Jellinghaus, Theodor - Kapitel II. Die Notwendigkeit einer tiefen Erfassung der christlichen Heiligung in Lehre und Leben.
Sehen wir uns, nach diesem Einblick in das herrliche Heiligungsziel und Ideal der Heiligen Schrift die unter gläubigen, evangelischen Christen weit verbreitet ist an, so sehen wir, dass dieses meist ziemlich tief und niedrig steht. Wir sehen hier ab von den Lehrern, welche eine allmähliche Rechtfertigung durch die Heiligung lehren und dadurch zur römisch Heiligungslehre hinneigen, von denen im ersten Teil (Teil I, die Rechtfertigung allein durch Christus) die Rede war. Wir fragen, was lehren die im Glauben an die Vergebung der Sünden allein durch Christus stehenden Christen? Da sehen wir, dass die grosse Mehrzahl nach dem Inhalte unserer besseren Erbauungsbücher, Predigten und Gesangbücher lehrt, dass der Christ durch den bussfertigen Glauben an Christus nicht nur Vergebung der Schuld, sondern auch ein neues Herz, einen neuen Willen und Hunger nach Heiligung empfängt, so dass die groben Sünden in keinem Falle über Ihn herrschen dürfen. Diesem begnadeten Gotteskinde wird dann der Rat gegeben in dankbarer Liebe zum Gekreuzigten nun seinen alten Menschen nun täglich zu kreuzigen, täglich wegen seiner bis zum Grab neuen Sünden und bleibenden inneren Unreinigkeit Busse zu tun und Christus nachzufolgen. Von reiferen Christen wird auch daran erinnert, dass der Christ sich nicht selbst heiligen kann, sondern nur in Jesu Tod seine Heiligung suchen muss. Aber fast immer wird dabei angenommen, dass wenn auch das Beste in der Heiligung, ja, 9/10 der Heiligung derselben der Heilige Geist tun müsse, doch 1/10 der Christ durch eigenen Anstrengung und Selbsttötungen allmählich selbst vollbringen müsse. Es wird eine Rechtfertigung allein durch Christus und eine Heiligung teilweise durch eigene Anstrengung nach dem Gesetz gelehrt.
In der Rechtfertigungslehre ist man rein evangelisch, in der Heiligungslehre evangelisch und gesetzlich. Dementsprechend wird dann auch gelehrt, dass zwar ein allmähliches wachsen in der Heiligung möglich sei, dass der Christ aber täglich immer wieder in Sünde falle, dass er immer wieder bekennen müsse: „Was ich will, dass tue ich nicht; was ich aber nicht will, dass tue ich.“ Es wird als selbstverständlich angenommen, dass im gläubigen Christen immer der alte Mensch nicht nur da sei, sondern auch seine Lebensmacht in den Lüsten offenbare. Oft wird jüngeren Christen gesagt, dass im heissen Kampf zwischen Fleisch und Geist mit seinen Niederlagen und Siegen erfahre, bestehe der Fortschritt im Christsein. Darum findet sich auch in vielen Liedern die schlimmsten Selbstanklagen wieder. Dagegen ist es bei den Evangelischen fast ganz abhanden gekommen, dass man die Gläubigen Heilige nennt. Das man Kraft zu einen heiligen Leben im steten Siege ernstlich erbittert und erwartet. Klagen über innere Niederlagen und Sünden füllen die Erbauungsbücher, die Gebete und Lieder der Christen.
Besonders allgemein findet man in Büchern und Predigten an Gläubige Reden wie diese: „Wenn wir wüssten, dass wir in diesem Jahr sterben müssten, wie viel treuer und eifriger wären wir, wie viel ernster die Sünden meiden und Gottes Wort lieben!“ Darin liegt doch offenbar die Annahme verborgen, dass alle Christen bewusst untreu wären und niemand mit ganzer Seele dem Willen Gottes, soweit er ihn erkannt hat, auch folge. Ein in biblischen Sinne ganzer und völliger Christ lebt so, dass er Gottes Willen, so weit er ihn kennt, mit ganzer Seele tut, so dass er, wenn er sein Ende gewiss in diesem Jahr voraus wüsste, nicht treuer ihn tun könnte. Als John Wesley gefragt wurde: „Was würden sie tun, wenn sie gewiss wüssten, dass sie diese Nacht sterben würden, antwortete er: „Ich würde meine Kranken besuchen, meine Predigt halten und den Abend auf mein Zimmer gehen, um meinem Herrn entgegen zu kommen.“
Ein festes Bleiben in Christus und stetes Siegen über die Sünde, ein wirkliches mit Christus Gestorbensein und Auferstandensein wird für unmöglich angesehen, ja, dieses Ziel sich auch nur zu stecken und darum zu bitten, erscheint Vielen als seelengefährlicher Hochmut. Wenn nun nach der Heiligung hungrige Christenseelen diese Lehre und Meinung haben, so ist es ganz unmöglich für sie, zu einem siegreichen Leben in Christus zu gelangen; denn sie erwarten es nicht und bitten nicht darum im Glauben der Erhörung. Schon im natürlichen Leben ist es ja so, dass wenn ich mir fest einbilde, dass ich nicht schwimmen kann, es mir auch wirklich unmöglich ist zu schwimmen. Noch mehr ist dies im Geistlichen der Fall. Halte ich einen entschiedenen, siegreichen Wandel in der Heiligung für eine Unmöglichkeit, bin ich der Überzeugung, dass mein alter Mensch dazu zu stark und zu verderbt und Jesu Gnadenkraft und Verheissung so weit nicht reicht, so ist es ganz unmöglich, dass ich diese Kraft aus Jesu im Glauben nehme und übe.
Ein Mensch kann nicht besser und heiliger werden als sein Heiligungsziel und Ideal. Wohl bleibt der Mensch hinter seinem Ideal zurück, aber nie wird er besser werden können, als sein Ideal.
Dass diese unbiblische Lehre und Ausdrucksweise sehr schädlich wirkt, liegt auf der Hand. Die Redeweise bestärkt die Unbekehrten in der oft gehörten Gewissenseinschläferung: „Ich sündige wohl, aber das ist doch ausgemacht, Sünde tun wir alle, also müssen wir uns auf Gottes Gnade verlassen.“
Die betrübten Folgen der mangelhaften Heiligungslehre und Heiligungspraxis liegen für jeden Liebhaber Christi und Seines Reiches bei etwas tieferen Nachdenken überall zur Hand.
Darum aber tut zur Ehre Gottes nichts mehr Not, als ein Christentum der Gläubigen, welches die Kraft Christi offenbart. Unsere Zeit ist in einer Geistesrichtung der Erforschung der Tatsachen. Unsere Gelehrten sagen jetzt: Auf die Tatsachen nicht auf die hohen Lehren und seine ausgedachten Lehrsysteme kommt es an. Nur was sich als tatsächlich und kräftig erweist, das halten wir für wirklich. Bei einer solchen Geistesrichtung sind die Menschen nicht anders von der Wahrheit des Christentums zu überzeugen, als wenn das heilige Leben der Christen als eine Tatsache dasteht, die sich nicht aus natürlichen Gründen, sondern nur aus der heiligen Macht des Todes und der Auferstehung Christi, erklärt.
Wenn die wahren Christen tatsächlich ein solch geheiligtes Leben in Gott führen, das sich aus natürlichen Kräften nicht erklären lässt, so müssen die Ungläubigen, wenn sie ehrlich bleiben wollen, gerade als gelehrte Forscher des Menschenlebens zugestehen, dass hier übernatürliche Heiligungskräfte wirksam sind, dass der Christus, in dem die Christen leben und den sie als ihre einzige Kraft bekennen, wirklich als auferstandener Erlöser lebt.
Die Mächte des Unglaubens und der Finsternis sind jetzt grösser als je, und es ist klar und am Tage, dass wenn die gläubige Christenheit sich nicht tiefere Heiligung und grössere Geistesgaben von ihrem himmlischen Haupte schenken lässt, sie nicht siegen kann.
Die jetzigen Zustände sind ja eine Folge der Machtlosigkeit der Kirche; wie sollte den die Kirche ohne Erneuerung nun sie besiegen können? Wir brauchen eine Offenbarung der Gegenwart Gottes, Jer. 3,17, ein Durchdrungenwerden vom Heiligen Geist und durch Ihn neue Blicke in die Grösse der Erlösermacht Jesu. Gerade die Not und Vollkommenheit der Zeit soll uns, wie die Propheten des alten Bundes, zu den kühnsten Erwartungen auf Gottes Heiligungsmacht und Offenbarung seiner herrlichen Gnade an der Gemeinde antreiben.
Darum darf ein von Herzen ersehnender Christ nicht damit zufrieden sein, dass wir soviel geistliche Kräfte haben wie unsere Väter, sondern er muss um die biblische Stufe der wahren Heiligung und die apostolischen Geisteskräfte für sich und seine Brüder bitten. Wie hoch uns die Männer der Reformation auch stehen, wir dürfen nicht ihre Lehrweise und ihren Heiligungsstand als unübertrefflich hinstellen, als ständen die Apostel nicht in Lehre und heiligen Leben über den Reformatoren. Die Reformatoren hatten in erster Linie den Auftrag die Rechtfertigungslehre auf den Leuchter zu stellen und nur die Grundlagen zur wahren biblischen Heiligungslehre zu legen. Man darf die Zeit der Reformation nicht als unübertrefflich hinstellen. Wollen wir jetzt siegen, so müssen wir nicht nur die Geisteskräfte der Reformation, sondern viel höhere anstreben. Es gibt auch im Reiche der Gemeinde Christi kein Stillestehen und kein heilsames Zurückgehen zu einer vergangenen Zeit. Nur durch Fortschreiten in der Erkenntnis des Sohnes Gottes und in der Betätigung der Kräfte des heiligen Geistes kann das Reich Christi siegen. Christus hat der Gemeinde der Gläubigen verheissen, dass er bei ihr sein will alle Tage, um sie immer mehr durch den Heiligen Geist in alle Wahrheit zu leiten und nicht bloss auf einer bestimmten Stufe zu erhalten. Darin, dass er seine Herrlichkeit immer mehr offenbart, beweist er seine lebendige Gegenwart; denn wo Jesus, der Sohn Gottes, ist da muss Sieg und Fortschritt sein. Solange Jesus der Herr ist, wird's alle Tage herrlicher.
Das Bedürfnis nach höheren Geisteskräfte, Gaben und tieferer Heiligung zeigt sich auch auf allen Gebieten. Eines der grössten Hindernisse des Reiches Gottes ist die Zerrissenheit der Gläubigen in so vielen Denominationen und in Parteinen innerhalb der einzelnen Kirchen. Die letzteren Trennungen gehen zu Zeiten noch tiefer und hindern die christliche Liebe oft noch mehr als die Getrenntheit nach Denominationen. Es traut einer dem anderen ziemlich viel Selbstsüchtiges und Unchristliches zu und die Welt merkt das bald und dadurch wird sie am Glauben an Christus gehindert, während die Liebe der Christen untereinander sie zu Glauben bringt. Joh. 17,21: „Auf dass sie alle eins seien, gleich wie du Vater in mir und ich in dir, dass auch sie in uns eins seien, auf dass die Welt glaube, du habest mich gesandt.“
Nur dann, nämlich wenn wir selbst in der Heiligung und rechten Liebe stehen, können wir auch von den in einigen Punkten anders denkenden Brüdern mit vollem Herzen gern glauben, dass auch sie dieselbe Gesinnung haben. Darum ist alles Ermahnen zur Liebe und Einigkeit meist verlorene Mühe, ja viele Unionsversuche richten nur grössere Trennungen an, so lange die Herzen nicht durch tiefere Heiligung erst in Jesu dazu fähig gemacht sind. Durchdringt die völlige Liebe Christi die Herzen, da kommt es auf dem gemeinsam erreichten höheren Standpunkte nicht nur zu einer Einigung, sondern zur inneren Verschmelzung der Herzen (Eph. 2,14-18).
Sind dagegen die Christen nicht frei vom geheimen sich selbst suchen, Unlauterkeit und sündlicher Leidenschaft, so kann unmöglich die volle, christliche Bruderliebe bestehen. Einen Christen, der nicht ganz in der Wahrheit und Kraft es Herrn wandelt und den man oft von Selbstsucht; Eigennutz, Eitelkeit und Ehrsucht beherrscht gesehen hat, kann man nur lieben, mit der Liebe tragenden Mitleids, aber nicht mit der hingebenden Liebe des vollen Wohlgefallens und der vollen Hochachtung. Wo man sich in gläubigen Kreisen aus trauriger Erfahrung manches Verkehrte und manche Art von Straucheln einander zutraut, da ist es auch immer mit der brüderlichen Liebe schwach bestellt; denn zur vollen Liebe gehört Hochachtung und Begeisterung.
1. Joh. 4,12: „Niemand hat Gott jemals gesehen. So wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns und seine Liebe ist völlig in uns.“ In vielen ernsten christlichen Kreisen steht es noch so, dass so selten die Bruderliebe die Schranken des Standes, des Alters und der Lebensstellung durchbricht, dass gläubige Christen oft jahrelang zusammen in einem kleineren Orte wohnen und doch nicht das Bestreben haben, sich näher kennen zu lernen und in Glaubens- und Gebetsgemeinschaft zu treten. Da kann die Welt von solchem Christentum nur gering denken, weil sie sieht, dass die gläubigen Christen untereinander so wenig lieben und als Gotteskinder und Himmelserben so wenig hoch schätzen. Sie hat ein Recht zu sagen: Wenn diese Christen wirklich glaubten, dass wo zwei oder drei versammelt sind in Jesu Namen, der Herr Jesus selbst unter ihnen ist und erhört was sie bitten, so würden sie doch zu solch brüderlichem Gebete zusammen kommen und sich nicht durch alles mögliche abhalten lassen.