Krummacher, Friedrich Wilhelm - Salomo und Sulamith - Die Turteltaube läßt sich hören.
Sechste Predigt
Hohelied Salomons 2, 12.
Und die Turteltaube läßt sich hören in unserm Lande.
Der himmlische Bräutigam Christus ermuntert seine Braut, mit Ihm hinauszugehen zu den Hügeln und Bergen, und an dem Grünen und Blühen eines lieblichen Frühlings sich mit Ihm zu weiden. Es ist dies kein Frühling der Natur, zu dessen Genuß Er sie ladet. Es ist ein Lenz der Gnade, ein Frühling geistlichen Lebens, aufgesprossen unter dem Thau des Heiligen Geistes in der Gemüthswelt, erblüht in den Armen-Sünder-Seelen unter dem Schöpfer-Odem des werthen Trösters. „Stehe auf, spricht Er, meine Freundin, meine Schöne, und komm her. Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist weg und dahin. Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, - und die Turteltaube läßt sich hören in unserm Lande.“ Bei diesen letztern Worten bleiben wir einige Augenblicke mit unserer Betrachtung stehen, indem wir
- die Taube näher ins Auge faßen,
- auf ihre Stimme lauschen im Lande.
I.
Von einer Taube redet der Bräutigam, die sich hören lasse im Lande, auf den Frühlingsauen. Ihr wißt, daß unter der Taube in einigen Stellen unseres Liedes die Sulamith selbst verstanden wird. Hier nicht. Es haben manche Ausleger gemeint, der Herr beschreibe an unserm Orte die Anbruchszeit des neuen Testamentes, und die Turteltaube sei die Stimme jenes Predigers in der Wüste, Johannes der Herold. Aber unter welchem Bilde hätte dieser Mann im Kameelhaaren-Rocke wohl weniger passend dargestellt werden können, als unter dem eines Täubleins? – Wir meinen, daß unter der Taube nichts Anderes verstanden werden könne, als der werthe Tröster, der Heilige Geist.
Wie sich der Sohn Gottes herabgelassen, ein Lämmlein zu seinem Symbole zu erwählen, so erkohr sich der Geist die Taube. Wem fällt nicht das Wunder am Jordan ein? - Und der Geist des Herr gehört ja wesentlich zu jenem Gnadenfrühling; denn diese Himmelstaube macht ihn. - Daß nun aber der Geist in unserm Texte eine Turteltaube genannt wird, darauf ist weiter kein Gewicht zu legen. Der Herr vergleicht das Gnadenleben mit einem aufsprießenden Lenze der Natur, und in dieses Bild paßte die Wald- und Turteltaube besser, als die zahme.
Soll sich die ganze Tiefe dieses bedeutsamen Symboles uns erschließen, so müssen wir zuförderst die Schlüssel der Historie zur Hand nehmen. Dreimal tritt uns in der heiligen Geschichte dieses geheimnißvolle Sinnbild entgegen. Dreimal unter ähnlichen Umständen, dreimal in ähnlichen Zeitepochen, dreimal, dem Wesen nach, in gleicher Bedeutung.
Zuerst vernehmen wir durch Moses, daß über dem Wüst und Leer der werdenden Erde der Geist Gottes geschwebt, nach dem Buchstaben, gebrütet habe. Der Geist, insofern er die neue Erde bildete, und zu einem Schauplatz des Friedens und der Freude zubereitete, wird hier also einem Vogel, und ohne Zweifel dem lieblichsten und reinsten unter den Vögeln, einer Taube verglichen, die mit ausgebreitetem Fittig brütend über ihren Eiern ruhet. –
Einige hundert Jahre später erscheint uns nun die Gestalt der Taube wieder, und wunderbar! - durchaus unter ähnlichen Umständen, und selbst in einem ähnlichen Zeitpunkt. Auch jetzt ruhen ihre Fittige wieder über einem Wüst und Leer; auch jetzt schwebt sie über den Wassern, aber über den donnernden der Sündfluth, über den verheerenden Zornesflutheu, in denen, nach der Schrift, die erste Welt zu Grunde ging. - Ueber dem Ungeheuern Wassergrabe jener ersten Erde flattert sie daher, das grüne Oelblatt, das Symbol des Friedens, im Munde, und eilt, ein lieblicher Freudenbote, zu Noah, erwünschte Kunde ihm zu bringen. Und was verkündet ihr Erscheinen, und das grüne Blatt in ihrem Munde? - Es verkündet das Ende der göttlichen Gerichte, das Werden einer neuen Schöpfung, und den Anbruch einer Zeit der Gnade, und eines Frieden-Reiches, das in einem neuen, verheißungsvollen Gottesbunde der sündigen Menschheit erblühen werde.
Zum dritten Male erscheint uns die Gestalt der Taube am Ufer des Jordans, schwebend über dem Haupte Christi, da Er unsre Schuld in jenem großen Taufact feierlich und förmlich auf sich nahm, und schweigend sie als seine Schuld bekannte; und fragt doch nur, m. Fr., ob er nicht auch mit dieser dritten Erscheinung wieder dieselbe Bedeutung hat, wie mit der ersten und der zweiten. Abermals schwebt sie über dem Wasser, aber über demjenigen der Johannis-Taufe, in dessen Wellen der Bürge eben, wie gesagt, im Namen unserer Seelen das große Schuldbekenntniß ablegte, und sich feierlich an unserer Statt des göttlichen Zornes und des Todes würdig erklärte. Abermals erscheint sie über einem Wüst und Leer, nämlich über dem der tiefverderbten Menschheit, deren Verderben aber jetzt auf dem Vertreter lastet. Abermals erscheint sie beim Beginne einer neuen Schöpfung, derjenigen nemlich, welche der durch das Blut des Lammes erworbene Geist auf Erden hervorrufen werde, und abermals bringt sie dieselbe Botschaft, verkündend ein Reich des Friedens, der Freude und der Gnade. O! sie sei uns gegrüßt, die liebe Taube dort über der schweigenden Wildniß, die holdselige Botin über den Wellen eines Taufwassers, das nur von unsern Sünden zu uns redet, und nur unsere Fluch- und Todeswürdigkeit uns vorrückt. Was durften wir doch wohl Anderes erwarten, als daß ehestens jener Adler mit seinem „Wehe! Wehe!“ durch die Himmel fliegen, und der Welt ihren ewigen Sturz und Untergang verkünden würde, und siehe, statt des Adlers erscheint über dem Wüst und Leer der Welt die liebe Taube. „Gnade! Gnade!“ lautet ihr Gesang, und Friede und Freude ist ihr süßer Willkomm! - Wir beneiden, wir grüßen sie mit Jauchzen! - Ach besinne sich doch nun, wer noch im Thränenwinkel liegt, und zagt und zittert. Der Löwe auf dem Gipfel Sinai's und Ebals brüllt nicht mehr. Der Oelzweig grünt in unsern Fahnen, und am Horizont der neuen Bundestage schwebt - die Taube.
Fragen wir nun, aus welchem Grunde denn der Heilige Geist die Taube zu seinem Symbol sich ausersehen, so treten uns so viele Vergleichungspunkte entgegen, daß wir uns, der Kürze der Zeit wegen, mit unserer Betrachtung nur auf die wesentlichsten und wichtigsten derselben beschränken dürfen. Die Taube, dieses zärtliche, innige und treue Vögelein, war von je her bei allen Völkern ein Sinnbild getreuer Liebe, und in dieser Beziehung mag ja auch wohl der werthe Tröster eine Taube heißen. Erstaunenswürdig ist die Liebe des ewigen Vaters, der, um eine todeswürdige Art dem Abgrund eines tausendmal verdienten, endlosen Jammers zu entreißen, das einzig geliebte Kind seines Herzens sich von der Brust riß, um es als Schlachtopfer in die Feuerflammen Seines Zorns zu tauchen, und es der Wuth der Hölle preiszugeben. Nicht zu ergründen ist die Liebe unseres Gottes, der vom Stuhl der Majestät auf das verfluchte Holz herniederstieg, um für Knechte Belials und der Sünde das heilige gebenedeite Blut seines Herzens zu verströmen, und mit diesem unschätzbaren Lösegeld uns Elende wider unsern Willen - denn wir wollten diesen Erlöser nicht - aus der Gewalt des Teufels und der Hölle zu erretten. Aber nicht weniger groß und wunderbar und unausforschlich ist die Liebe des Trösters aus der Höhe, des reinen, Heiligen Geistes, der's sich aus freien Stücken zum Amt und Beruf gemacht hat, Drachennester zu zerstören, Gräuelhöhlen auszufegen, in Modergruben zu wirken, unter verdorrten Todtengebeinen sein Wesen zu treiben, und in Werkstätten zu arbeiten, davor ihn nicht anders als grauen und ekeln kann. Unsere Herzen, welche Gemächer, welche Verwesungsgrüfte, welche Schlupfwinkel der Ottern und Schlangengezüchte, voller Unflath, Schwel und Greuel! Wüsteneien, Wildnisse, Gehenna'sthäler, Sündenspeicher! Und in diese Sodoma's, Zeboim's und Adama's kehrt er ein, schlägt sein Zelt drin auf, macht förmlich Wohnung drinnen, und will nicht ruhen, bis er diese unsauberen Tennen gefegt, diese besudelten Stätten vom letzten Stäublein gereinigt hat. Die liebe Taube! - Da macht sie sich nun eine Freude daraus, himmlisches Licht hineinzutragen in diese nächtlichen Grüfte, in diesen Höhlen den Honig anzubauen, den sie aus den Blumen der Bibel sammelt, und aus der Fülle Christi hernimmt, und drin zu zeugen, zu girren, zu beten und zu singen. - Und ihre Liebe, wie ist sie treu und unverdrossen. Ist sie einmal bei uns eingezogen, die Taube, so bleibt sie, und zieht nicht wieder von dannen. „Ich will euch einen andern Tröster senden,“ sprach der Heiland, „der wird bei euch bleiben ewiglich.“ Ja, es gibt nichts Rührenderes, als die Liebestreue des Heiligen Geistes. Leider geschieht's wohl einmal, daß seine Leute ihm entlaufen, und sich wieder in die Welt verirren. Meint ihr, Er ließe sie? - Wie könnte Er! - Er eilt ihnen nach auf Schritt und Tritt, läßt ihnen keine Ruhe in ihren Sünden, straft sie, gibt ihnen lichte Augenblicke in ihrem Rausch und Taumel, warnt, lockt und zieht sie mit allmächtigen Zügen, und ruft sein: „Kehret wieder!“ hinter ihnen her, bis das verlaufene Schäflein sich weinend und schluchzend wieder bei der Heerde eingefunden. Und denkt nur nicht, nun werde er mit dem Donner allerlei bitterer Vorwürfe über dasselbe herfallen. O im Gegentheil. Nun weiß Er nicht, was Er alles thun soll, um nur dem weinenden Kinde die Augen wieder zu trocknen. Die süßesten Lieder girrt Er ihm vor von der Bundestreue Jehovas, ruft ihm ein um das andere Mal durch die Seele: „o weine nicht; es sind auch Gaben da für die Abtrünnigen,“ und tröstet sie überschwänglicher vielleicht, als er es je zuvor gethan. Ja, in Wahrheit, wenn die Taube das Symbol herzinniger Liebestreue ist, dann mag auch der Heilige Geist wohl eine Taube heißen. - Die Taube ist von allen Vögeln der sauberste und reinste. An unflätigen Orten mag sie nicht herbergen. Der werthe Tröster auch nicht. „Wie?“ - Nun, erschrecket nicht ohne Noth. „Aber unsere Herzen!“ Freilich, an Unrath fehlt's da nicht. Aber ihr merkt ja auch, daß es der Taube noch gar nicht recht und wohl darinnen ist. Ist sie nicht unaufhörlich drin am Scharren und am Räumen, am Fegen und am Kehren? - Durchaus will sie es rein haben, das Haus, und wäre nimmer darin eingekehrt, hätte sie nicht die sichere Aussicht, daß sie es endlich ganz rein und ganz gesäubert darstellen werde. Wenn ein Geist in euch ist, ihr Lieben, dem es im Unflath wohl sein, und der sich mit der Sünde vertragen kann, so merkt daran, der Geist sei nicht die Taube. Wo die Taube wohnt, da ist ein beständiges Zürnen in der Seele wider den Schlangensaamen, ein Ekel daran, ein Abscheu dawider, und eine heilige, eifrige Lust, unter die Dornen zu reißen, und sie auf einem Haufen in Brand zu stecken. Diese Taube gelüstet wider das Fleisch, sagt Paulus, und das Fleisch wider die Taube. So ist die Fehde da. Ja, wo der Geist wohnt, da stäubt das innere Gefilde vom Streit; denn nicht ruhen wird er, dieser göttliche Kämpfer, bis er der letzten Schlange in uns den Kopf zerquetscht, und das letzte Basilisken-Ei unter seinen gen zertreten hat. - O wie empfindlich ist das Täublein Gottes? - Von den Tauben sagt man, daß eine Falken- oder Geierfeder, auf die sie stießen, schon hinreiche, sie beben und schaudern zu machen. So darf auch dem Geiste in unserem Herzen nur der geringste und leiseste Gedanke sich zeigen, der nicht taugt, und sofort ist der Heilige in Bewegung. Abscheu ergreift ihn, er sträubt sich und stößt zürnend von sich ab den Greuel. - Nehmt ihr zwischen dem Verderben eueres Wesens solch einen abgeschwornen Feind jedweden Unflats lebendig wahr, o wohl euch dann: die Taube ist im Schlage.
Ein sanftes Vöglein ist die Taube, und auch in dieser Beziehung ein treffend Bild des Gnadengeistes. In Gestalt einer Taube kam der Geist auf Jesum nieder. „Sehet, hieß das, hier ist der Mann, der nicht schreien wird noch rufen, und man wird seine Stimme nicht hören auf der Gasse. Das zerstoß'ne Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht nicht auslöschen, und wird das Recht wahrhaftiglich lehren.“ Als einstmals bei jenem Flecken, der dem Herrn Jesu die Aufnahme versagte, die beiden Donners-Söhne in die heftigen Worte ausbrachen: „Herr, willst du, so wollen wir sagen, daß Feuer vom Himmel falle, und fresse diese Leute, wie Elias that!“ - da wandte Jesus sich um, bedreuete sie, und sprach: „Wisset ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid?“ Eine sanfte Taube ist Christi Geist. Der richtet nicht, verdammet nicht, schilt nicht wieder, wo er gescholten wird, und ist nicht so schnell mit Feuer vom Himmel da.- Tauben-Art bringt er mit sich, wo er einkehrt. Wie könnte es anders sein? Er macht uns zu armen Sündern, er überführt uns, wie allein uns freie Gnade retten könne. Das beugt, macht klein, still, nachsichtsvoll und milde. Da läßt man gern die Hand von Anders ab, und sieht nicht Splitter mehr, des eignen Balkens wegen. Freilich, auch die Schäflein Gottes können manchmal wieder in ein Aufbrausen, Eifern und Richten hineingerathen, daß von der Lamms-Natur nichts mehr zu sehen ist. Aber da ist es denn auch nicht das Lamm, das rumort, sondern der Leviathan des alten Menschen, der sein Maul einmal wieder aufthut; nicht Jacob, sondern Esau mit der rauhen Haut, der wohl verwundet in uns ist zum Tode, aber noch nicht gestorben. Da ist es das Fleisch, und nicht der Geist. Den verdreußt es ernstlich und kommt mit der Ruthe hinterdrein, rückt's uns bitterlich vor, schilt und züchtigt, und gönnt uns nicht Rast noch Ruh, bis wir uns reuig gebeugt und schamroth an die Brust geschlagen. So zeigt sich's: Er ist eine Taube. Ein Friedens- und Liebesgeist, dem stillen, sanften Wesen hold und zugethan.
In der Schöpfungsgeschichte schon, wie wir vorhin gesehen, begegnet uns der Heilige Geist in der Gestalt, oder doch unter dem Bilde eines Vogels, - ohne Zweifel einer Taube. Der Geist Gottes, heißt es, schwebte brütend über den Wassern, gleich einem Vöglein, das mit ausgebreiteten Flügeln über seinen Eiern ruhet. Es wird uns mit jenem bildlichen Ausdrucke angedeutet, daß auch der Geist bei der Erschaffung thätig gewesen sei, das Wüst und Leer gebildet, und der jungen Erde Gestalt und Schöne gegeben habe. - Aehnliche Werke Verrichtet er ohne Unterlaß geistlich, in der menschlichen Gemüthswelt. Während das Herz noch ein Chaos ist, eine vom Satan ruinirte Welt, wüst und leer, und Finsterniß des Unglaubens und der Blindheit auf der Tiefe, da senkt sich aus freiem Liebesdrange der Geist darauf hernieder, breitet seinen Fittich drüber aus, und überschattet diese Wildniß, wie er die Jungfrau überschattete. Nun heißt es: „es werde Licht!“ und es wird Licht. Wir blicken in die nächtlichen Abgründe unseres zerrütteten Wesens hinab, und schaudern zusammen. - Es wird das Licht geschieden von der Finsterniß. Es kommt, uns zum Bewußtsein, wie wir sein sollten, und nicht sind. Wir lernen geistlich richten, und Gutes und Böses nach der Regel des Heiligthums unterscheiden. Und Gott nennt das Licht Tag, die Finsterniß Nacht. Und siehe, ehe wir es uns versehen, ist schon Licht des neuen Lebens in uns, das die Finsterniß des alten haßt und straft und drängt, und aus Abend und Morgen ist der erste Tag geworden. Und unter dem Fittich und Allmachts-Odem des Trösters schreitet das geistliche Schöpfungswerk weiter und weiter seiner Vollendung entgegen. Der verwüstete Boden bekleidet sich mit dem Grün des Gnadendurstes, des Betens und des Seufzens. Die Himmelsblumen des Glaubens und der Liebe sprießen auf. Die neue Welt ist da, die Morgensterne loben die Macht der Gnade, und der innere Geistesmensch, eine lebendige Seele nach Christi Bild geschaffen, durchwandelt leuchtenden Auges das sel'ge Paradies der Gemeinschaft seines Gottes. -
„Der Geist schwebete über den Wassern.“ Dieser Act findet auch noch in einer andern Beziehung in der Gemüthswelt der Bekehrten sein lebendiges Gegenbild. Mancherlei Wasser können die gläubige Seele noch wohl überströmen, aber der Geist, das Leben, das er würkte, bricht durch, behält die Oberhand, bleibt drüber. Ein Wasser ist die Sinnlichkeit der adamitischen Natur. Wie kann das manchmal seine Wellen wieder schlagen; indeß der Geist bleibt drüber. Er gleicht dem Oel. Da geuß du Wasser auf, so viel du willst, du wirst's nicht unter bringen. Das Wasser sinkt zur Tiefe, das Oel steigt siegend auf und schwimmt darüber. - Ein Wasser sind die Schwachheitssünden, in die wir fallen. In dem Momente, da wir straucheln, ist das Oel darunter. Doch nur Geduld. - O sieh die hellen Farben der Magdalena- und der Petrus-Thränen nach dem Falle! - Siehst du's? - Da steigt das Oel wieder empor; der Geist über dem Wasser. - Ein Wasser sind die Trübsale, die uns überfallen. Sie brechen herein, und wir sind erschrocken, zittern, zagen, schreien und wanken. Ach eine brandende Fluth über die arme Seele, und der Geist ist in den Tiefen. Aber wartet; es wird schon anders. Man besinnt sich. Man beugt das Knie, man seufzt: „Herr hilf! - man wirft sich an das Herz des ewigen Vaters, man hofft, man spricht zu seiner Seele: „was betrübst du dich?“ man glaubt, ergibt sich, hebt sein Haupt empor, wird heiter. Das Wasser ist bekämpft und in den Grund gerungen, der Geist schwebt drüber. Ein Wasser sind die Gedanken der Erde, die Sorgen der Zeit. Wie können die auch den Heiligen Gottes manchmal wieder über den Scheitel gehen, sein Gemüth durchtoben, und in den niedern Sphären ihn verrammelt halten. Doch eine Weile nur. Ehe wir es uns versehen, hat die versenkte Taube auch aus diesen Strudeln sich wieder emporgewunden, und mit beschwichtigtem Gemüth, mit freiem, klarem Geiste singen wir auf's Neue durch's Getümmel: „ich reise nach dem Vaterland, nach dem Jerusalem da droben!“ - So läßt der Geist durch nichts sich hindern, über den Wassern zu schweben, und ist in jedem Streit der „Letzte auf dem Plane.“ Wenn indessen die Schrift den heiligen Geist eine Taube nennt, so hat sie doch vorzugsweise die Taube Noahs bei dieser Vergleichung im Auge, jene erwünschte Botin, mit dem Symbol des Friedens und der Freude im Munde, und es ist mehr das Trösteramt des Heiligen Geistes, an das wir durch jenes liebliche Bild erinnert werden, als irgend eins seiner andern Werke und Geschäfte. - Wenn der Heiland vom Geiste bezeugt, „er werde es von dem Seinigen nehmen und uns verkünden,“ was heißt das anders, als er sei die Taube, welche der Arche des neutestamentlichen Kirchleins den Oelzweig zutrage. - Der Geist ist der Zueigner, der Versiegter dessen, was der Sohn uns erworben. Zu einem Innerlichen macht er, was draußen bereitet ward, er bricht die Frucht vom Kreuz, um nun auch das Herz damit zu speisen, er leitet die lebendigen Wasser des offnen Brunnens in den Grund der Seele, und trägt das Blut des erwürgten Lämmleins als ein Blut der Besprengung in's innere Heiligthum. O der süßen, willkommnen Erscheinung, wenn über den brandenden Wogen geistlicher Trostlosigkeit und bitterer Sündenschmerzen unversehens diese Taube Gottes die Flügel schlägt, und mit der ersehnten Gnadenbotschaft dem zitternden, gejagten Gemüthe entgegen eilt. O, der sel'gen Ruhe nach dem Kampfe, wenn nun durch ihr Geschäft unserm Geiste das Zeugniß wird, daß wir Kinder Gottes sind, und das Pfand unserer ewigen Erlösung, köstlicher als Zepter und Königskronen, uns in den Schooß fällt. - Nun sitzen wir unter dem Schatten deß, des wir begehren, und seine Frucht ist unserm Gaumen süße. Nun lauten alle Verheißungen der Schrift an uns. Der ganze Bibelbaum scheint nur da zu sein, um uns sein reichbeladenes Gezweig entgegenzustrecken. Uns meint das brechende Jesusauge, da es noch einmal vom Kreuze liebend zur Erde niederschaut; an uns gedenkt sein Herz, da er daher ruft: „ich lasse mein Leben für die Lämmer“ und nach uns strecken sich die blutigen Arme, da sie am Holze sich weit auseinander breiten. Der Trost der Versöhnung zerschmilzt wie träufelnder Honig in den Gründen unseres Wesens, Friede Gottes umsäuselt uns, das gepreßte Herz dehnt sich aus, wie ein Meer; - der Oelzweig ist in der Arche, durch den Dienst der lieben gebenedeiten Taube.
Gedenken wir auch daran noch, daß der Oelzweig zugleich ein Symbol des Sieges und Triumphs und ein Schmuck der Ehre ist, und daß Noah, dem die Taube den Oelzweig zutrug, ein Vorbild Christi war, so veranschaulicht sich uns in diesem Bilde wieder eine That des Heiligen Geistes, wodurch er sein Dasein in wiedergebornen Seelen beurkundet. Auch diese Himmelstaube weiß für alle Kronen und Kränze nur Ein würdiges Haupt, und der letzte Zweck all' ihres Thuns und Wirkens ist die Verherrlichung des Herrn Jesu. Sie nimmt der Kreatur, in der sie wohnt, die Ehre, um sie dem Herrn, und Ihm ausschließlich zuzutragen; sie ist es, die den gläubigen Herzen tief und unauslöschlich die Losung eindrückt: „Nicht uns, nicht uns, Herr, sondern Deinem Namen gib Preis, um Deine Gnade und Wahrheit!“ und sie gibt dem Gemüthe jene heilige Verfassung, in welcher der Mensch vor dem leisesten Gelüste, in sich selber etwas sein zu wollen, wie vor einem Funken höllischen Aufruhrs zurückbebt. - „Derselbige, sagt der Heiland selbst vom werthen Tröster, wird mich verklären.“ Wenn nun ein Geist in dir sich regt, der darauf aus ist, sei's in plumper oder feiner Weise, dich selber groß zu machen, so wisse, der Geist ist nicht - die Taube. Die Taube will nur Kronen für den Heiland. -
II.
Nachdem wir nun einen Blick auf die Gottestaube selbst geworfen, so lasset uns nun auch ihrer Stimme lauschen. Es lohnt sich der Mühe, denn ihr Girren ist wunderbar und lieblich. - Die Turteltaube, sagt der Bräutigam zu seiner Sulamith, lasset sich hören in unserm Lande. Und wir sagen, Gottlob! Welche Mißtöne würden kreischend die Welt durchgellen, wäre nie ein anderer Geist darin zu Wort gekommen, als der Menschengeist. -
Es war nie eine Zeit auf Erden, da die Taube Gottes ganz geschwiegen hätte. Da oder dort, und in einzelnen Tönen wenigstens, ließ sie sich immer hören. - Was zur Zeit der Sündfluth durch den Mund Noahs so ernstlich warnend und so freundlich lockend zu den Herzen der Sünder sprach; was in der stillen Patriarchenwelt so angenehme Dinge verkündete und jenen Tag ansagte, auf welchen Abraham sich freute; was durch Moses so erfreulich von einem Propheten sprach, wie er, den der Herr erwecken würde, was auf Bethlehems Hügeln in so süßen Liedern sich vernehmen ließ zu den Harfentönen des königlichen Sängers; was durch die Propheten so wunderbare Sprüche that, so seliges Geheimniß offenbarte, - sagt an, was war's? - was anders, meine Lieben, als das Täublein; was anders, als die Stimme jenes Geistes, der auch die Tiefen der Gottheit erforschet. Sein Girren ist es, was euch aus allen jenen Verheißungen, Trostsprüchen und Lockungen entgegentönt. Diese Psalmen dichtet Er, Er singt euch diese Lieder. Ja, in dem Bibelgarten sitzt sie auf jedem Ast, die liebe Taube: da vernehmt ihr ihre Stimme in den mannigfaltigsten Tönen, Weisen und Modulationen. Und wie herzempfindlich und durchdringlich sie da mitunter singt, wie salbungsvoll, wie tröstlich und erquickend, das wissen die, die ein Ohr haben für dieses Taubengirren in den Laubgehegen der Schrift, das einem an's Gemüthe gehen kann zuweilen, daß man schier vor Liebe davon erkranken, und in sel'ger Rührung gar zerschmelzen mögte.
Die Turteltaube lasset sich hören im Lande, - nicht in der Schrift bloß, auch im Lande unserer Herzen; und auch da girrt sie in mannigfaltigen Tönen und Accorden. Freilich girren auch wohl andere Vögel drinnen als der Geist; aber die Stimme der Taube läßt sich unterscheiden. Hörst du z. B. einen Geist zu dir reden, der dir als Hort deines Heils und als Grund deiner Hoffnung etwas Anderes anpreiset, als Christum und sein Blut, und dir von guten Seiten redet, die du habest, von eignen Kräften und Vermögenheiten, die in dir lägen; schlag die Thür ihm zu. Es ist die Taube nicht, es ist ein Fuchs, ein Rabe. Schreit's in dich hinein: „Ei, Friede! Friede! es hat ja nicht Gefahr!“ - verrammle dein Ohr. Es ist ein Höllengeist in deiner Nähe. Spricht's: „eile aus Sodom, und rette deine Seele!“ nimm zu dir ein, was also redet; es ist die Taube. Spricht's: „deine Sünden sind zu groß; für dich ist kein Erbarmen!“ - greis zu den Waffen; es brüllt der Löwe. - Ruft es: „und ob sie roth sind, wie Rosinfarbe, das Blut des Lammes macht sie weiß wie Wolle!“ nimm's an, es girrt die Taube. Heißt es: „erst werde würdig, erst heilige dich, dann komme zu Jesu!“ - schlag's in den Wind; es raunt's ein Irrgeist. Spricht's: „komm nur, so gut du weißt zu kommen, tritt kühn nur, wie du bist, heran, dein Heiland nimmt die Sünder an!“ - dann horch auf, laß dir's nicht zweimal sagen; die Taube läßt sich hören im Lande.
Die heilige Gottestaube girrt zu unseren Herzen; dann aber girrt sie aus uns wieder heraus in Bekenntnissen, in Belehrungen, in Tröstungen, in Gesängen und Gebeten, und lasset sich auch in dieser Weise hören im Lande. Ob es aber immer die Stimme der Taube ist? - Es ist wahr, der Rabe des alten Menschen weiß es mitunter in der Nachäffung jenes Taubengirrens zu einer solchen Fertigkeit zu bringen, daß gar feine und geübte Sinne dazu gehören, um aus diesem wohlklingenden Getöne den versteckten Raben doch herauszuwittern. Kommen doch sogar Gemüthsbewegungen und innere Zustände vor, an denen der Heilige Geist nicht den geringsten Antheil hat, und die durchaus der Natur, und nicht der Gnade zugeschrieben sind, - und doch sind sie den Wirkungen des Geistes so ähnlich, daß oft die schärfsten Augen sich daran versehen, und die Unterscheidungsgabe des geübtesten Richters daran zu Schanden wird. Mir fällt hier die bekannte Begebenheit aus der Geschichte Jephta's ein, des Helden aus Gilead, der, nachdem er die feindlichen Ephraimiten in die Flucht geschlagen, und in die Wüste gedrängt, die Fürth des Jordans einnahm und bei sich beschloß, Keinen der Feinde lebendig über den Strom in sein Vaterland zurückkehren zu lassen. Die armen Flüchtlinge hören von diesem entsetzlichen Vorsatz ihres Widersachers; indeß was ist zu machen. - In der Wüste können sie nicht länger bleiben, denn ihr Vorrath ist verzehrt; die Flucht über den Jordan ist ihnen abgeschnitten, weil sein Ufer besetzt, und alle Nachen in Beschlag genommen sind, und wollen sie nun nicht dem Hungertode zur Beute werden, und in der Steppe elendiglich verderben, so ist ihnen nichts Anderes übrig, als auf Gnade und Ungnade sich den Feinden zu übergeben. Dies geschieht. Gebeugt treten sie herzu, bitten um Verschonung, und unterstützen ihr Gesuch mit der lügnerischen Versicherung, - sie seien nicht aus Ephraim. „So? denkt Jephta, das soll sich ausweisen. Laßt uns die Probe machen.“ Und er fordert sie einzeln vor sich. „Bist du kein Ephraimiter,“ heißt es, „so sprich: Schiboleth!“ - Wehe, welche Aufgabe! die konnte keine Ephraimiter-Kehle lösen. Die armen Leute lispelten, und wie sie sich zerplagten, ein Siboleth kam heraus, aber kein Schiboleth, und sofort blitzten die Schwerter unbarmherzig über ihren Häuptern. - Welch eine ernstliche und bedenkliche Wahrheit, die dieser Auftritt uns veranschaulicht. Ach, auch vor dem, der die Fürth besetzt hält, hinter welcher das Kanaan Gottes liegt, kommt es auf ein scheinbar sehr geringes Etwas an. Je nachdem das uns inne wohnt oder mangelt, werden wir durchgelassen, oder fallen unter dem Schwert des Zornes, ohne Berücksichtigung dessen, was wir sonst etwa haben oder nicht haben. Die geistliche Gestalt eines Menschen, der verworfen wird, kann der Gestalt eines andern, der angenommen wird, so ähnlich sehen, wie das Siboleth dem Schiboleth. Wer merkt da einen sonderlichen Unterschied? - Aber Gott sieht und scheidet scharf. Vor Ihm ist zwischen dem Wesen jener beiden Menschen ein Unterschied von so bedeutender Art, wie der Unterschied war vor Japhta zwischen dem Schiboleth und Siboleth, indem das erstere ihm den befreundeten Gileaditer, das andere den ephraimitischen Rebellen kenntlich machte.
Sehet hier zween Menschen. Beide schlagen an ihre Brust, beiden schwimmt das Auge in Thränen, beide nennen sich die vornehmsten unter den Sündern, und beide meinen's redlich. Wir sehen ihre Thränen, wir hören ihr Bekenntniß. Bei beiden ein Schmerz, bei beiden eine Klage. Wir merken keinen Unterschied, wir halten sie beide für bußfertige Sünder; und hätten wir die Kronen der Gerechtigkeit zu vergeben, wir kränzten beide mit demselben Schmucke. - Beide erscheinen „an der Fürth des Jordans,“ beide stehen vor dem Richter, und siehe da! hier wird Einer nur gekrönt, und der Andere - ist verloren. Mein Gott, warum?! - Siboleth sagte der Eine, Schiboleth der Andere. Wir merkten's nicht. Der Herr hört scharf. Nur ein Si statt Schi, aber Unterschieds genug, um beide ewiglich zu scheiden. Der Eine schlug an seine Brust aus Angst, der Andere aus Liebe. Den Einen machte die Hölle weinen, den andern das Kreuz. Der Eine klagte: „o, daß ich mir, mir solch Verderben zugezogen;“ der Andere: „ach, daß ich Dir, Herr Jesu, solche Müh' und Arbeit machte!“ der Eine bejammerte die Folgen der Sünde, der Andere weinte um die Sünde selber. Der Eine hätte um die Sünde, nie geweint, wenn sie nicht unglückselig machte, denn er suchte nur sein Wohlsein; der Andere würde die Sünde verabscheut haben, wenn sie auch auf seine Seligkeit keinen Einfluß hätte; denn er suchte die Ehre seines Gottes. Kurz, wie beide Menschen bis aus die Haut entkleidet werden, da findet sich's, die Selbstsucht thut Buße in dem Einen, die Liebe weinte in dem Andern. In dem Einem stak ein büßender Kam, in dem Andern eine thränende Magdalena. In dem Einem war nichts als Natur, in dem Andern Geist und Gnade. Also ein Schiboleth und ein Siboleth. Unmerklicher, und doch himmelweiter, ungeheurer, für alle Ewigkeiten entscheidender Unterschied! Zweie liegen am Wege.
Beide schreien: „o Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Keine Heuchler. Beide meinen's so. Wir sprechen sie selig. Ob auch der Richter? - An der Fürth des Jordans wird sich's entscheiden. Vielleicht, ob sie Beide dasselbe thaten und thun, fährt da der Wirbelwind zwischen sie, und wirft sie für immer auseinander; in die Höhe den Einen, in den Abgrund den Andern. Mein Gott, warum? - Ja, wir meinten, Beide hätten Schiboleth gesagt. Ach, bei dem Einen war es nur ein Si. Wir merkten's nicht. Das ward sein Untergang. Der Eine schrie den Heiland an, wie Bartimäus und der Schacher; der Andere, wie jene Teufel: „Herr! heiße uns nur nicht in die Tiefe fahren.“ Der Eine dachte: „ei, hätt' ich nur Jesum, was früg' ich nach dem Himmel!“ Der Andere: „ei, hätt' ich nur den Himmel, was früg' ich dann nach Jesus!“ Der Eine seufzte nach Jesu Liebesherzen, der Andere nach Jesu Retterhänden. In dem Einen schrie die Inbrunst des Liebhabers, in dem Andern nur die Verzweiflung des Hülflosen, der nur gerettet sein will, gleich viel, wer ihn rette, und dem der Teufel so recht wäre, wie Jesus, wenn er ihn eben so wohl von der Verdammniß helfen könnte. Unsere stumpfen Sinne wußten das nicht so herauszuwittern. Der auf dem Stuhle sitzt, hört es bald, das sei nicht das Schiboleth des Gileaditers. - Seine Ohren lauschen nach dem Taubengirren. Vor Ihm gilt und besteht nichts, als Geist vom Geiste.
Man kann also nicht sagen, meine Lieben, das wahre Herzenschristenthum bestehe in Thränen, oder in Buße, oder in Angst um's Seligwerden. Man kann nicht sagen, daß es bestehe in Gebeten, in einem gottesdienstlichen Wandel, in evangelischer Einsicht und Erkenntniß. Man kann nicht sagen, es bestehe in Begeisterung für das Evangelium, in Rührungen, die es in uns rege macht, in einem Eifer für die Verbreitung der göttlichen Wahrheit. Man kann nicht sagen, daß es bestehe in einem kräftigen Zeugen von Christo, in einem freimüthigen Bekennen seines Namens, und in der Fertigkeit, erbaulich und belehrend von Ihm zu reden. Brüder, es kann dies Alles ein Siboleth sein, und wehe uns, wenn es als solches an der Furth des Jordans erkannt wird. Es kann dies Alles sein Gewächs aus Fleisch und Blut, und selbstisches Naturwerk. - In jenem göttlichen Examen wird's aber nur dann bestehen und gelten, wenn es Werk und Erzeugniß ist des werthen Trösters, und die Seele drin - die Liebe Jesu Christi. -
Ob in frommen Aeußerungen die Taube girrt, oder der alte Adam, der es ihr nur abgelernt, das, wie gesagt, wird in vielen Fällen auch der feinste geistliche Sinn nicht zu entscheiden vermögen. - Aber man hört's mitunter doch auch wohl heraus. Od Einer redet, was der Andere, das wie ist anders. Man merkt einen Unterschied, wie Schi- und Siboleth, und fühlt, bei gleicher Form und Sprache ist der ein Gileaditer, aber jener - ein Mann aus Ephraim. Worin der Unterschied denn stecke, fragt ihr? - Ja, das ist so ein Etwas, das man mit einem sechsten Sinn wohl hört, aber nennen und bezeichnen läßt sich's nicht. Es gibt Predigten, Lieder, Schriften und Gebete, die alle gleich rechtsinnig sind, gleich wahr, gleich fromm und evangelisch, aber man hört es ganz genau, hier girrt die Taube, dort ein anderer Vogel; dies ist vom Geiste, jenes Natur; dies ist Original, das nur Copie; hier Leben, dort ein Gemälde an die Wand getünchet.
Die Turteltaube läßt sich hören aus den Kindern Gottes; aber nicht in gleicher Weise, nicht in denselben Tönen. Hier tönt uns die Stimme traurig und seufzend an aus Thränenwinkeln: „Herr Jesu, erbarme Dich meiner!“ dort schmachtend, voll von brünstigem Liebessehnen: „Ach, wann werd' ich dahin kommen, daß ich Dein Antlitz schaue.“ Hier girrt sie klagbar, erschütternd: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen vom Leibe dieses Todes!“ dort singt das Täublein Hochzeitsfreuden-Lieder: „Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Rosen weidet!“ Hier ist sie beredt und überfließend: „Kommet her, höret zu, Alle, die ihr Gott fürchtet, ich will erzählen, was Er an meiner Seele gethan hat!“ Ein andermal ist sie wieder einsylbig; ein „Ach!“ ein „O!“ mehr hört man nicht. Aber was für ein „O!“ und „Ach!“ - Getön, das in den Chor der Himmel hallet. Bald stöhnt sie aus dem Loch der Grube: „Sei du mir nur nicht schrecklich, meine Zuversicht in der Noth!“ Bald hören wir sie girren durch tiefen Kampf und Sturm, zwar leise, aber vernehmlich doch und tröstlich. Es kann den finstern Mächten wohl einmal gelingen, einer begnadigten Seele Alles zu verdächtigen, was sie hat, und selbst an dem Fels ihrer Hoffnung, an dem ganzen Worte Gottes sie irre zu machen, daß die Angefochtene bekennt, sie glaube an keinen Gott und Heiland mehr, und zweifle an dem Dasein des Himmels und der Hölle. Was ist da doch noch zu hören von dem Girren unsrer Taube? Nichts, sollte man sagen. Hier krächzt der Rabe. Aber man lausche nur genau. Freilich in den Zweiflern, als solchen, ist die Taubenstimme nicht. Aber in der Klagweise ist sie, womit die angefochtene Seele ihre Zweifel uns bekennt. In dem Seufzen und Stöhnen ist sie, mit welchem das umdunkelte Gemüth seinen Unglauben bejammert. In dem schmachtenden Geschrei, in dem ringenden Flehen ist sie, womit das Herz den Herrn anläuft, daß er sein Licht doch wiedersenden wolle. In diesem Allen girrt, klagt und seufzt - die Taube. - Seht, so läßt sie sich unter den Geheiligten Gottes in den mannigfaltigsten Weisen und Modulationen vernehmen, und ist doch überall dieselbe Taube.
„Die Turteltaube läßt sich hören im Lande!“ Gottlob, es ist eine Zeit herangebrochen, in welcher jener Worte auch auf das Land, in dem wir wohnen, wieder eine neue und erfreuliche Anwendung gefunden haben. Beginnt's doch wieder zu grünen und zu blühen in der verkommenen, abgestorbenen Christenkirche, die alte, eisige Winternacht fängt an zu weichen, laue Frühlingslüfte durchwehen wieder, eine schön're Zukunft uns verheißend, den weiten Christusgarten, und die Turteltaube, die lang' verkannte und verbannte, hat sich wieder eingestellt im Lande. - Wie manche Gemeine, der sonst nichts anderes als das Rabengekrächze des trostlosesten Unglaubens zu Ohren kam, ist jetzt wieder so glücklich, an der Stimme jenes Täubleins sich erquicken zu können. - Wie manche Zeugnisse, Gebete, Lieder und Bekenntnisse durchtönen seit Kurzem die Kirche wieder, in welchen das Girren der Taube Gottes unverkennbar und auf die herzerquickendste Weise sich vernehmen läßt. Aber was sich Liebliches in unsern Tagen regt und wegt, es ist nur erst die Morgenröthe einer unendlich schönern Zeit, die mit Eile heranrückt. - Große Verheißungen hangen noch wie segensschwangere Wolken über der Kirche. Glänzende Zusagen stehen noch wie geheimnißvolle Freudenboten an ihren Pforten. - O harre, Sulamith, und sei getrost. Laß die Stürme und die Schauer dich nicht bange machen, die jetzt noch da und dort die Luft durchbrausen. - Es ist das Ringen nur des Lenzes mit dem Winter, des Lebens mit dem Tode. Der Tod wird unterliegen, und eh' du dich's versiehst, heißt es zu dir aufs Neue in einem großen, reichen Sinne: „Stehe auf, meine Freundin, meine Schöne und komm her. Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist weg und dahin. Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbei gekommen >und die Turteltaube läßt sich hören in unserm Lande!“
O, der süßen Zeit! der Herr beflügle sie. Wir aber singen unterdessen:
Komm denn, liebe Taube!
Unser Aller Glaube
Nimmt dich zu uns ein.
Wohnest du bei Keinen,
Als nur bei den Reinen,
O, so mach' uns rein!
Taubenart bringt Himmelfahrt.
Trag' uns einst auf deinen Flügeln
Zu den Sternenhügeln. Amen.