagt: „zum Exempel denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben,“ (1. Tim. 1, 16.), um den bußfertigen Sündern aller Zeiten die Siegergewalt seiner Barmherzigkeit, die Kraft seines Blutes, die Allmacht seiner rettenden Arme zu zeigen. Sehet da die Macht, zu der wir uns wenden sollen, um selig zu sein.

Hat er so große Dinge vollbracht in den Tagen seiner Erniedrigung, was wird er nicht jetzt thun, am Tage seiner Erhöhung!

Hat er solche Triumphe errungen in den Tagen seiner Schmach - was wird er nicht jetzt vermögen am Tage seiner Herrlichkeit! der, der hier vor unsern Augen am Kreuze hängt, „den hat Gott durch seine rechte Hand erhöhet zu einem Fürsten und Heiland, zu geben Israel durch ihn Buße und Vergebung der Sünden.“ (Apg. 5, 31.)

Und wen rettet er in dieser Stunde seiner Niedrigkeit und Verachtung? Um die Größe seiner Macht und seiner Gnade desto herrlicher zu offenbaren, rettet er einen Schächer; - einen Menschen, der nicht nur ein Sünder vor Gott ist, wie alle Menschen, einen Uebertreter auch der menschlichen Gesetze, einen Sünder, den auch die Sünder verdammen und von sich ausstoßen, einen Räuber vielleicht oder einen Mörder. Jesus neigt den Scepter seiner Gnade ihm entgegen, und erlöset ihn. Er gibt ihm das Wollen, er gibt ihm das Vollbringen nach seinem Wohlgefallen. (Phil. 2, 18.) Nun, meine Brüder, wenn Christus Macht bat, solche Menschen zu erlösen, wird er nicht auch die andern selig machen? Kein Sünder unter dem Himmel ist so verhärtet, den er unrettbar aufgeben müßte; - kein Feuerbrand so sehr von der Flamme ergriffen und verzehrt, den er nicht aus dem Feuer ziehen könne, keine Seele ist so verfinstert, die er nicht, wenn es ihm gefällt, in einem Augenblick erleuchten, kein Herz so hart, das er nicht alsbald erweichen; kein Geist so stolz, den er nicht sofort demüthigen, keine Einbildungskraft so beschmutzt, die er nicht augenblicklich reinigen könne! Aus welchem Verderben sollte dieser Heiland nicht erlösen? - Die Geschichte am Kreuz ist den Sündern Bürgschaft und Beweis dafür. Wer wollte fern von ihm bleiben, zweifelnd an der Größe seiner Macht und an der Gnade seines Erbarmens? O Liebe Jesu Christi, die alle Erkenntniß übersteigt, o ewiges Heil, das nicht an Jemandes Wollen und Laufen liegt, sondern an Gottes Erbarmen! Der Schächer am Kreuz ist der große Erweis der freien Gnade. Das reicht hin, um dem hartnäckigsten Unglauben zu zeigen, daß „Gott uns selig mache, nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Vorsatz und Gnade, die uns gegeben ist in Christo Jesu vor der Zeit der Welt.“ (2. Tim. 1, 11.) Das lehrt, daß Jesus der Anfang und das Ende, A und O des Heils seines Volkes ist. Ja, „die er verordnet hat, die hat er auch berufen, welche er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht, welche er aber hat gerecht gemacht, die hat er auch herrlich gemacht“ (Röm. 8, 30.) „Nach der Kraft die in uns wirket, kann er überschwenglich thun, über alles, was wir bitten und verstehen;“ (Eph. 3,2S.) „Das ist je gewißlich wahr, und ein theuer werthes Wort, daß Christus Jesus gekommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen, und auch die Vornehmsten unter den Sündern!“ (1. Tim. 1, 15.)

Je größer aber das Heil ist, um so größer sind die Verpflichtungen, die daraus für uns hervorgehen. Jene Lehre, die die Erlösung halb dem Menschen und halb Christo zuschreibt, macht den Menschen nicht völlig los von sich selbst, um ihn ganz und allein an Christum zu binden; der Mensch bleibt immer noch sein eigener Götze. Er hat nach diesen eiteln Meinungen wenige Verpflichtungen gegen Gott. Um seiner selbst willen soll er gute Werke vollbringen, um sich selbst zu erlösen, nicht aus Dankbarkeit gegen den, der ihn erlöst hat. Aber nach den Lehren des Evangeliums ist die Sünde groß, und die Erlösung ist groß, und darum sind auch die Verpflichtungen groß.

Doch, möchte man sagen, der Schächer wenigstens kann uns in diesem Falle nichts lehren. Er kann ja keine Verpflichtungen erfüllen, nichts mehr vollbringen, er hat nur noch einen Augenblick zu leben. Er also macht hier eine Ausnahme. Mag er ein Beispiel der Gnade sein - er ist kein Exempel der Heiligung. Wahr ists, meine Br., er hatte nur einen Augenblick zu leben. Er konnte nicht wieder von seinem Kreuze herabsteigen, um mit einem neuen Wandel in guten Werken unter den Menschen seinen Glauben zu erweisen. Ihm blieb nur ein Augenblick; - aber, die ihr meint, von ihm nichts mehr lernen zu können, sehet ihn an, wer er war, in diesem Augenblicke. Was ihr vielleicht nicht gewesen seid in den Augenblicken, Stunden, Wochen, Monaten, Jahren, die seit eurer Bekehrung verflossen sind. Kommt, die ihr vielleicht so heilig, so gefördert in euern Augen seid, kommt, lernt an einem Schächer, nicht nur was Gnade, sondern auch was Heiligung sei.

Sehet, welche Furcht Gottes bei diesem Uebelthäter! Er bekennt seine Sünde, er gibt Gott die Ehre, er kann kein Wort mehr ertragen, das die höchste Majestät verletzt, und ganz erfüllt von dem Gedanken, bald vor ihr zu erscheinen, ruft er dem Geführten seiner Verbrechen zu: „Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott!“ (V. 40.) Wo aber findet sich in euerm Herzen solche Furcht vor Gott, solch heiliger Schrecken, ihn zu beleidigen oder von Andern ihn beleidigen zu sehen durch That und Wort? Seid ihr auch so ununterbrochen in seiner Nähe, als dieser Schächer an Kreuz? Habt ihr auch wie dieser Uebelthäter Abscheu vor der geringsten Sünde? - - Lernt von einem Schächer die Größe eurer Verpflichtungen, und werdet seine Nachfolger! -

Seht, welch eine Geduld mitten unter seinen Schmerzen! Alles Leiden der Kreuzesstrafe trifft ihn, aber er läßt keine Klage hören. Er bekennt vielmehr, daß er alle diese Qualen verdient habe. „Ich empfange“ spricht er, „was meine Thaten werth sind!“ (V. 41.) Habt auch Ihr, Christen, Eure Leiden, Eure Prüfungen, Eure schmerzlichen Verleugnungen ebenso erduldet? War nicht oft ein geringer Schmerz und eine leichte Trübsal groß genug, daß Ungeduld sich Eurer bemächtigte und Ihr Euch der Bitterkeit und dem Knurren hingabt? Habt Ihr stets die Hand geküßt, die Euch schlug? Habt Ihr nicht vielmehr durch Euren Unmuth und durch Euer Seufzen euch bitter über sie beklagt? Konntet ihr auch wie dieser Uebelthäter, im Sturme der Leiden ausrufen: „Er ist der Herr!“ Lernet von einem Schächer die Größe Eurer Verpflichtung und werdet seine Nachfolger! -

Seht, welch eine Liebe zum Heilande, welch ein Eifer für seine Ehre! Als alle den Herrn anklagen, übernimmt er allein seine Vertheidigung. Während einer seiner Jünger ihn verräth, der andere ihn verleugnet, alle ihn verlassen haben, während Johannes selbst am Fuße des Kreuzes nur weinen kann, während die Priester ihn zum Tode verurtheilt, die Heiden ihn aus Holz erhöht haben und Israel ihn mit Schmach überhäuft: bekennt ihn dieser Schächer, er allein in der ganzen Welt, für den Sohn Gottes, für den Fürsten des Lebens, für den König des Himmelreichs. In ihm allein besteht in diesem Augenblick die ganze Kirche. Er allein auf der ganzen Erde preist ihn, Gott, geoffenbart im Fleisch. Habt ihr je, Mitchristen, von einem ähnlichen Eifer für die Ehre Christi gehört? Nichts konnte den Mund dieses Uebelthäters schließen, und ach, um den Einigen zu schließen, bedurfte es oft nur einer geringen Kleinigkeit! - Bekennt auch ihr, wie jener, Christum vor den Menschen? Würdet ihr ihn auch, wie dieser Schächer, da noch bekennen, wo alle ihn verließen? Lernet von einem Mörder die Größe eurer Verpflichtung, und werdet seine Nachfolger! -

Seht, welche Bruderliebe! Voll liebender Sorge um die Seele des andern Uebelthäters, spricht er mitleidig zu ihm, bittet ihn, nicht weiter zu lästern, und weist ihn mit Sanftmuth auf die Furcht Gottes hin. Er war der Gefährte seiner Verbrechen gewesen, wie wünscht er nun, daß er auch Mitgenosse seiner Seligkeit werde. Jünger Christi, habt ihr je eine Seele so geliebt? Habt ihr je daran gedacht, die zu unterweisen und aus der Sünde zurückzuführen, die einst die Genossen eurer weltlichen Lüste waren? Liebt ihr die in Christi Liebe, die ihr sonst nur nach dem Fleische geliebt habt? Seid ihr nicht gewöhnlich gleichgültig gegen die, die sich ins Verderben stürzen? Versäumt ihr nicht in dieser Hinsicht eure Pflichten selbst gegen die Glieder eurer Familie und eures Hauses? Habt ihr die herzliche Barmherzigkeit dieses Uebelthäters! Lernet von einem Schächer die Größe eurer Verpflichtung und werdet seine Nachfolger! -

Ehe noch die Sonne am Himmel untergegangen war, hatte die Seele dieses bekehrten Sünders sich von ihrem sterblichen Leibe losgerissen, und war mit Christo eingegangen ins Paradies. - Wann wird über dir zum letztenmale die Sonne, die deinem Erdenleben leuchtete, untergehen, mein Zuhörer? Die beste Antwort, die dir geben kannst, ist die, daß weder du, noch ich es wissen. Es ist wahr, ich weiß es nicht und du weißt es auch nicht; aber eben darum bitte ich dich dringend, alsbald und heute noch zu fragen, ob du die Seligkeit des Schächers gefunden habest, ob du gewiß seist, daß Jesus deiner gedenke in seinem Reich und ob du die Hoffnung habest, daß er zu dir einst spricht: du wirst mit mir im Paradiese sein! -

Vielleicht sagst du, das soll mein Geschäft sein in meiner letzten Lebenszeit, auf meinem Sterbebette, wenn mir zum letzten Male die Sonne scheint. Und weißt du auch, ob nicht Morgen schon der letzte Tag deines Lebens sein wird, ob nicht das Lager, auf dem du heute Abend deine Glieder ausstreckest, dein Sterbebette sein wird, und ob nicht die Sonne, die jetzt scheint, dir zum letztenmal leuchtet? - Darum, heute! denn Morgen ist vielleicht keine Zeit mehr für dich! „Heute, so ihr des Herrn Stimme hört, verstocket eure Herzen nicht.“ (Hebr. 3, 15.)

Herr Jesu! der du zum Zeichen deines Sieges mit dir in den Himmel nahmst die Seele eines Missethäters, unter welche du selbst gerechnet sein wolltest; breite du über diese Versammlung von Sündern deine starken Arme aus, und rette eine Seele vom Tode, und bedecke durch dein theures Blut die Menge ihrer Sünde! Amen! Amen!

Quelle: Fliedner, Theodor - Ein Herr, ein Glaube

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Luther in Erfurt
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