Lobstein, Johann Friedrich - Die Geheimnisse des Herzens - I. Die Melancholie
2. Korinther 7, 10.
„Die Traurigkeit der Welt wirkt den Tod.“
Paulus spricht von zweierlei Traurigkeit; von einer göttlichen Traurigkeit, weil sie Gottes Werk ist und sein Wohlgefallen hat; und von einer natürlichen, irdischen, weltlichen. Diese zweierlei Seelenzustände sind gänzlich von einander verschieden, sowohl hinsichtlich ihrer Ursachen, als ihrer Wirkungen.
Die göttliche Traurigkeit ist der Schmerz, der die Seele durchzieht, weil sie den Herrn beleidigt und den Bund mit ihm gebrochen hat; sie ist eine göttliche, weil sie von Gott gewirkt ist und zu ihm hinführt. Niemand wird es bereuen, diese Traurigkeit empfunden zu haben, denn sie ist's, die dem Willen eine andere Richtung gibt, das Herz reinigt und zur Seligkeit führt. Die Traurigkeit der Welt ist nicht so beschaffen. Diese Traurigkeit ist der allerdürrste und zugleich der allerverderbteste Zustand.
Die Quelle dieser Traurigkeit ist das Losgerissensein von Gott, und wenn sie in ihrer Entwicklung nicht aufgehalten wird, so führt sie unvermeidlich zum Tode. Sie wird genannt die Traurigkeit der Welt, weil sie in einem Herzen den Ursprung hat, das der Welt angehört. Sie hat ihre Ursache bald in dem Verlust zeitlicher Güter, bald in einer trügerischen Lust oder in einer getäuschten Hoffnung, die sich nun in einen beständigen, nagenden Kummer und Ärger verwandelt. Der Mensch, der sich dieser Traurigkeit hingibt, entfernt sich immer weiter von seinem Gott; je mehr er den Erinnerungen an seine genossenen Freuden nachhängt, desto weltlicher wird zugleich sein Herz und desto bitterer; und anstatt den Frieden seines Herzens in einem solchen Seelenzustande zu finden, findet er am Ende den Tod. Ja einen zweifachen Tod: zuvörderst den Tod seiner Seele, der darin besteht, dass dieselbe sich immer mehr und nach und nach vollständig von Gott lostrennt, so dass es ihr zuletzt unmöglich wird, wieder zu ihm zurückzukehren und dass sie so der Halsstarrigkeit und der endlichen Verdammnis zueilt; dann aber auch den Tod seines Leibes. Die Traurigkeit der Welt greift seine Gesundheit an und verzehrt und untergräbt sie. Durch sie werden die beiden Quellen des Lebens ausgetrocknet; sie tötet die Seele und deren Werkzeug.
Die Traurigkeit der Welt verschlingt ihr Opfer auf zweierlei Weise: langsam, wie ein krebsartiges Übel; oder schnell, indem sie den Faden des Lebens plötzlich abschneidet in Folge eines Anfalles von Verzweiflung, durch welche der Sünder zum Selbstmord geführt wird. Diese Traurigkeit der Welt ist viel gewöhnlicher als die göttliche Traurigkeit; sie soll daher auch der Gegenstand unserer Betrachtung werden; und da sie gewöhnlich in irgend einem besondern Gewande auftritt, so wollen wir von diesem ihrem besondern Charakter ebenfalls reden.
Wenn die Traurigkeit der Welt sich auf besondere Weise in einem Menschen festsetzt und von seinem moralischen Zustand Besitz ergreift, so heißt man sie Melancholie, was wörtlich bedeutet: bittere Galle. Es gibt Städte und Länder, wo die Melancholie mehr als in andern zu Hause zu sein scheint, und die Fälle von Selbstmord sind daselbst häufiger als anderswo, was den Ausspruch Pauli bestätigt, dass die Traurigkeit der Welt den Tod wirkt. Weil dies nun ein Übel und zwar ein erschrecklich großes Übel ist, so dürfte es vielleicht nicht ohne Nutzen sein, die besondern Kennzeichen der Melancholie, die verschiedenen Grade dieses Übels und seine Ursachen aufzusuchen. Sodann wollen wir viertens fragen, ob eine solche Krankheit geheilt werden könne.
Was ist die Melancholie und worin unterscheidet sie sich von der gewöhnlichen Traurigkeit?
Sie unterscheidet sich von ihr darin, dass die letztere ein peinlicher, schmerzlicher Zustand ist, dem man sich gerne entziehen möchte, während die Melancholie von einer Art Lust begleitet ist, die bewirkt, dass man sich in ihr wohl befindet. Der Melancholische versenkt sich in seine Traurigkeit, mit der Absicht, darin zu verharren. Er irrt in einem Labyrinth von Erinnerungen umher, die seine Sinne durchkreuzen, seine Willenskraft schwächen und die Aussicht in die Zukunft trüben. Mit diesen Erinnerungen verschlingen sich allerlei Träumereien, finstere Ideen und sündliche Entwürfe; und der Unglückliche, der sich auf diese Weise quält, geht dem sichern Tod entgegen und wird sein eigener Mörder. Er betrachtet als einen Feind den Freund, der ihm den Dolch entreißen will, mit welchem er sich durchbohrt.
Die Melancholie hat verschiedene Stufen der Entwicklung und der Bedeutung; wir wollen deren vier anführen.
Der erste und am wenigsten bedenkliche Grad ist derjenige, den man griesgrämliche Laune nennen könnte. Es ist nur erst das Anzeichen vom Übel, noch nicht die eigentliche Krankheit. Man sieht manchmal Personen, die von einem unbestimmten Zustand der Traurigkeit ergriffen werden, ohne dass sie selbst eigentlich wissen, woher diese missmutige Laune kommt. Niemand reizt sie, nichts fehlt ihnen, die Gesundheit ist vortrefflich; aber wenn ihre schlimme Laune sie überfällt, so ist Alles das, wie nicht vorhanden für sie. Es ist ein unerklärliches, unbehagliches Gefühl, das sich ihrer bemeistert und sie überwältigt. Glücklicher Weise dauert dieser Zustand nicht lange, er ist noch nicht zum bleibenden Zustande geworden; es sind große, schwarze Wolken, die der Wind vertreibt, derselbe Wind, der sie auch bringt.
Die zweite Stufe der Melancholie ist diejenige, welche man Hang zum Einsamsein nennen könnte, und der darin besteht, dass man sich mit allerlei fixen Ideen quält. Man befindet sich alsdann nicht mehr in einem Zustande unbestimmten Gefühles, man ist auf eine bestimmtere Weise in seinem Gemüte beunruhigt; aber die Ursachen dieser Unruhe haben durchaus keine wirkliche Grundlage. Ein solcher, der Hang zu dieser Monomanie hat und unter ihrem Einflusse steht, bildet sich immer ein, man liebe ihn nicht, man habe etwas gegen ihn, er sei im Wege, man würde ihn gerne entfernen, er sei seiner Umgebung zur Last. Und wenn es nicht ein inneres Gedrücktsein ist, so ist's manchmal ein Argwohn, der ihn verfolgt und quält. Gegen irgend eine bestimmte Person hat er Misstrauen, oder eigentlich gegen alle Leute. Andere überreden sich, dass Alles, was sie machen, schlecht sei; sie sind fest davon überzeugt, dass sie überall, wo sie erscheinen, nur Unglück bringen und dass die Angelegenheiten, in die sie sich mischen, durch ihre Schuld fehlschlagen. In allen diesen Fällen ist man der Sklave einer fixen Idee, die zur festen Überzeugung, zu einem Bann im Herzen geworden ist, den man um keinen Preis der Welt will fahren lassen. In diesem Zustande schließt man sich selbst aus der Gesellschaft seiner Mitmenschen aus, und wenn man auch nicht in die Wüste entflieht, so tritt man doch wenigstens aus dem gliedlichen Verbande der menschlichen Familie.
In ihrer dritten Entwicklungsstufe wird die Melancholie noch weit gefährlicher. Diese Stufe entwickelt sich in Folge wirklich vorhandener Ursachen, welche das Gemüt in der Traurigkeit gefangen halten. Zu dieser Stufe gelangt man entweder durch erlittene Verluste, oder durch getäuschte Hoffnungen, oder auch durch die Schande, welche man sich durch einen Fehler zugezogen hat. Es ist hauptsächlich dieser dritte Grad der Melancholie, der zum Selbstmorde führt. Man hat sich ein irdisches Gut entreißen sehen, das man mit beiden Händen festhalten wollte; dieser Verlust verwandelt das Leben in eine schreckliche Einöde. Man hat seit Langem eine Lieblingsidee gehegt und gepflegt, einen geheimen Wunsch, auf welchen man das Gebäude seines Glückes erbaute: diesem Ideal der Zukunft hat man plötzlich entsagen müssen und ist mit Gewalt in eine entgegengesetzte Bahn geworfen worden. Oder man ist in eine Sünde gefallen, die öffentlich Ärgernis gegeben hat; nun hat das ganze Leben seinen Reiz verloren und die Achtung der Menschen ist für immer dahin. Wenn uns diese Schande nicht antreibt, uns in die göttlichen Gnadenarme zu werfen, so werfen wir uns der Verzweiflung in die Arme. Auf diesem Wege kam Judas beim Selbstmorde an. In allen diesen Fällen ist man das Opfer einer Traurigkeit, die dadurch verursacht wird, dass man sich von einem Hang hinreißen ließ, welcher, nachdem er einmal den ganzen Menschen bewältigt hat, ihn kraft- und hilflos einem Schmerz überliefert, der ihn gleich einer Meereswoge verschlingt.
Die Melancholie nimmt endlich noch eine letzte Gestalt an, indem sie sich nämlich mit der Bosheit vereinigt. Es war der böse Geist, der Saul überwältigte, als er, gequält durch seine finstere Laune, David zu töten suchte, wie derselbe die Harfe vor ihm spielte. Die Besessenen, welche die Reisenden antasteten und die Straßen unsicher machten, gehörten ebenfalls in diese traurige Klasse von Menschen, die man nicht eigentlich Narren nennen kann, weil sie sehr gut wissen, was sie tun. Mit dieser wilden Laune ist nicht selten ein blutdürstiger Sinn verbunden, wie wir's z. B. bei einem Nero und einem Ludwig XI. sehen, diese waren Teufel in Menschengestalt.
Was sind nun die Ursachen der Melancholie?
Woher kommen die finstern Launen, dieses Übel, für das man erst noch einen bezeichnenden Ausdruck erfinden möchte? Also weder die Umstände, in denen man sich befindet, noch die Umgebung, in welcher man lebt, noch endlich die Stellung, die man einnimmt, ist an diesem Übel schuld; es kommt einzig und allein daher, dass das Herz keinen Frieden hat. Auf dem Gewissen lastet eine Menge von Sünden, die man noch nicht hasst, von denen man sich nicht losmachen will, die man noch nie bekannt hat, deren Urteil aber nicht schläft, obgleich dasselbe noch wie in Nebel gehüllt ist. Daher solche Traurigkeit, für die man keinen Namen hat, deren Ursachen unklar sind; die aber augenblicklich verschwinden würde, wenn das Herz sich versöhnen ließe mit Gott, wenn es vor ihm nicht nur zu der Erkenntnis seiner Sünden gelangte, der Sünden, die nicht geleugnet werden können, sondern auch zur Erkenntnis der sündlichen Verdorbenheit. So lange dieser Zustand nicht erkannt und verdammt wird, so lastet der Fluch auf dem Gewissen, und eine Ungerechtigkeit entquillt der andern, wie aus einer vergifteten Quelle. Gehe an diese Wurzel deines Verderbens und fliehe nicht das Licht!
Das Licht scheint in die Finsternis, aber die Finsternis nimmt es nicht an, das ist die einzige Ursache ihrer Verdammnis. Greife du es anders an! vertreibe den Geist der Falschheit und Betrügerei, und glaube, dass das Blut Jesu Christi rein macht von aller Sünde!
Die fixen Ideen und die ungegründete Qual, die man sich selber schafft, haben ihren Grund in der Selbstsucht, die Alles das ausschließt, was Andern nützen kann. Man denkt nur an sich, fürchtet nur für sich, und will nur für sich genießen. Diese Engherzigkeit lässt uns Alles in einem falschen Lichte erblicken; sie trübt, nachdem einmal das Herz verhärtet ist, auch den Verstand und die Urteilskraft. Diese finstern, düstern Charaktere, welche sich in Nichts schicken, vor Nichts sich beugen können, sind nur an Selbstsucht und Eigenliebe krank; sie werden dadurch verhindert, offen und zutraulich zu sein. Das geht bis in die allerkleinsten Dinge, oft wirklich kaum der Rede wert. Ist ein solcher Mensch ein wenig unwohl, so bildet er sich augenblicklich ein, er habe alle möglichen Fieber in seinen Gliedern; wird er irgendwo etwas kalt empfangen, gleich denkt er, man habe Etwas gegen ihn; soll er in irgend einer Angelegenheit zuerst einen Schritt wagen, lieber hebt er keine Ferse auf, als sich auf eigene Faust irgend Etwas zu erlauben. Daher die Wunderlichkeiten, die falschen Ansichten und die Verrechnungen. Man könnte so glücklich sein, wollte man sich nur selbst etwas vergessen und Andern entgegenkommen! Aber die Selbstsucht und der Eigensinn gehen gewöhnlich Hand in Hand; man will mit aller Gewalt eine Scheidemauer errichten zwischen sich und der Welt, und während man sich so einmauert, sieht man bald nichts mehr, weder die Sonne, noch die Sterne; Alles gewinnt ein düsteres, trauriges Aussehen.
Was die Melancholie betrifft, die auf reellen Ursachen beruht, so sind die Neigungen, die am meisten zur unheilbaren Traurigkeit, zur Verzweiflung und zum Tode führen: das eigene Fleisch und der Ehrgeiz. Ein Ehrgeiziger, dessen Pläne scheitern, tröstet sich nicht so leicht über den Verlust. Er überlässt sich jenem nagenden Kummer, welcher vor Gott nichts als Stolz ist. Er wollte emporsteigen, und Gott hat ihn gedemütigt; denn er hatte auf seine eigene Kraft vertraut. Gott lässt ihn seine Abhängigkeit fühlen; er träumte von Ruhm, und er wurde das Gespött der Leute. Diese Beleidigung verzeiht er weder Gott noch den Menschen, und mit jenem Theaterhelden spricht er:
Wenn Alles verloren, die Hoffnung entweicht,
Ein Schimpf ist das Leben und Pflicht wird der Tod!
Das ist die Frucht des Hochmutes, die Frucht Wenn die bösen Begierden des fleischlichen Sinnes, die wider die Seele streiten, nicht erlangen können, was sie wünschen, oder wenn, nachdem sie befriedigt wurden, die Vergnügungen plötzlich ihren Wert verlieren: so treiben sie die Seele in jenen Zustand hinein, wo sie mit jener unglückbringenden Traurigkeit erfüllt wird.
Nicht selten hat die Melancholie ihren Grund in einer unglücklichen Liebe, einer verfehlten Heirat oder einer ehelichen Untreue, wodurch man sich Schmach und Schande zugezogen hat. Es gibt so viele Herzen, die fleischlich gesinnt sind und deren Traurigkeit eine fleischliche ist. Wohl denen, die den befleckten Rock des Fleisches hassen! Wohl denen, die nach einem tiefen Falle sich wieder aufgerafft haben, wie der verlorene Sohn oder wie Maria Magdalena! Der Herr Jesus nimmt auch die Verdorbensten an, er stößt Keinen hinaus, der zu ihm kommt.
Ehe wir die boshafte und blutdürstige Melancholie näher ansehen, muss ich hier bemerken, dass es bei Weitem nicht in meinem Sinne lag, die drei andern Arten von Melancholie, von denen wir soeben gesprochen haben, von Bosheit frei zu glauben. Sie kommen her von der Traurigkeit der Welt, also aus der Feindschaft gegen Gott: wie sollten sie denn nicht diese Bosheit und Feindschaft in sich enthalten? Nur ist sie mehr verborgen, während sie auf der Stufe der Melancholie, die wir nun noch bezeichnen wollen, offen daliegt und sich freien Lauf verschafft.
Ein Zustand, wie derjenige, in dem sich Saul befand, ist sehr leicht erklärlich. Ein Mensch, der keinen Frieden hat, von dem sich der Herr zurückzieht, der Gottes Feind geworden ist, wie das bei jenem unglücklichen König von Israel der Fall war: ein solcher Mensch muss in seinem Innern eine beständige Qual haben, und sobald er sich nicht mehr demütigen will, wird ihn seine Umgebung nur zur Bitterkeit stimmen. Sein Zustand ist ein Zustand des beständigen Zornes und Grolles, ein boshafter Wille, der den ersten Besten angreift, um sich an ihm für den Fluch zu rächen, der sein Inneres durchwühlt. Er ist nicht glücklich, also dürfen's Andere auch nicht sein; seine ganze Kraft wird aufgeboten, um zu quälen, wen und wie er kann. Es ist derselbe Zustand, in welchem der Satan lebt, der eben deshalb ein Mörder, ein Verführer, ein Ankläger ist. Wenn man Andere nicht durch Liebe denn er hat keine Liebe - sich gleich machen kann: so will man sie wenigstens sich gleich machen durch Hass.
Alles, was wir nun gesagt haben, ist sehr traurig, und wäre es noch mehr, wenn wir, ehe wir schließen, nicht noch ein Mittel zu erwähnen hätten, das allen diesen Übeln gründlich abhelfen kann. Glücklicherweise gibt's aber eines, ja mehr als eines.
Sehr oft muss man, um die Ursachen der Melancholie in ihrem Ursprung aufzufinden, zur ersten Erziehung zurückgehen. Es gibt Eltern, die ihren Kindern eine unausrottbare Neigung zur Traurigkeit der Welt einpflanzen dadurch, dass sie dieselben mit aller Gewalt zu einem weichlichen und gemächlichen Leben erziehen. Ein Kind, dessen Gelüsten und Launen man jederzeit nachgibt, das man nicht frühzeitig dazu gewöhnt, seinen eigenen Willen zu brechen, zum Nutzen oder Vergnügen Anderer sich eine Entsagung gefallen zu lassen, selbst wenn es ganz erlaubte Sachen sind; welches man nicht frühzeitig an ein einfaches und tätiges Leben gewöhnt; welchem man alle Mühen erspart, alle Schwierigkeiten hebt: ein solches Kind wird durch solch eine unsinnige Erziehung ein Opfer seiner Melancholie werden. Man eröffnet ihm auf diese Weise Aussichten und Erwartungen auf ein Glück, das nirgends auf Erden anzutreffen ist, und die Folge davon ist, dass es auf die bitterste Weise enttäuscht wird. Ein anderer Fehler in der Erziehung, der nicht weniger traurige Folgen hinterlässt, ist der, wenn das Ehrgefühl und die Einbildungskraft eines Kindes zu sehr gereizt werden. Wie viel besser wäre es, dahin zu wirken, sein Gewissen zu schärfen und seine Geisteskräfte auszubilden, als Neigungen zu begünstigen, die so leicht ins Böse umschlagen, und welche, wenn sie einmal die Obermacht haben, es später mit einem Meere von Traurigkeit umgeben. Sehr oft kommt die Melancholie von einer Weichlichkeit des Charakters, von einer erhitzten Einbildungskraft und einem gewissen grundsätzlichen Stolz her, gegen welche die Eltern nicht ernstlich genug angekämpft haben.
Heilmittel genügen nicht immer ganz, um eine Krankheit zu heben; um wie viel besser ist es daher, bei Zeiten Verwahrungsmittel dagegen anzuwenden. Wenn das Übel einmal da ist, so kann es schreckliche Fortschritte machen; also ersticke man es schon im Keime. Es gibt Krankheiten, die, einmal ausgebrochen, unheilbar sind. Wir möchten daher als goldene Regel und als kräftiges Heilmittel vorschlagen, was schon die Alten kannten: Ora et labora, bete und arbeite. Kein besseres Mittel, um uns gegen den Fallstrick jener unheilbringenden Launen zu sichern. Das Gebet erhält uns in der Gegenwart Gottes und unter dem Einfluss seiner bewahrenden Gnade; und die Arbeit, die uns nötigt, gleichsam aus uns selbst herauszukommen, gibt unsern Geisteskräften eine heilsame Richtung. Diese zwei Mittel bewahren uns vor dem Herumschweifen unserer Gedanken und den Verirrungen unsers Gefühls. Aber beides muss beisammen sein: Gebet und Arbeit. Ein Klosterleben ist kein Schutz gegen die Melancholie, und eine Arbeit ohne Gott würde uns nur auf einem andern Wege zur Traurigkeit und Melancholie führen.
Man sollte sich jedoch davor hüten, irgend eine Geistes- oder Gemütsanlage zum Nachteil einer andern besonders zu entwickeln. Wenn man die Denkkraft zu sehr entwickelt, so wird das Kind ein Grübler; wird die Willenskraft zu sehr berücksichtigt, so wird es ein Widerspruchsgeist; räumt man dem Gefühl zu viel ein, so verliert der Verstand von seinem Scharfsinn, und der Geschmack am Gewöhnlichen geht verloren. Die Melancholie ist weiter nichts, als eine Störung des Gleichgewichtes aller Geisteskräfte und ein Mangel an Harmonie derselben; es ist ein unregelmäßiger Zustand, wo die Faktoren des Lebens aus ihrer ursprünglichen Stellung verrückt worden sind. Man lasse und stelle dieselben da, wohin Gott sie gestellt hat, und Reinheit und Ruhe der Seele wird die Folge dieser Harmonie sein.
Wie oft kommt uns nicht der Herr in seiner Barmherzigkeit zu Hilfe, indem er, um unsere fixen Ideen zu vertreiben, oder uns dem Einflusse sündlicher Erinnerungen zu entziehen, uns ein wirkliches Kreuz auflegt, wodurch wir das eingebildete Kreuz aus unsern Blicken verlieren. Indem er uns dem Kampf mit der Wirklichkeit übergibt, indem er uns in irgend eine schwere Lage versetzt, tötet er das Andenken an die Vergangenheit und benimmt ihm seinen verwundenden Stachel. Der Mensch liebt den Kampf nicht; er kämpft nur, wenn ihn die Umstände dazu zwingen; nun kommt die Melancholie oft daher, dass sich auf unserm Lebenswege keine materiellen Hindernisse auftürmen, und derselbe zu sehr geebnet und gebahnt ist. Die Melancholie ist darum auch weit mehr die Krankheit der Rentiers als der Handwerker und der Armen. Aber Gott hat mancherlei Kreuz und für Menschen aller Klassen, und dasjenige, das er auf unsere Achseln legt, ist sehr oft ein Joch, das in Gottes treuer Liebe dazu bestimmt ist, ein anderes, weniger heilsames wegzustoßen.
Das Hauptmittel aber, wodurch alle unsere Traurigkeiten gehoben werden, ist, wie schon gesagt, eine wahre Bekehrung. Kommt näher zu Jesu, macht Bekanntschaft mit ihm, lasst die Traurigkeit nicht mit euch aufwachsen und stellt dieselbe, so wie euer Herz, unter die allbezwingende Macht seiner Gnade! Er ist der Fürst des Friedens; wenn ihr sein Wort in euch aufnehmet, so wird dasselbe ein Same des Friedens werden, der mächtiger sein wird, als alle euere Traurigkeiten. Stellt euch vor ihn hin; er hat euere Sünden getragen, sollte er nicht auch euere Traurigkeit hinwegnehmen können? Befiehlt er uns nicht in seinem Worte, allezeit fröhlich zu sein? Wie würde er uns dazu auffordern, wenn diese Fröhlichkeit nicht erreichbar wäre und zwar erreichbar ganz umsonst und ohne alles Verdienst? Betet, anstatt zu träumen! glaubt, anstatt niedergeschlagen zu sein! kämpft, anstatt euch immerwährend zu beklagen! Der Herr ist reich, aber nur für die, die ihn anrufen; er ist allmächtig, aber nur für die, welche ihre Zuflucht zu ihm nehmen; er ist Aller Diener, aber nur Derjenigen, welche nicht zwei Herren dienen. Die Traurigkeit der Welt muss weichen vor dem Überwinder der Welt; weist ihm euere Ketten vor, und er wird sie hinwegnehmen. Wie der Nebel von der Sonne vertrieben wird, so muss die Traurigkeit der Freude weichen, sobald Jesus in ein Herz einzieht. Es sind nicht eure Tugenden, für die er ein Heiland ist, nein, für euer gepresstes Herz, für euere verwundete Seele, für alle eure Traurigkeiten. Hat er die Besessenen ihrer Bande befreien können: sollte er zu schwach sein, die eurigen zu lösen? Erstreckt sich seine Barmherzigkeit nicht über alle seine Werke? Blickt auf sein Kreuz! Ach! wir tun es nicht oft genug. Auf Golgatha wird man gewaschen von Sünden und für immer davon befreit. Die Tränen, die vor dem Kreuze Jesu geweint werden, sind seligmachende Tränen; wohl dem, der sie kennt. Geht zu ihm, so wie ihr seid, voll Vertrauen und ohne Rückhalt! einmal gefangen von seiner Liebe, werdet ihr nicht mehr von ihm weggehen wollen. Ihr werdet bei ihm Wasser des Lebens trinken aus dem nie versiegenden Born, und wenn ihr dasselbe einmal gekostet habt, so werdet ihr dann weder in freudigen noch in trüben Stunden anderswohin gehen wollen, als zu ihm, weil er allein Worte des ewigen Lebens hat.