Lobstein, Johann Friedrich - Die Geheimnisse des Herzens - XIII. Der ursprüngliche Wille, der gefallene Wille und der erneuerte Wille
Philipper 2, 13.
“Gott ist's, der in euch wirkt beide, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“
Unter den Kräften, die das geistige Wesen des Menschen ausmachen, ist der Wille eine der wunderbarsten. Von ihm gilt in einem noch höheren Grade, was Jakobus von der Zunge sagt, dass sie große Dinge anrichte. Man gebe dem Willen einen Punkt, auf dem er sich feststellen kann, und er wird die Welt aus den Angeln heben. Der Wille ist der Sitz der Individualität; er bestimmt den Charakter, denn man erkennt den Menschen nicht an seinen Gedanken, noch an seinen Gefühlen, sondern an den Äußerungen seiner Willenskraft und an seinen Handlungen. Selbst die Sünde hat ihren Mittelpunkt im Willen. Alle Laster und Verbrechen, die auf dieser Welt geschehen, werden vermittelst des Willens ausgeübt. Der Wille, den wir gegenwärtig besitzen, kann also nicht der ursprüngliche Wille sein, den der Schöpfer in uns gelegt hat. Gott hat uns nicht geschaffen mit unsern Leidenschaften, unserer Ungeduld, unserm Widerspruchsgeist. Es wäre eine Gotteslästerung, so etwas zu behaupten, und wenn uns auch die heilige Schrift darüber keine Aufklärung gäbe, so würde uns schon unser Gewissen es sagen. Wir fühlen sehr gut, wie wir für unsere Handlungen verantwortlich sind. Diejenigen, welche behaupten, dass Gott uns so geschaffen habe, und dass unser böser Wille von unserer natürlichen Schwachheit herkomme, haben selber nie vermocht, so fest an diese Behauptung zu glauben, dass sie dadurch ihr Gewissen hätten beruhigen können. Gott wird einem jeden vergelten nach seinen Werken. Die Handlung, die ihren Ursprung in dem Gedanken und in den Absichten des Herzens hat, vollendet sich und tritt ans Tageslicht durch die Tätigkeit des Willens. Der Kampf des Menschen gegen seinen Willen ist daher auch der schwerste. Wessen Willen durch Gottes Macht ist gebrochen worden, der ist auch der größten Tugenden fähig; aber diesen Sieg zu erringen, steht in keines Menschen Kraft; Gott allein kann den Willen beugen. Der eigene Wille ist das Allerzäheste, was es nur geben kann. Wenn er auch durch Krankheiten, Leiden und Unglücksfälle gebrochen zu sein scheint: so ist doch noch eine höhere Macht nötig, um ihn zu brechen. Glücklicherweise gibt's eine solche Kraft und sie ist uns verheißen, sobald wir mit Furcht und Zittern unsere Seligkeit schaffen. Unser Text sagt, dass Gott es ist, der in uns wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen nach seinem Wohlgefallen. Das ist ein Wort, das sich gleichsam zwischen unsern gefallenen und unsern bekehrten Zustand hineinstellt. Gott würde nicht nötig haben, einen neuen Willen in uns zu schaffen, wenn unser ursprüngliche Wille noch vorhanden wäre; wenn aber unser Wille verändert werden muss, so können wir daraus sehen, dass er verderbt ist. Es handelt sich nicht darum, ihn zu verbessern, sondern darum, ihn umzuändern. Er wird weggenommen und ein anderer an seine Stelle gesetzt; so wie der Töpfer, welchen der Prophet Jeremias sah, das zerbrochene Gefäß zerwarf und ein neues daraus machte.
Auf welche Weise kommt diese Veränderung in uns zu Stande und wie wird der gefallene Wille wieder erneuert? Um diese Frage zu beantworten, wollen wir den Willen des Menschen in seinen dreierlei Gestalten betrachten. Wir betrachten zuerst den ursprünglichen Willen, wie er aus der Hand des Schöpfers hervorging, dann den gefallenen Willen, wie er durch die Sünde verderbt und eine Triebfeder des Bösen geworden, und drittens den bekehrten Willen, wie er durch die Macht Gottes erneuert wird zur Übereinstimmung mit Gottes Willen.
I.
Der ursprüngliche Wille besteht aus zwei Faktoren; der eine ist das selbstbestimmende Wirken, der andere die Unterwürfigkeit. Das selbstbestimmende Wirken ist diejenige Richtung des Willens, die da handelt, wirkt, tätig ist, eigene, persönliche, selbstständige Entschlüsse wirkt. Die Unterwürfigkeit ist das Entgegengesetzte, sie ist das Annehmen eines andern Willens, der nicht in uns selber vorhanden ist. Der Mensch in seinem ursprünglichen Zustande konnte mit gleicher Leichtigkeit und ohne im Widerspruch mit sich selbst zu sein, selbstständig handeln und bestimmen und sich ohne Widerstand dem Willen Gottes unterwerfen. Er hatte einen schöpferischen Geist und zugleich den willenlosen Gehorsam eines Kindes. Diese zwei Bestandteile waren in ihm zur lieblichsten Harmonie verschmolzen. Wenn der ursprüngliche Wille nur jenes freiwillige, selbstwirkende Element in sich enthalten hätte, so würde der Mensch Gottes nicht nötig gehabt haben, er wäre Gott selber gewesen; denn Gott allein handelt selbstständig und wie es ihm gefällt. Wenn hingegen der ursprüngliche Wille nichts weiter gewesen wäre, als ein beständiges Untertansein, so würde sich derselbe nie zur Tätigkeit empor geschwungen haben, sondern immer passiv gewesen sein. Alle Geschöpfe Gottes haben ein aktives Element, welches wirkt, und ein passives, welches auf sich wirken lässt. Die Tätigkeit bewirkt und erhält die Freude und hat die Entwicklung der Kräfte im Gefolge. Die Fähigkeit des Empfangens und auf sich Wirkenlassens stellt die durch das Wirken verbrauchten Kräfte wieder her und befähigt zu neuer Tätigkeit, gleich wie das Öl der Lampe die Flamme unterhält, die ohne dasselbe sonst auslöschen würde. Das Gleichgewicht, das in dem ursprünglichen Willen zwischen dem selbstbestimmenden Wirken und der Unterwerfung unter den Willen Gottes statt fand, brachte einen Zustand hervor, der Freiheit genannt wird. Der ursprüngliche Mensch war frei, das war sein herrliches Vorrecht. Diese Freiheit war ein Bestandteil der Ebenbildlichkeit mit Gott. Seine Geisteskräfte waren durch nichts gehindert und in nichts gefesselt; sein Wille war in Übereinstimmung mit dem Willen des Schöpfers, denn er war glücklich, selbst schaffen zu können, und glücklich, sich dem Schaffen Gottes hinzugeben, sich von seinem Gebieter bestimmen zu lassen und seinem Willen sich zu unterwerfen. Wir können uns ungefähr einen Begriff von diesem Zustand machen, wenn wir die Worte Jesu verstehen, da er sagt: „Mein Vater wirkt bis jetzt und ich wirke auch, der Sohn kann nichts von ihm selber tun, denn was er sieht den Vater tun; denn alles, was der Vater tut, dasselbige tut auch der Sohn gleicherweise.“
Jesus wirkte aus freiem Willen, alles was er tat, tat er selbstwirkend, selbstschaffend, alles was er dachte und sagte, kam aus seinem Herzen, trug das Gepräge der Wahrheit und der Freiheit; und dennoch war es zu gleicher Zeit der Vater, der in ihm wirkte; der Wille Jesu war nicht bloß im Dienste seines Vaters, sondern er war von dem Willen des Vaters durchdrungen. Er war seinem Vater nicht nur vollkommen untertan, sondern des Vaters Wille war sein eigener Wille, so dass er in diesem Gehorsam seine Speise, seine Freiheit und sein Glück fand. Im ersten Augenblick könnte einem vorkommen, dass selbstbestimmendes Wirken unvereinbar wäre mit der Unterwerfung; aber das Leben Jesu zeigt uns, dass diese zwei Bestandteile des Willens vollkommen gut zusammen gehen, ja sogar zusammen gehören. Unglücklicherweise ist diese Harmonie in unserm Willen nicht mehr vorhanden. Der ursprüngliche Wille ist ausgeartet durch die Sünde. Wir wollen nun sehen, was er geworden ist, seitdem das Böse ihn durchdrungen hat.
II.
Unser gegenwärtiger Wille ist eine Erfindung des Satans. Er hat einen der beiden Bestandteile des Willens zerstört, nämlich die freiwillige Unterwerfung, so dass nur noch ein Teil übrig blieb, das selbstbestimmende Wirken. Aber dieses selbstbestimmende Wirken ist ohne den andern Bestandteil dem Irrtum unterworfen, nur der Name ist geblieben, die Bedeutung aber ist nicht mehr die ursprüngliche. Und wirklich, das selbstbestimmende Wirken ohne freiwillige Unterwerfung schlägt den Willen in Fesseln. Die Schlange sprach zu Eva: Wenn ihr euch Gott entzieht, so werdet ihr sein wie Gott; aber sie hütete sich wohl, hinzuzusehen, dass die Freiheit, die sich vom Willen Gottes losgemacht hat, notwendigerweise eine Knechtschaft sein muss. Was ist der gefallene Mensch geworden? Er wirkt viele Dinge, ohne Gott zu fragen und ohne sich seinem Willen zu unterwerfen; aber alles, was er tut, bewegt sich nur in den Grenzen, welche die Selbstsucht, der weltliche Sinn und die Sünde um ihn gezogen haben. Seine Unabhängigkeit ist verloren gegangen, weil er in Grenzen eingeschlossen ist, und von einem Herrn beherrscht wird. Es kommt nicht darauf an, ob dieser Herr ein Fremder oder er selbst ist; und die Knechtschaft ist um so größer, weil der Sklave sie nicht erkennt, und sein eigener Kerkermeister ist.
Es ist wahrlich kein beneidenswerter Zustand, wenn man, nachdem man denselben erkannt hat, genötigt ist, auszurufen: Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen! Nicht ohne Mitleiden kann man einen Menschen ansehen, dem man irgend ein Glied abgenommen hat, und der sich nun nur mit großer Mühe fortbewegt. Und was ist der Verlust eines Gliedes und die daraus entstehende Unbequemlichkeit im Vergleich mit dem Unglück, das von einem gefallenen Willen herrührt? Woher kommt unser Elend? Was macht uns unglücklich, unzufrieden, unruhig? Unser Wille, der sich nicht beugen will, der sich auflehnt, anstatt sich zu unterwerfen, oder der, wenn sich ihm kein Hindernis in den Weg stellt, ausführt, was ihn gelüftet und gerade dadurch das Elend nur um so größer macht.
Denn es kann nicht geleugnet werden, dass der Hochmut und die Härtigkeit des Herzens das selbstbestimmende Wirken unsers Willens beherrschen. Unser Wille ist weiter nichts, als die Äußerung unserer Selbstvergötterung, die Anbetung des großen Götzen Ich. Das ist's, was uns der Satan gelassen hat, indem er die freiwillige Unterwerfung unsers Willens zerstörte. Unser Wille ist krank, er irrt unstet umher, ist überall ohne Frieden, befindet sich nirgends wohl, weder im Überfluss noch im Mangel, weder in Tagen des Glückes, noch in Tagen der Leiden; immer wünscht er, und immer wird er getäuscht. Ach! du armer Wille, wann wirst du deine Leiden endlich satt kriegen, wann wirst du erkennen, was zu deinem Frieden dient?
Aber eher versucht man alles Mögliche, um den kranken Willen zu heilen, als dass man zu dem wahren und einzigen Heilmittel griffe, nämlich zu einer Umänderung des Herzens. Es gibt Leute, die mit sich selbst unzufrieden sind, deren Unfriede auf ihrem Gesicht ausgeprägt ist, die es wohl fühlen, dass ihr Wille nicht in Ordnung ist; aber sie lassen die Sachen. gehen, wie sie gehen. Sie leben in diesem unglücklichen, friedeleeren Zustand und wollen sich zu keiner Veränderung entschließen. Wieder Andere, nachdem sie in grobe Sünden gefallen sind, durch welche sie gedemütigt wurden, bemühen sich, besser zu werden, bereuen diese eine Sünde und bilden sich dann ein, dass sie dadurch ihren Willen bezähmt hätten. Noch andere zählen auf ihre guten Vorsätze, auf Veränderung von Umständen, auf das reifere Alter, das sie vernünftiger machen werde; aber das ist alles vergeblich, der Wille, der sie beherrscht, ist derselbe, und wenn er sich auch verändert, so ist's nur, um sich noch mehr zu verhärten. Der Mensch ist im Stande, Felsen zu zerspalten, wilde Tiere zu zähmen; aber seinen Willen zu beugen, ihn Gott untertänig zu machen, das liegt nicht in seiner Kraft. Die allerverhärtesten Charaktere haben jedoch von Zeit zu Zeit gute Absichten, die zu Hoffnungen berechtigten, wenn sie mit Gebet begleitet wären; aber das ist's eben, woran es ihnen fehlt, und ein Herz, das nicht betet, wird nicht nur nie ernst, sondern macht auch keine Fortschritte. Nach Jahrhunderten würde es noch auf demselben Punkt stehen. Es leidet unter diesem Zustand, es will sich bessern, will sich beugen, es fühlt, dass es so nicht leben kann, aber sobald der Augenblick kommt, wo es gilt, den alten Menschen zu töten und die Entschlüsse, die gegen denselben gefasst wurden, auszuführen, erhebt sich der eigene Wille und sagt: Nein! und das vorige Leben wird fortgesetzt. Ein neuer Wille ist ein Wunder, und zwar das größte Wunder der Gnade Gottes, aber es ist eben ein Wunder Gottes, weil Er allein zu Stande bringt, was Menschenkraft nie vermag. Unser Text sagt: Gott ist es, der in euch wirkt beide das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.
III.
Auf welche Weise kommt nun dieses Wunder der Gnade zu Stande? Es liegt nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. Der bekehrte Wille ist sowohl wie die ganze Erlösung eine Gabe Gottes, damit sich niemand rühme. Alles aber, was Gott in dem Menschen zu Stande bringt, bringt er nur dadurch zu Stande, dass der Mensch mit tätig ist. Gott bekehrt und der Mensch bekehrt sich; Gott schafft ein neues Herz und der Mensch gibt sich das neue Herz, indem er das steinerne Herz wegtut. Beides ist gleich wahr. Ja, es bleibt ewig wahr, dass die Schöpfung eines neuen Willens im Menschen ein Wunder der Gnade Gottes ist, und es bleibt ebenfalls wahr, dass der Mensch selber Schuld ist an seiner Verdammnis, selber Schuld ist, wenn dieses Wunder nicht in ihm zu Stande kommt. Zwar sind das zwei Tatsachen, die man nicht leicht begreifen kann; aber nimmt man das eine an, so ist man gezwungen, auch das andere anzunehmen. Paulus sagt uns, wie man zu diesem Wunder gelange: Wenn man seine Seligkeit mit Furcht und Zittern schafft, das heißt, wenn man das Seligwerden zur Lebensaufgabe macht; dann ist's aber an Gott, die ehernen Türen einzusprengen und die eisernen Riegel zu zerbrechen. Wache auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten, so wird der Herr sich aufmachen! Widersetze dich nicht der Arbeit seiner Gnade, und du wirst erstaunen, was er in dir zu Stande bringt, wie er aus einem Wolf ein Lamm schafft. Er rühret die Berge an, so rauchen sie; er berührt den Willen, so beugt er sich. Weder durch eine große Macht, noch durch ein großes Heer wird dieses Werk zu Stande gebracht, sondern durch den Geist des Herrn. Nach und nach fühlt man sich auf eine ganz andere Weise aufgelegt zum Guten; denn es ist der Herr, der durch seine verborgene, unsichtbare Kraft den eigenen Willen beugt. Der Mensch ist in kurzer Zeit umgewandelt, er wird ernster, nachdenkender, schnell zum Hören. Ein anderes Leben durchdringt ihn, und sein Wille wird der Wille Gottes. Man hätte vorher nie geglaubt, dass so etwas möglich wäre und dennoch steht es da und man wird noch Größeres denn dieses sehen. Man besuche einen solchen Menschen und man wird von Tag zu Tag immer mehr fühlen, wie er herzlicher, liebenswürdiger wird, wie er anfängt, uns zu verstehen, wie er uns sein Herz öffnet, wie er weich wird, und wie er Tränen findet, deren er bisher noch keine vergossen hat. Jesus, der König der Herzen, der Fürst des Friedens hat seinen Einzug gehalten. Der Winter ist vergangen, die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbei gekommen, und die Turteltaube lässt sich hören. Sein Wille beugt sich freiwillig; denn die Liebe treibt ihn. Er kann sich selbst verleugnen; denn er ist gestorben mit Christo, er ist aus dem Tode zum Leben, aus der Gewalt des Satans in das Reich des Sohnes Gottes hindurchgedrungen; der ursprüngliche Wille ist hergestellt; der Bestandteil seines Willens, der verloren gegangen ist, nämlich die Unterwerfung, ist wieder da und mit ihm die Freiheit. Die Sünde herrscht nicht mehr in seinem sterblichen Leibe. Alles gehört ihm, die Erde und was darauf ist, gute und böse Tage, alles dient ihm zum Besten. In der Armut und im Überfluss, in allen Lagen vermag er alles durch den, der ihn mächtig macht, Christus.
Zwischen dem ursprünglichen Willen und dem bekehrten Willen ist jedoch der Unterschied, dass jener ohne Mühe und ohne Kampf sich unterwarf, während der neue Mensch, gerade so wie der Sohn Gottes, sein Vorbild und sein Haupt, Gehorsam lernen muss in dem, dass er leidet. Er wohnt noch in einem Leibe der Sünde und hat mit der Sünde zu kämpfen. Den Geist gelüftet wider das Fleisch und das Fleisch wider den Geist, so dass er die Unterwerfung zu lernen hat und der Kampf nie aufhört. Der erste Adam folgte dem natürlichen Zug seines Herzens, wenn er sich dem Herrn unterwarf; der neue Mensch hingegen muss den natürlichen Zug seines Herzens überwinden. Ihm steht jedoch eine Hilfsquelle offen, die der erste Mensch nicht hatte, nämlich die Gnadenfülle Jesu Christi. Er schmeckt die Liebe Gottes in einem Grade, wie sie Adam, ja selbst die Engel nie geschmeckt haben. Ja, ein armer Sünder tut tiefere Blicke in den Abgrund der Barmherzigkeit Gottes, als alle Bewohner des Himmels, die seinen Thron umgeben. Nur ein Sünder kann sagen: Ich war tot und bin wieder lebendig geworden; ich war verloren und bin wieder gefunden. Wie es zugegangen ist, weiß ich nicht; aber eines weiß ich, dass ich blind war und bin nun sehend, dass Gott in mir das Wollen und das Vollbringen gewirkt hat nach seinem Wohlgefallen.
Unsere Betrachtung würde nun aber ihren Zweck verfehlen, wenn wir uns zum Schlusse nicht noch fragen wollten: Wie ist mein Wille beschaffen? Woher kommen meine Wünsche, meine Hoffnungen? Ist mein Wille der erneuerte Wille, die Wirkung des Geistes Gottes, oder ist er noch mein eigener, von Fleisch und Blut mir eingegeben?
Lasst uns eingehen in den Liebeswillen Gottes für uns, und wir werden bald die Erfahrung machen, dass unsere Unterwerfung unter seinen Willen das Geheimnis unserer Kraft ist; lasst uns diese Unterwerfung lernen und jene ursprüngliche, selbst wirkende Willenskraft wird wieder ihre Reinheit erlangen, und wir werden in allen Lagen unseres Lebens wahrhaft unabhängig und frei sein, unerschütterlich in allen Widerwärtigkeiten, Überwinder der Welt und der Sünde. Wir werden feststehen und ausharren bis ans Ende. Unsere Kraft wird Wunder beweisen, wenn Gott in uns das Wollen und das Vollbringen wirkt nach seinem Wohlgefallen. Wir brauchen alsdann nicht zu fürchten, dass unser Christentum nur etwas Nachgemachtes sei - im Gegenteil, so bald sich unser Wille Demjenigen unterwirft, der sich herunter gelassen hat, unser Diener zu werden, so bald werden wir unsere wahre Originalität, unsere selbstständige Persönlichkeit erlangen. Nur der freiwillige Gehorsam Jesu bis zum Tode gab ihm die Unabhängigkeit, die er bis zum Tode bewährte. Sein selbstständiger Wille und seine freiwillige Unterwerfung möge unser Teil werden! Lernen wir von ihm, den Willen Gottes zu dem unsrigen zu machen, und wir werden stark und unüberwindlich, froh und frei werden, und unsere Persönlichkeit wird den Charakter bekommen, den sie vor Gott und den Menschen haben soll.