Lobstein, Friedrich - Die letzten Worte - XVI. Was ist fester als die Berge?
Jesaias 54, 10.
Enthielte die ganze Heilige Schrift nur diese einzige Verheißung, so könnte man dafür schon ein ganzes Leben in dankbarer Anbetung zubringen. So gibt es denn Etwas, das fester ist als die Berge. Etwas, das uns nicht im Stiche lässt, wenn Alles sich bewegt und uns verlässt. Es zeigt uns der Prophet die Unveränderlichkeit der Gnade Gottes; er zeigt sie dem jüdischen Volke, der zukünftigen Kirche des Herrn, jeder einzelnen Seele, welche sich in Betrübnis und Unruhe hin- und hergeworfen sieht. Vielleicht gehört unser Text zu jenen Stellen der Schrift, über die man nicht predigen sollte; es gibt solche Worte, die nur in gesammeltem Gemüte schweigend betrachtet werden sollten; sie verlieren durch lange Reden, wie ein Wohlgeruch in offener Luft verdunstet. Allein andererseits kennen so viele Christen ihre Reichtümer nicht; man muss sie ihnen zeigen; ihnen ins Gedächtnis rufen, was Gott ihnen gegeben hat, was ihnen unentgeltlich zu Gebote steht und was besser ist, als die ganze Welt; und aus der Stelle, welche gewöhnlich die Verheißungen Gottes einnehmen, zeigen, dass sie besonders auf unsere Zustände von Trostlosigkeit und Leerheit abzielen.
In dem Kapitel des Jesaias, welches wir vor uns haben, schaut der Prophet im Geiste die Gefangenschaft und Schmach seines Volkes. Was lässt sich von diesem in ein feindliches Land gewiesenen Volke erwarten? Einmal unter den Heiden zerstreut, wird es nicht die Erkenntnis des lebendigen Gottes, samt seiner Nationalität verlieren? Wird Israel noch auf eine Zukunft, auf einen Befreier hoffen können? Es hat seine Erniedrigung verdient; seine ganze Geschichte erzählt von einer langen Undankbarkeit; allein: „Mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln; ich habe mein Angesicht im Augenblicke des Zornes ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich dein erbarmen.“ Er wird das Lösegeld für seine Gefangenen zahlen; „die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und gen Zion kommen mit Jauchzen; sie werden ihre Schmach und die Schande ihrer Witwenschaft vergessen.“ Wie die Sündflut, welche die Erde bedeckte, Noah und seine Familie nicht erreichte, so hat Gott geschworen, „dass er sein Volk nicht verstoße, noch sein Erbe verlasse.“ In solchem Augenblicke, wenn Gottes Güte bestürzt macht und man sagen möchte: „Geh' aus von mir, Herr, denn ich bin ein sündiger Mensch,“ hat Gott die Verheißung erschallen lassen: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“
In dieser Verheißung liegt ein schlagender Kontrast zwischen der Wandelbarkeit der Dinge dieser Welt und der Unveränderlichkeit der göttlichen Dinge. Wir sehen hier, „was fester ist als die Berge“ und zugleich, wie wir zu dieser festen Stellung gelangen können.
Hienieden wanken und bewegen sich die festesten Dinge. „Es ist ein Tag gesetzt gegen alle hohen Berge und erhabenen Hügel, gegen die Zedern Libanons, gegen die Eichen Basans, gegen jeglichen hohen Turm und feste Mauer; was sich erhöht, wird erniedrigt werden,“ die Geschichte der Welt spricht nur von Trümmern. Es sind „die Berge“ in dem Munde des Propheten die Reiche der Erde. Hier fällt uns der Koloss ein, den Nebukadnezar im Traume gesehen hatte, „die Bildsäule, deren Kopf aus Gold, deren Brust und Arme aus Silber, deren Bauch und Seiten aus Erz, deren Beine aus Eisen, deren Füße teils aus Eisen, teils aus Ton waren.“ Während Nebukadnezar diesen Koloss betrachtete, löste sich ein Stein von dem Berge ohne Menschenhand und fiel auf ihn und zerbrach ihn. Da wurden mit einander zermalmt das Eisen, Ton, Erz, Silber und Gold und wurden wie Spreu auf der Sommertenne, und der Wind verwehte sie, dass man sie nirgends mehr finden konnte; der Stein aber, der das Bild schlug, ward ein großer Berg, dass er die ganze Welt füllte. Solch ein Ende haben die größten Reiche der Welt genommen. Die Macht Babylons wich vor derjenigen der Meder und Perser; dieses wurde durch das Reich der Makedonier gestürzt; dieses dritte unterlag der eisernen Rute der Römer; das römische Reich selbst konnte „dem Stein“ nicht widerstehen, der sich „ohne Menschenhand von dem Berge gelöst hatte.“ Das Reich Gottes allein besteht und überlebt alle Trümmer. Sein Reich ist ein ewiges Reich und seine Herrschaft währt für und für. Kommt her und schaut die Werke des Herrn, der auf Erden solches Zerstören anrichtet, der den Kriegen steuert in aller Welt, der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt. Seid stille und erkennt, dass ich Gott bin; ich will Ehre einlegen unter den Heiden, ich will Ehre einlegen auf Erden.
„Der Stein“ hat sich abgelöst ohne Menschenhand. Gott gibt seine Ehre keinem Andern „und Gott zerstört auch nicht wie ein Anderer.“ Seine Waffen sind geistliche Waffen; „er schickt sein Wort“ und die Festungen sinken. Der Stein, welcher vom Berge fällt, ist das Evangelium, welches auf die Völker fällt und ihre Schicksale umwandelt; wenn Gott Großes wirkt, so geschieht es nicht „durch Kraft, noch durch Heeresmacht, sondern durch seinen Geist.“ Sein Wort bewegt die Berge und erschüttert die Hügel. Rosse helfen euch nicht und ihre große Stärke rettet nicht; darum verlasst euch auf den Herrn ewig, denn Gott der Herr ist ein Fels ewig.
Und was im Großen wahr ist, ist wahr im Kleinen. Gott erniedrigt den Einen und erhöht den Andern; er führt ins Grab und führt wieder daraus. Aber solche Erhöhungen und Erniedrigungen, solche Erschütterungen des Lebens und der Welt sind nur verschiedene Gestalten der Güte Gottes und jener Gnade, „welche fester ist als die Berge.“ Wandelt im Glauben, und ihr werdet erfahren, dass es eine Güte gibt, welche nicht weicht, und einen Bund des Friedens, der nicht hinfällt. Es ist die Gnade Gottes unveränderlich, und wir erkennen sie an zwei Zeichen, wenn er uns demütigt und wenn er uns erhöht.
Wie demütigt uns Gott? Er lässt vielleicht unser äußeres Leben unberührt und richtet sich nur an unser Gewissen. Er demütigt uns schon, wenn er uns unsern geistlichen Tod fühlbar macht; diese einzige Demütigung könnte hinreichend sein, denn sie enthält alle andern. Ohne Gott durchs Leben hingehen, ist eine fried- und freudelose Sache, wo man sich ohne Kraft und sich selbst überlassen sieht. Gibt es aber eine größere, schmerzlichere Demütigung, als sich. in einer solchen Lage zu sehen, ohne sich daraus retten zu können? Zu diesem allgemeinen Zustand können noch besondere Leiden hinzukommen. Wir können durch irgendeine besondere Sünde beherrscht werden, welche uns bedrängt und von der wir uns nicht frei zu machen vermögen. Das Böse hat solch tiefe Wurzeln in uns, und eine einzige bittere Wurzel reicht hin, um Alles zu vergiften. Ja, man kann sagen, dass je weiter die Bekehrung voranschreitet, desto zahlreicher werden die Demütigungen. Der Geist Gottes enthüllt uns eine Menge von Dingen, welche durch seine Zucht zu ebenso vielen Qualen werden. Nur zu wahr ist es, dass „sobald Gott einen Menschen züchtigt und ihn straft um seiner Sünde willen, so vergeht seine Schöne, wie Motten.“ Diese Demütigungen aber sind der Beweis einer unveränderlichen Güte. Nur aus Gnade wird unser Elend uns aufgedeckt, und wie sie in diesem ersten Zeichen sich kund gibt, so erkennen wir sie auch in unserer Begründung und Kräftigung. Die Gnade auch ist's, welche uns aufrichtet, und nie sind wir in besserer Verfassung, aufgerichtet zu werden, als wenn wir recht tief darnieder liegen. Nichts ist herrlicher, als die plötzliche Freude, welche von der Gnade Gottes ausgeht, wann sie uns im Gedächtnis auffrischt, was wir in ihr besitzen. „Betrübt, vom Sturme hin und her geworfen, alles Trostes bar,“ fühlen wir uns noch durch Liebesarme getragen und reicher denn je. Man muss oft „im Finstern wandeln, ohne Stecken und ohne Licht, aber man glaubt in den Namen des Herrn und man kann trauen auf seinen Gott.“ Man sieht oft nicht ein, wie man aus einer schwierigen Lage, aus einer unhaltbaren Stellung sich zu ziehen, wie man das Herz eines Menschen zu ändern vermag, der uns zur Qual gegeben; allein inmitten in diesen Verlegenheiten ist man sich einer „Gnade“ bewusst, welche nicht weicht, und eines Bundes des Friedens, welcher nicht hinfällt. Gott demütigt und richtet auf; ja, er richtet mehr auf, als er demütigt. Die Gnade Gottes bekundet sich noch auf eine andere Art. Es gibt Tage, wo die Sünden sich anhäufen und wo man des Abends, wenn man in sich geht, sich als den Elendesten fühlt; man meint, man habe die Geduld Gottes zu sehr in Anspruch genommen und es habe das Blut Jesu Christi seine Kraft an uns verloren; aber plötzlich werden uns die Sünden wie durch einen Zauber hinweggenommen, und als wären sie in die Tiefe des Meeres versenkt; man ist frei, man ist glücklich; Gott wiederholt uns den Zuspruch: Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen. Vielleicht sagst du nun, dass die Gnade Gottes besteht, dass sie fester ist als das Leben, aber dass das Schwierige darin liegt, wie man sie ergreife. Was muss man tun, um selbst fest zu bleiben, wenn „die Berge weichen und die Hügel hinfallen“?
Auf diese zweite Frage haben wir noch zu antworten. Das Menschenherz ist von Natur furchtsam und zwar mit Recht. Die natürlichen Beziehungen zu Gott haben nichts Beruhigendes und unsere Furcht ist eine Ahnung der Gerechtigkeit Gottes. Wir müssen mit der Selbsterkenntnis den Anfang machen, um zu erfahren, was fester ist als die Berge. Mit uns selbst müssen wir ins Gericht gehen und nicht in unseren Vorspiegelungen uns gefallen. Der Mensch, der seinen gefallenen Zustand erkannt hat und dem er schmerzlich, täglich schmerzlicher wird, ist auf dem besten Wege zu Gott und zum Evangelium. Es gibt freilich einen unbestimmten Schmerz, der nicht der rechte ist. Wie Vielen ist unbehaglich zu Mute; sie gestehen es ein, aber die Einflüsse der Welt haben noch zu häufig eine große Macht über sie. Das Leben muss zu einer Einheit kommen; solange es nicht dahin gelangt ist, kann auch die Gnade dasselbe nicht erreichen. Man schwankt hin und her, stützt sich bald auf Dieses, bald auf Jenes, hat zu viele Hilfsmittel, hat aber eben deshalb den rechten Grund nicht. Das Vielerlei zerstreut; es versiegt der Fluss, den man in zu viele Kanäle ableitet, und eine Seele, die auf mehrere Stützen rechnet, verliert den wahren Fels. Soll ein Mensch zur Entscheidung kommen, so muss er vorerst einsehen, was ihm fehlt, dann gibt er alle seine Herrlichkeiten für die „kostbare Perle“ hin; er muss sich vielfach unglücklich fühlen und Gott ihn kräftig bearbeiten. Du, der du dir ein festes Herz wünscht, untersuche zuerst deinen gegenwärtigen Grund; „Eins nur ist not“; gib dein Herz Jesu Christo und die Gnade Gottes wird einkehren. Du wirst sie ergreifen können, sobald du Alles in dem Einen suchst, der dein Lösegeld bezahlt hat und sobald du „in ihm gegründet,“ in ihm gewurzelt sein wirst. Ich weiß wohl, dass solche Richtung nur langsam sich macht und noch viele Irrtümer mögen sich in die Kenntnis des Heilands mischen. Du hinderst die Gnade, wenn du sie selbst erzeugen willst, und dies geschieht häufig und unbewusst. Zum Beispiel, man sieht einem unangenehmen Augenblick entgegen und man schreckt in Gedanken davor zurück. Anstatt ihn ruhig zu erwarten, ängstet und regt man sich auf. Dieses Gebaren ist eine schlechte Vorbereitung und gibt dem Unglauben Raum genug; in unsern Ängsten helfen uns Fleisch und Blut nicht; glauben muss man: „Stark ist die Hand des Herrn und hoch seine Rechte.“
So ist es der Unglaube, wie du siehst, der uns auf uns selbst zurückwirft und der Gnade Gottes den Weg verrammelt. Der Unglaube aber ist mit der Selbstgerechtigkeit verschwistert. Sobald man nicht Gott vertraut, so kommt es aus einem verkehrten Selbstvertrauen. Man hält sich nicht für so gänzlich arm und tot; man will der Gnade mit seinem Eigenen nachhelfen; so aber gelingt es nie, das zu begreifen, was „fester ist als die Berge.“ Gott hat die Welt aus Nichts erschaffen und man muss zu Nichts werden, um die Allmacht Gottes zu erfahren. Er teilt seinen Ruhm nicht mit Andern und gibt seine Ehre keinem Andern und seine Kraft wird sich uns nur dann offenbaren, wann wir ihr Raum gewähren; wo der Mensch sich aufgibt, da tritt Gott ein und behält den Sieg.
Wohl zu untersuchen ist auch, ob wir in den Stunden, wo wir die Gnade Gottes nicht ergreifen können, nicht unter irgendeiner Sünde stehen. Die Gnade macht von der Sünde frei, aber wenn wir die Sünde mit Willen festalten, so ist es, als wollten wir die Gnade daran verhindern, uns zu befreien. Es gibt manch' verkappten Grund, und die Unfähigkeit, die wir fühlen, die Gnade zu ergreifen, ist immer eine Mahnung zur Selbstprüfung. Auch gibt es Sünden, deren Folgen so weit reichen, dass, ob sie gleich erkannt und gerichtet sind, immer ihr Einfluss noch fühlbar ist. Die Vergebung der Sünden ist nicht immer die Heilung von denselben und die größte Qual einer Seele, die nicht geheilt ist, besteht in ihrem Glauben an die Gnade, ohne dass die Kraft der Gnade wirksam ist. Wir müssen vertrauter sein mit den alten Wurzeln unseres Übels, uns nicht darüber täuschen und ganz besonders um deren Ausrottung bitten. Hüten wir uns vor der Unbußfertigkeit, und müssen wir von unsern früheren Fehlern leiden, so geschieht es nur, damit wir durch diese verlängerte Prüfung desto dringender angespornt werden, die endliche Freiheit zu suchen.
Was uns in all' den Zuständen, die ich so eben beschrieben habe, trösten kann, ist das Bewusstsein, dass Gottes Gnade nicht von unserm tausendfältigen Elend abhängig ist. Können wir die Gnade nicht ergreifen, so ist Gottes Arm darum nicht verkürzt. Unser Unvermögen mag Gottes Erbarmen reizen. Um Seinetwillen wird er sich unser annehmen, und uns zu dem leiten, das „fester ist als die Berge.“ Die Güte Gottes liegt in seinem Friedensbund, und wir wissen, mit welchem Opfer Gott seine Verheißungen versiegelt hat. Dasselbe Blut, das uns von unsern Sünden rein gewaschen, hat uns die Vergebung Seitens Gottes besiegelt, und dieser „Bund des Friedens wird nie weichen.“ Oh! wenn du von der Welt, von der Knechtschaft deiner eigenen Verderbnis, von deinem Unglauben zu leiden hast, so richte deine Blicke höher hinauf; das Kreuz Jesu Christi ist fester als die Welt und die Hölle! Es sollten wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, „die Liebe, welche uns Gott in Christo Jesu unserm Herrn“ gezeigt, ist nicht wandelbar. Er selbst hat es gesagt, der Herr, der sich unser erbarmt. Nimm Ihn zur Richtschnur, und nicht dich selbst. Gottes Gnade umfasst Zeit und Ewigkeit; Gott gibt nicht, um zurückzunehmen; „seine Güte wird jeden Morgen neu und seine Treue ist groß.“ „Nimm die Gesinnung eines Gnadebedürftigen an, und es wird dich die Gnade ergreifen, wenn du auch außer Stande wärst, sie zu ergreifen. Gott gedenkt seines Bundes“; es ist für Ihn eine Ehrensache, dich durch seine Wahl, durch den Glauben zu bewahren vor jedem Falle und dich „ohne Flecken und mit Freude gekrönt zu offenbaren in seiner herrlichen Erscheinung.“ Amen.