Kähler, Carl Nikolaus - Auslegung der Epistel Pauli an die Philipper in 25 Predigten - Vierundzwanzigste Predigt.
Herr, versiegle hier im Leben
Meinen Geist durch deinen Geist;
Lass ihn mir das Zeugnis geben,
Dass du mich dort erben heiß'st;
Damit zeichne Haupt und Herz,
Dass ich, unter Freud' und Schmerz,
Deinen großen Namen preise,
Weil ich dir verbunden heiße.
Salomo nennt uns Dinge, die nicht zu sättigen sind (Sprüche 30), und er rechnet dazu die Erde, die nicht Wassers satt wird, und das Feuer, welches nicht spricht: Es ist genug. Gehört zu dem Unersättlichen nicht auch des Menschen Herz? Ja, ob auch die Erde satt würde des Wassers und das Feuer spräche: Es ist genug, so würde doch vieler Menschen Herz nicht satt, und ob ihnen auch die Reichtümer Salomo's zufielen, so sprachen sie dennoch: Mehr! Mehr! Das Verlangen der Kreaturen geht nicht über ihr tägliches Bedürfnis hinaus, denn kein Ochse oder Pferd begehrt ganze Scheunen voll Futter, sondern lässt sich genügen an dem vollen Trog oder der vollen Krippe; nur des Menschen Verlangen kennt kein Maß und Ziel. Wie hat man sich das zu erklären? Es hängt mit des Menschen Natur zusammen, dass er nämlich nicht nur ein irdisches, sondern zugleich ein überirdisches Wesen ist, geschaffen mit einer Seele, die bestimmt ist, des ewigen Lebens teilhaftig zu werden. Fällt nun die Seele ab von Gott, so geht freilich die Seligkeit für sie verloren, aber das unendliche Verlangen bleibt, nur dass es sich jetzt zu den irdischen Dingen neigt und unersättlich ist und durch Nichts gestillt werden kann, ob auch dem Menschen Salomo's Schätze zufielen. Wie ist dem abzuhelfen? Nur durch Ein Mittel: - werde ein Christ, so verwandelt sich dein unendliches Verlangen in einen Hunger nach der Gerechtigkeit, und stillt dann Gott dies dein Verlangen - er aber tut es nach Christi Wort (Matth. 5): Selig sind, die da hungert nach der Gerechtigkeit Gottes, denn sie sollen satt werden: - so wendet sich deine Sehnsucht von den irdischen Dingen ab und du bist zufrieden, selbst wenn du, wie Lazarus, nichts hast als die Brosamen, die von eines Reichen Tisch fallen. Dass es so ist, sagt nicht nur die Schrift, sondern die Geschichte und die Erfahrung bestätigen es in vielen Beispielen. Unser heutiger Text führt uns ein solches Beispiel vor, es ist das des Apostels Paulus.
Phil. 4, v. 10 bis 13:
**Ich bin aber höchlich erfreut in dem Herrn, dass ihr wieder wacker geworden seid für mich zu sorgen, wie wohl ihr allewege gesorgt habt, aber die Zeit hat es nicht wollen leiden. Nicht sage ich das des Mangels halben; denn ich habe gelernt, bei welchen ich bin, mir genügen zu lassen. Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; ich bin in allen Dingen und bei allen geschickt, beides, satt sein und hungern, beides, übrig haben und Mangel leiden. Ich vermag Alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.
Es ist schon früher erwähnt, dass die Philipper durch Epaphrodit dem Apostel eine Unterstützung an Geld nach Rom gesandt hatten. Mit einem „aber“ geht er jetzt zu dieser Angelegenheit über und stattet ihnen (V. 10 bis 20) seinen Dank für diese Gabe ab. Aber wie sehr ihn auch dieser neue Beweis ihrer Liebe erfreut, so hat doch diese Freude nicht ihren Grund in der Abhilfe seiner Not, denn was ihn selbst betrifft, so hat er gelernt, in jeder Lage seines Lebens, auch in der drückendsten Not, die Kunst der Genügsamkeit zu üben. Lasst uns doch einmal sehen, liebe Christen, was es mit dieser Kunst auf sich hat.
Die Kunst der Genügsamkeit: Wir fragen: 1. worin besteht sie? und 2. wo lernt man sie? Ach, lieber, himmlischer Vater, wir gehören auch zu den Menschen, deren Herz nimmer spricht: Es ist genug, daher wir dich bitten: sättige uns mit dem Brot des Lebens, und lehre uns die Kunst, in den Dingen dieser Welt genügsam zu sein.
1.
Worin also besteht die Kunst der Genügsamkeit? Antwort: darin, dass wir zwar dankbar die Gaben annehmen, die die Liebe uns reicht, aber teils in der dankbaren Freude weniger auf die Gabe blicken, als auf die Liebe des Gebers, teils aber, und vor allen Dingen, ein Herz haben, das Herr ist über die Dinge der Welt, so dass wir weder in guten Tagen irdisch gesinnt, noch in bösen Tagen mutlos sind, sondern in jeder Lage unsers Herzens Verlangen durch die Gnade Gottes stillen lassen. -
Der Apostel sagt: Ich freute mich höchlich, als ich eure Gabe empfing. Schon dass er über die genossene Unterstützung eine so große Freude empfand, weist auf seine christliche Gesinnung hin. Denn je höher ein Mensch nach seinen Gaben, seinem Beruf und Amt steht, desto mehr ist er gemeiniglich auch bemüht, sich von andern Menschen möglichst unabhängig zu machen, und es kränkt den natürlichen Stolz seines Eigenwillens, wenn er in Not und Mangel gerät und so sich genötigt sieht, sich von Andern unterstützen zu lassen. Er schämt sich, Gaben von ihnen anzunehmen und gern sucht er das zu vergessen oder in Vergessenheit zu bringen, weil es ihm Kampf und Überwindung kostet, dem Geber seinen Dank abzustatten. Der gewöhnliche Mensch freilich kennt diesen Stolz nicht, sondern je mehr ihm gegeben wird, desto lieber ist es ihm; aber bei seiner Freude, die er darüber empfindet, und bei seinem Dank, den er dafür abstattet, hat er hauptsächlich nur die Not im Auge, aus der ihm geholfen worden ist, so dass der Dank bei ihm seine Wurzel in dem irdischen Sinn und in dem Eigennutz hat. Aber des Apostels Freude ist eben so weit von jenem Stolz, als von diesem Eigennutz entfernt, wie auch die Worte „in dem Herrn“ anzeigen - ich freute mich höchlich in dem Herrn. Denn wer in innerer Gemeinschaft mit Christo lebt, der hat nicht das stolze Verlangen, anderer Menschen nicht zu bedürfen, sondern, wer er auch sei und wie hoch er stehe, so weiß er sich in Christo mit seinen Brüdern so innig verbunden, wie die Glieder eines Leibes unter ihrem Haupt verbunden sind (Eph. 4,16), deren jedes den andern gibt und wieder von den andern nimmt. Es ist ein Wunder der göttlichen Weisheit und Liebe, dass er ein solches Band der Gemeinschaft unter uns knüpft, wonach wir eben so sehr einer des andern bedürftig, als einer dem andern unentbehrlich sind. Das tut Gott, damit wir in dieser gegenseitigen Abhängigkeit Demut und liebe lernen und üben. Daher gib willig, wo es deinem Bruder fehlt, aber sei auch kein Narr, dass du zu stolz sein wolltest, um von ihm zu nehmen, wenn er in deiner Not dich unterstützt. Paulus und sogar unser Heiland hat sich dessen nicht geschämt, obwohl jener eins der hellsten Lichter unter den Menschen war, und Christus sogar das Licht der Welt und Herr Himmels und der Erden ist. -
Doch vielmehr tut es Not, dass ich euch vor dem Eigennutz warne, der freilich des Nehmens und Dankens sich nicht schämt, aber nur, weil er so begehrlich ist und von sich selbst und seiner Not nicht abzusehen weiß. Paulus spricht: Ich freute mich höchlich, aber damit sie nicht glaubten, dass sein Mangel der Grund seiner Freude und seines Dankes sei, fügt er hinzu: Nicht dass ich es des Mangels wegen sage. Litt er denn keinen Mangel? Freilich wohl! Er war ja ein Gefesselter des Herrn und konnte vielleicht in dieser Lage nicht einmal, wie er sonst tat, mit seinen Händen arbeiten, um sich einige Groschen zu erwerben. Er war ja nicht der reiche Mann, in dessen Kasten das Gold und Silber klingt, sondern arm war er wie ein kleiner Handwerker ist, dessen Vorrat oft nicht weiter als bis an den nächsten Morgen reicht. Worüber freute sich denn der Apostel beim Empfang der Gabe? Er sagt es selbst: - dass ihr, liebe Philipper, jetzt einmal ergrünt seid, für mich zu sorgen. Dies Aufgrünen, wovon er redet, bedeutet nicht, dass sie nach längerem Mangel nun einmal wieder zu Wohlstand gekommen seien; sondern er zielt damit auf die brüderliche Liebe ihres Herzens, die sich ihm kund täte in ihrer Gabe. Er vergleicht sie mit einem Baum, der im Winter kahl ist, aber zur Zeit des Frühlings wieder ausschlägt, Knospen, Blätter und Blüten bekommt, oder mit einem Acker, worauf, nachdem der Tod des Winters sich in Leben verwandelt hat, wieder das schöne Grün der jungen Saaten prangt. War denn das Herz der Philipper eine längere Zeit hindurch erkaltet gewesen? Das nicht. „Ihr wart, spricht der Apostel, wirklich darauf bedacht, für mich zu sorgen, aber die Umstände wollten's euch nicht gestatten“, sei es nun, dass sie selbst Mangel gelitten hatten, oder dass es ihnen an Gelegenheit gefehlt hatte, ihm ihre Unterstützung zuzusenden. Nun aber hatten sie den Epaphrodit gesandt, und die Gabe, die der Apostel bekam, war das schöne Grün, welches auf dem Acker ihres Lebens die Liebe aufwachsen ließ. Darüber freut sich der Apostel so sehr. Wie ist's mit dir, mein Christ? Hast auch du ein solches christliches Herz in dir, dass du, wenn du Gutes empfängst, weit mehr über den Geber und seine Liebe, als über die Abhilfe deiner Not dich freust? So solltest du ja vor Allem zu deinem Gott stehen, aus dessen milder Hand wir täglich viel Gutes empfangen, und solltest selbst bei der geringsten Gabe, die er dir erteilt, dich seiner freuen als des teuren Vaters, der so viel aus dir macht. Es kommt fürwahr nicht darauf an, dass er dir's in Scheffeln gibt; sondern hast du ein kindlich dankbares Herz in dir, so weist, auch wenn der treue, gute Gott es dir in Löffeln gibt, diese seine tägliche Milde dich auf den herrlichen Bund hin, worin du mit ihm stehst. Dass du sein Kind bist, sein liebes Kind, welches er mit seinem eigenen Blut erlöst, erworben, gewonnen hat, und nun soviel von dem Kind hält, dass er für es sorgt, als ob er für sonst nichts zu sorgen hätte: O, das muss dich ja höchlich freuen, und jede Gabe, die er dir gibt, muss daran dich erinnern und dein Herz warm machen, dass du sprichst: Habe Dank, du lieber freundlicher Vater, dass du Tag für Tag so liebevoll gegen mich bist. - Was er aber an dir tut, das tut er vielfach durch Menschen, deren Herzen er lenkt wie Wasserbäche, und musst du dich also nicht auch darüber freuen, dass Gott seine Liebe ausgießt in der Brüder Herzen? Wie traurig, wenn einer vor dem andern Hand und Herz verschlösse und jeder nur auf sich selbst sähe und auf seine eigene Not! Es wäre dann der Menschen Wandel wie ein kaltes, dürres Winterfeld, und wäre für den Christen ein Jammer und Elend, unter solchen Herz- und lieblosen Menschen zu leben. Wie schön dagegen, wenn eine Gemeinde einem Acker im Frühling gleicht, wo die Sonne der Bruderliebe in milden Gaben allenthalben sprosst und grünt! Wo du solches siehst, da freue dich, und freue dich darüber weit mehr, als über die Gabe, die du empfängst.
Aber das setzt freilich voraus, dass du die Kunst der christlichen Genügsamkeit inne hast, die uns nun weiter beschrieben wird in unserem Text. Ich habe gelernt, sagt Paulus, in welchen Umständen ich bin, genügsam zu sein. Ich weiß sowohl gedrückt zu sein, als auch Überfluss zu haben, sowohl satt zu sein als zu hungern, sowohl Überfluss zu haben, als auch Mangel zu leiden. Da bringt der Apostel zwei Dinge zur Sprache, die für Tausende Stricke werden, worin der Teufel ihre Seelen fängt, um sie in's Verderben und in die Verdammnis zu stürzen. Das eine ist der Mangel, das andere der Überfluss. Den Mangel beschreibt er als ein Gedrücktsein oder Herunterkommen und als ein Hungern. Zu welchen Sünden das führt; wie die Menschen in solcher Lage niedergeschlagen sind, ungeduldig werden, murren, klagen, wo sie nicht gar verzweifeln; welche Wege der Ungerechtigkeit da von ihnen betreten werden, um aus ihrer Not zu kommen, das ist eine euch allen bekannte Sache. Aber ist nicht auch der Überfluss ein Nest, worin die Sündenschlange Junge ausbrütet? Ist es nicht bald der Stolz, bald die Üppigkeit und das Wohlleben, bald die Habsucht und der Geiz, worin die verfallen, die ein überfließendes Maß irdischer Güter haben? Darin nun eben besteht die Kunst der christlichen Genügsamkeit, dass man gelernt hat, im Mangel zu leben, als lebte man im Überfluss, und im Überfluss zu leben, als lebte man im Mangel; wenn man Nichts hat, fröhlich und getrost zu sein, als hätte man Viel, und wenn man Viel hat, so wenig sein Herz, seine Begierde und Lust an den Überfluss zu hängen, als hätte man Nichts. Wer versteht diese Kunst? Der im Glauben die Welt überwunden hat und reich geworden ist in Gott, so dass der Segen an himmlischen Gütern, den er besitzt, ihm Sonne und Mond sind, die das Dunkel der Not erhellen und den Sternenglanz des Glücks verdunkeln. Selbst unter den Heiden hat es manche gegeben, die sich im Reich des Wahren und Guten so mit ihrem inneren Menschen angebaut hatten, dass, litten sie Mangel, sie innerlich dennoch sich reicher dünkten, als alle Begüterten dieser Welt, und hatten sie Überfluss, sie dennoch ihr Herz allem Übermut, allem Stolz, aller Üppigkeit und Ungerechtigkeit verschlossen hielten. Haben nun schon Heiden, die doch weder Christum noch den Vater im Himmel kannten, haben schon Heiden gelernt, genügsam zu sein: wie vielmehr sollte der Christ diese Kunst verstehen, der Christ, der schon in seinem Glauben reich ist und in seiner Hoffnung noch viel reicher! Trachtet dahin, dass nicht die Welt euch beherrsche, sondern ihr die Welt beherrscht. Das ist die Weltherrschaft, die ein Christ übt, dass er, in welchen Umständen er auch sei, ob im Unglück oder im Glück, ob im Überfluss oder im Mangel, immer derselbe ist und bleibt.
2.
Aber wo und wie lernt man diese Kunst? Das ist die zweite Frage, die wir zu beantworten haben. Man hat oft verkehrte Wege eingeschlagen, um sich gegen die Gefahren sowohl des Mangels als des Überflusses zu sichern. Um die Not zu überwinden, meinte man auf jedwede Weise darauf bedacht sein zu müssen, dass man mit hinlänglichem Gut sich versehe. Daher wurde alle Klugheit und List aufgeboten und zehn, zwanzig Mittel wurden versucht, um zu Geld zu kommen. Nun wehrt es uns das Evangelium zwar nicht, auf unser tägliches Brot bedacht zu sein, sondern fordert vielmehr uns auf, zu arbeiten, auf dass wir uns und Andere sättigen können, ja es sagt: wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen; aber alle Wege der argen List und fleischlichen Klugheit, alle Wege der Ungerechtigkeit schneidet es uns ab, und will, dass wir eher Hungers sterben, als Hand und Herz mit einer Sünde beflecken sollen. „Betet und arbeitet,“ schreibt das Evangelium über Jedermanns Tür.
Wie sichert man sich gegen die Gefahren des Reichtums, die allerdings so groß sind, dass Mancher, der in der Armut Gott fürchtete und Recht tat, später, da er zu Wohlstand gelangte, wie ein Stern aus dem Himmel seiner Redlichkeit fiel. Soll man den Reichtum von sich weisen, oder, wenn er da ist, ihn von sich werfen? Viele haben das geglaubt und glauben es noch. Sie stießen eigenwillig die Glücksgüter von sich, die sich ihnen darboten, legten sich Entbehrungen auf, kasteiten ihr Fleisch, flohen wohl gar aus der Welt in ein Kloster oder in eine Wüste, um so behütet zu bleiben und Gott zu gefallen. Aber die Schrift lehrt uns (Kol. 2,23), dass durch solche selbsterwählte Geistlichkeit und Demut Niemand Gott gefällt, und die Erfahrung zeigt uns in tausend Beispielen, dass die Welt hinter den Menschen her ist, wie ein Jäger hinter dem Wild, auch wenn er in die Heide flieht.
Aber wenn man sich gegen die Sünden des Mangels dadurch nicht sichert, dass man den Überfluss sucht, und dadurch nicht gegen die Sünden des Überflusses, dass man in den Mangel geht: wo ist denn die Kunst der Genügsamkeit zu lernen? Paulus weist uns in die Schule Christi hinein, in die auch er gegangen ist. Ich habe gelernt - spricht er - in welchen Umständen ich bin, genügsam zu sein. Was man weiß, braucht man nicht erst zu lernen; aber von Natur verstehen wir die Kunst der Genügsamkeit nicht, sondern nach unserer Beschaffenheit, die wir aus der Wiege mitbringen, haben wir im Überfluss ein trotziges, und im Mangel ein verzagtes Herz. Mancher freilich, der bei Christo nicht in die Schule gegangen ist, nährt gleichwohl, wenn er reich ist, mit seinem Gut nicht des Fleisches Lüste und Begierden, sondern führt ein enthaltsames, stilles Leben, ist leutselig, mild, herablassend, tut den Armen wohl; und umgekehrt, hat er Überfluss, so ist er dennoch unverzagt, ist redlich und arbeitsam. Aber hat er das nicht von Christo gelernt, so ist seine Tugend nur ein leerer Schein und ruht nicht auf herzlicher Gottesfurcht und Gottesliebe. Keiner bringt irgend eine Tugend mit sich in die Welt; sie muss erlernt werden in der Schule des Evangeliums und der Erfahrung. Der Herr nur lehrt uns die Kunst der Genügsamkeit so, dass er, nicht etwa die Welt nach unsers Herzens Lust einrichtet, sondern die Welt lässt wie sie ist, dagegen unser Herz umgestaltet und erneuert, und es mit himmlischen Kräften ausrüstet, damit es die Welt überwinden könne. Er hält uns unsere Sünde vor und weckt in uns das Verlangen nach Gnade; er hält uns seine Liebe in Christo vor und lehrt uns an ihn von Herzen glauben; er macht uns, wenn wir glauben, rein von aller Sünde und schmückt uns mit seiner Gerechtigkeit und mit seinem Frieden; er zeigt uns den Unbestand und die Eitelkeit der Welt, und macht uns selig, indem er uns den Reichtum in Christo schenkt. Das ist seine Lehre, in die er uns nicht bloß durch Unterricht einführt, sondern auch durch vielfältige Erfahrung. Er lässt uns durch böse Tage gehen, damit wir, wenn auch unter mancherlei Verirrungen, die Verzagtheit, den Kleinmut unseres Herzens kennen lernen und uns gewöhnen, zu ihm zu beten und auf ihn zu vertrauen. Dann wiederum lässt er gute Tage kommen, wo wir oft weit von ihm uns verirren und anfangen, unser Herz an den Genuss und Überfluss zu hängen; aber er ist dann hinter uns her mit dem Evangelium und heiligen Geist, straft uns, rüttelt und schüttelt uns innerlich, bis wir traurig werden und wieder anfangen, ihn und seinen Frieden zu suchen. Das ist die Lehre Gottes, die nicht bloß Wochen und Monde, sondern Jahre dauert und fortgeht bis an unsern Tod. Denn es gehört viele und lange Übung dazu, ehe wir dahin kommen, dass wir in allen Umständen, im größten Leid, wie in der größten Freude, ein Herz haben, das fest im Glauben steht und weder rechts noch links von Gottes Wegen weicht. Wer steht so fest, dass er mit Paulus sagen kann: komme was da will, ich bin gerüstet? Sind wir stark, so sind wir's allein durch die Gnade Gottes, die uns vor Versuchungen bewahrt, und uns täglich, stündlich in ihrem Auge hat und an ihrer Hand führt, damit wir nicht über diesen und den Stein fallen mögen. Sind wir stark, so sind wir's allein durch den heiligen Geist, womit uns der Herr in der Stunde der Not und Gefahr erfüllt, dass wir nicht umkommen, sondern den Sieg gewinnen. Vielen aber erscheint die Kunst zu lang und der Unterricht zu schwer, so dass sie Gott aus der Schule laufen und wie Demas ihr Herz wieder an die Welt hängen, wie zuvor. O Christ, bleibe in der Schule deines Herrn und lass dir seine Lehre und seine Führung wohlgefallen, wie hart es auch mitunter hergehen mag in deinem Leben. Bitte um Nichts so oft und so herzlich, als dass Gott dich leiten wolle nach seinem Wohlgefallen und deine Seele bewahren, dass sie weder durch Mangel, noch durch Überfluss in's Verderben komme.
Ich habe gelernt, sagt Paulus. Ja, er hatte, und seine Schule, durch die er ging, wäre für manchen unter uns zu schwer. In Alles und Jedes, spricht er, bin ich eingeweiht, anzuzeigen, dass kaum irgend eine Prüfung zu denken sei, durch die Gott ihn nicht geführt habe. Er ist in die äußerste Not gekommen, wo der Leib vor Hunger und Durst verschmachten wollte, und wo das Leben an einem dünnen Faden hing; und wiederum hat er gute, glückliche Stunden erlebt, wo. es ihm an Nichts fehlte, wo er mit der Menschen Gunst und Liebe gesättigt war, wo das Glück vor ihm stand und sagte: Dir steht der Weg offen zu Ehren, Ansehen und Reichtum; du brauchst bloß einzuwilligen und die Hand danach auszustrecken, so hast du Alles, was dein Herz nur begehren mag. Aber er ließ sich nicht betören und bezaubern durch die Lockungen des Glücks und ließ sich nicht beugen und brechen durch die Qualen des Unglücks. Es waren harte Prüfungen, durch die er ging. Er vergleicht sie mit der Einweihung in die sogenannten Geheimnisse der alten Heiden, wo die zu Weihenden die vielfältigsten Proben ablegen und durch große Entsagungen, durch mächtige Kämpfe hindurchgehen mussten, denen nur wenige gewachsen waren. Auch das Christentum hat seine Geheimnisse, und die Einweihung in sie fordert lange und große Selbstverleugnung, sonderlich bei einem Mann, wie Paulus war. Mit großen Gaben des Geistes ausgerüstet sein, wie er, und sie ganz und gar in den Dienst des Gekreuzigten stellen; unermüdet, früh und spät, wirken im Dienst des Herrn und dabei in Lebensgefahr und Todesnot schweben und nicht selten Hunger und Durst leiden bis zum Verschmachten; Hunger leiden und Todesnot bestehen und dabei nicht wanken noch weichen, sondern ein fröhliches, Gott ergebenes Herz haben und sprechen (2 Kor. 12): Ich bin gutes Muts in Schwachheiten, in Schmachen, in Nöten, in Verfolgungen, in Ängsten, um Christi willen: - ja, das sind Geheimnisse des Kreuzes, die eine schwierige und langwierige Weihe fordern. Unser Herr freilich hat durch sein eigenes Beispiel uns gezeigt, dass keine Tugend, auch nicht die Genügsamkeit, so groß sei, dass ein Mensch sie nicht in der Schule Gottes lernen könne. Er, der Sohn des lebendigen Gottes, er, durch den alle Dinge sind, geht aus dem Himmel auf die Erde, und hat auf Erden nicht, da er sein Haupt hinlege, und weist die Ehrenkronen der Menschen von sich und folgt der Liebe bis an den Tod der Missetäter am Kreuz! O Christen, lasst euch von ihm einweihen in die Geheimnisse des Himmelreichs.
Ich habe gelernt, ich bin eingeweiht - ich weiß, spricht Paulus, weiß sowohl gedrückt zu sein als Überfluss zu haben. Dies Wissen ist die Folge des Lernens und der Weihe. Es ist keine bloße Theorie, die er weiß, die er auf dem Papier gelesen hat und wieder auf's Papier zu schreiben versteht. Wohl weiß er herrlich davon zu reden und zu schreiben, aber sein Wissen ist zugleich ein praktisches Wissen und Verstehen; was er zu sagen weiß, das weiß er auch zu üben und zu tun. Alles vermag ich in dem, der mich stark macht, Christus. Also er kann Alles? Keine Glücks- oder Unglückslage wäre denkbar, der er nicht gewachsen wäre mit seinem weltüberwindenden Glauben? Wenn der Herr die Fesseln löste, die er trägt, und ihn in einen zauberischen Kreis guter und glücklicher Tage führte, wo ihm die Welt erschiene, als wäre sie der Himmel: so achtete er dennoch dies alles für Dreck gegen den überschwänglichen Reichtum Christi und ließe statt Christi nicht die Welt Platz nehmen in seinem Herzen? - Oder, wenn der Herr, statt seine Bande zu lösen, sie nur noch fester machte und verdoppelte, und ihn zehn, zwanzig Jahre hindurch allen Hohn grausamer Feinde erfahren ließe, dazu das Licht der Sonne und des Mondes vor ihm verschlösse und ihn im finsteren Kerker mit Brotrinden nährte und mit Wasser tränkte, und endlich ihn aus dem Kerker hinführen ließe auf ein Blutgerüst, dass er dort unter dem Beil des Scharfrichters den Armen-Sünder-Tod stürbe: so vermöchte er dennoch durch alle Jahre der Marter hindurch bis in den Moment, wo er das Haupt auf den Block legte, seinen Glauben zu bewahren und seine Glaubensfreudigkeit? - Antworte er selbst auf unsere Fragen. - Alles vermag ich - lautet seine Antwort. - Paulus, du bildest dir das bloß ein, es ist mehr, als was ein Mensch vermag. - Ja, spricht er, durch mich selbst vermag ich's auch nicht, aber ich vermag es in der Gemeinschaft Christi, der mich dazu stärkt. Er, der für sich die Welt überwunden hat, weiß sie auch in uns zu überwinden, wenn er nur in unseren Herzen wohnt. Und er wohnt in mir. So gewiss nun Christus Alles vermag, vermag auch ich Alles, der ich in Christo bin und in dem Christus lebt.
Nun, Teure, sei denn immerhin die Kunst der Genügsamkeit lang und schwer; sie ist's, aber ihr wisst nun, dass Gott eine Schule gebaut hat, wo man sie lernen kann. Versäumt diese Schule nicht, und nehmt den Unterricht an, den Gott euch daselbst erteilt. Ich gebe um alle Künste der Welt nichts, wenn nicht Jemand vor allem diese göttliche Kunst versteht, in welchen Umständen er ist, genügsam zu sein. Nimm uns in deine Schule, o Gott, und lass deine Milde und Geduld walten bei deinem Unterricht.
Gib ein Herz uns, das im Glücke
Nicht verwegen, stolz und frei,
Und bei widrigem Geschicke
Nicht verzagt noch mürrisch sei.
Zieh mit deiner Macht es an,
Dass es Alles wagen kann,
Und im Streit nicht unterliege,
Sondern kämpfe bis zum Siege.