Hofacker, Wilhelm - Am Sonntag Misericordias Domini.
Text: 1. Petri 2, 21-25.
Christus hat gelitten für uns, und uns ein Vorbild gelassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen; welcher keine Sünde getan hat, ist auch kein Betrug in seinem Munde erfunden; welcher nicht wieder schalt, da er gescholten ward, nicht drohte, da er litt, er stellte es aber dem heim, der da recht richtet; welcher unsere Sünden selbst geopfert hat an seinem Leibe auf dem Holze, auf dass wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben; durch welches Wunden ihr seid heil worden. Denn ihr wart wie die irrenden Schafe, aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.
Noch ist die angenehme Zeit, noch ist der Tag des Heils! - so lautete die herzerhebende Botschaft, mit der die Apostel des HErrn einer in Sünde und geistlichen Tod versunkenen Welt gegenübertraten, und den Schlafenden zur Weckung, den Harrenden zur Freude und Stärkung die endlich erschienene so herrliche Zeit des Neuen Bundes ankündigten. Das angenehme Jahr des HErrn war angebrochen, die Tage der Erquickung von Seinem Angesicht gekommen, seitdem der ewige Mittler zwischen Gott und den Menschen Sein Leben zum Schuldopfer gegeben, und der Vater der Herrlichkeit Ihn dem Gericht und Tod entnommen, und mit Ehre und Preis gekrönt hat. Der Schuldbrief, der uns verdammte, ist von da an zerrissen, der Gnadenthron eines unvergänglichen Priestertums aufgerichtet, die verschlossenen Pforten des Paradieses wieder geöffnet, und einem jeden bußfertigen Sünder der Zugang zum Vaterherzen seines Gottes unverwehrt, so dass man auch dem Unglücklichen, der nicht mehr aus und ein weiß, dem Kranken, der sich Monden und Jahre auf seinem Siechbette wälzt, dem Verbrecher, der das Maß seiner Sünden voll gemacht hat, ja sogar dem Missetäter, der im Kerker schmachtet, oder selbst sogar das Blutgerüst besteigen muss, in göttlicher Machtvollkommenheit das hocherfreuliche, das herzerquickende Trostwort zurufen darf: verzage nicht, verzweifle nicht, wirf dein Vertrauen nicht weg; denn noch ja ist die angenehme Zeit, noch ist der Tag des Heils.
So freudig und begeistert jedoch die Apostel diese angenehme Zeit priesen, so wenig nahmen sie auf der andern Seite Anstand ein ganz entgegengesetzt lautendes Wort mit allem Nachdruck in denselben Briefen in ihre Christengemeinden hineinzurufen, ich meine das auch für unsere Tage so beherzigenswerte Mahnwort: schickt euch in die Zeit, denn es ist böse Zeit (Ephes. 5, 16.). Es wird in der Tat vor Niemand einer besonderen Rechtfertigung bedürfen, wenn wir dieses letztere Wort mit besonderem Sinn zu dem unsrigen machen, und sagen: ja wahrhaftig, auch unsere Zeit, obgleich sie obenhin betrachtet zur angenehmen Zeit gehört, ist eine böse Zeit, eine böse Zeit nach Außen und nach Innen betrachtet, böse für die Regierungen und böse für die Untertanen, böse für die Besitzenden und böse für die Besitzlosen, böse für die Gläubigen und böse für die Ungläubigen, böse für den Staat und böse für die Kirche; wir müssen es bekennen - die Hand des HErrn lastet schwer auf uns. Das Glück und der Wohlstand nicht bloß einzelner Familien, oder einzelner Dörfer, oder einzelner Städte, sondern ganzer breiten Schichten der menschlichen Gesellschaft ist in Frage gestellt, und wenn Gott nicht in Gnaden drein sieht, und uns ein gesegnetes, fruchtbares Jahr schenkt, so stehen wir an einem Abgrund, der seinen gähnenden Rachen gegen uns aufsperrt, und den menschliche Kraft und menschliche Weisheit dann nicht zu schließen vermag. Wir haben schon so oft darüber gesprochen, wozu uns die angenehme Zeit der Gnade und des Heils auffordert; wollen wir nicht auch einmal darüber gründlich mit einander reden, wozu uns die böse Zeit der gegenwärtigen Not nach Gottes Wort und Willen mit so ernstem Nachdruck mahne und auffordere?
Wir wollen es versuchen, und Gott wolle Seinen Segen darauf legen.
Wir wollen uns die Frage zu beantworten suchen, wozu uns der hohe und unleugbare Ernst unserer gegenwärtigen bösen Zeit mit mächtigem Mahnruf auffordere.
I.
Die erste Antwort, die wir auf die aufgeworfene Frage unseren Textes Worten gemäß erteilen müssen, ist: vor allen Dingen fordert uns der hohe, unleugbare Ernst der gegenwärtigen bösen Zeit dringend dazu auf, unsere ganze Welt- und Lebens-Anschauung einer sorgfältigen Prüfung nach dem Maßstab des göttlichen Worts zu unterwerfen, und uns, so weit sie als eine verkehrte sich herausstellt, zu einer durchgängigen Berichtigung derselben zu verstehen.
1) Es ist dem Apostel Petrus in unserer heutigen Abendlektion darum zu tun, seine Leser über ihre ganze Stellung zur diesseitigen Welt, über die Ansprüche, die sie als Christen an das irdische Leben zu machen berechtigt seien, durch ein paar einfache Fingerzeige zu belehren und ins Klare zu setzen, und so schon zum Voraus etwaige Ärgernisse, die sie am Kreuzreich Jesu Christi hätten nehmen können, abzuschneiden, und zu entkräften. Denn dazu, beginnt er, nämlich zum Dulden und Leiden, seid ihr berufen, sintemal Christus auch gelitten hat für euch, und hat euch ein Vorbild gelassen, dass ihr sollt nachfolgen Seinen Fußstapfen. Gute Tage, will er sagen, dürft und sollt ihr euch hienieden keine versprechen; derartige Verheißungen stehen in eurem Staat und Eid, den ihr bei der Taufe übernommen habt, nicht; ihr habt ja damals einem Herzog der Seligkeit gehuldigt, der selber durch Leiden zur Herrlichkeit gegangen ist, und eben damit auch seinen Nachfolgern dieselben Fußstapfen zur Nachfolge zurückgelassen hat. Wer also ein Christ sein will, darf sich über die mancherlei Leiden und Trübsale, mit denen sein Lebensweg bestreut wird, nicht beschweren; dieselben gehören zu seinem Lebensberuf, dem er sich ohne Untreue gegen seinen HErrn, ohne Abfall von seinen heiligsten Verpflichtungen nicht entziehen darf. Das war die Lebens- und Welt-Anschauung der Apostel, und diese Welt- und Lebens-Anschauung in die Herzen ihrer Gläubigen zu pflanzen, blieb bei ihrer schriftlichen und mündlichen Heilsverkündigung ihr Hauptaugenmerk. Es ist leicht einzusehen, in welchen entschiedenen Widerspruch sie sich mit einer solchen Lebens-Auffassung, nicht nur mit dem damaligen jüdischen und heidnischen Zeitgeist, sondern mit der Anschauungsweise des natürlichen Menschen zu jeder Zeit gesetzt haben, und wie weit auch in unsern Tagen nur in diesem Einen Punkt nicht bloß der Weltgeist überhaupt, sondern auch viele tausend christliche und gläubige Herzen, oft ohne dass sie es selber wissen, von der apostolischen Einfalt entfernt sind. Wie wenige werden sich wohl unter uns finden, die, wenn der Apostel als eine ausgemachte, gar keines weitern Beweises bedürftige Wahrheit den Satz oben an stellt: „zum Dulden und Leiden sind wir hienieden berufen“, ein getrostes und widerspruchloses Ja und Amen ihres Herzens hinzuzusetzen vermögen! Ist's nicht vielmehr also, dass wir bewusster oder unbewusster Weise zu etwas ganz Anderem, zu etwas viel Erfreulicherem in dieser Welt berufen zu sein glauben, nämlich dazu, um, wie man zu sagen pflegt, eine ehrenvolle, bequeme und behagliche Stellung in dieser Welt sich zu erringen, um eine ruhige und unabhängige Existenz sich zu sichern, d. h., es dahin zu bringen, dass wir einmal, wie jener reiche Kornbauer, zu uns selber sagen können: „liebe Seele, du hast nun einen großen Vorrat auf viele Jahre, habe nun Ruhe, iss und trink, und habe guten Mut“ (Luk. 12,19.). Wir wollen ehrlich sein: ist das nicht die ausgesprochene oder unausgesprochene Welt- und Lebens-Anschauung der meisten unter uns? ist dieses Trugbild von einer ruhigen, unabhängigen Stellung in dieser Welt nicht die geheime Triebkraft, die die Maschine des Staatshaushalts im Großen und die Maschine der Tätigkeit der Einzelnen im Gang erhält? ist das nicht das Evangelium der Propheten der sogenannten materiellen Interessen, die eben dies als die höchste Weisheit und Staatsklugheit einmal über das andere in die Ohren hineinrufen? Denn was ist das Land, dem sie mit dem geschwellten Segel und dem geschwungenen Ruder des Zeitgeistes entgegenzusteuern meinen? was ist die schönste Zukunft, die ihnen winkt, und die sie sich mit den glühendsten Farben einer schwelgenden Phantasie ausmalen zu dürfen glauben? ein Land, eine Zukunft, wo die materiellen Interessen in der Blüte stehen, eine Welt, die mit Eisenbahnen und Dampffregatten bedeckt ist, ein Land, wo Ackerbau und Fabrikbetriebsamkeit nicht höher mehr getrieben werden kann, eine Verfassung, wo jeder Einzelne zu einem kleinen König gestempelt und eingesetzt wird, eine allgemeine Verbreitung der Bildung, durch die der schlichteste Bauer die höchsten Aufgaben der Staatsweisheit in Einem Nu zu lösen im Stande ist, eine Religion, kraft welcher auf allen Höhen vor den menschenvergötternden Denkmälern der großen Geister geräuchert wird, und Assekuranzen und Versicherungs-Gesellschaften in Menge, durch die jeder Einzelne allen Wechselfällen des Schicksals Trotz bieten, und ohne Gott und ohne Vorsehung seine unabhängige Stellung behaupten kann.
Die Bibel sagt: Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das Übrige alles zufallen (Matth. 6,33.); denn die wahre Gottseligkeit ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens (1. Timoth. 4,8.); der Weltgeist erwidert: Trachtet viel lieber zuerst nach dem Reiche dieser Welt und nach irdischer Glückseligkeit, dann wollen wir einmal sehen, ob's auch ein Reich des Himmels gibt, und ob's uns nicht auch noch zufallen wird.
Die Bibel sagt: unser diesseitiges Leben ist nur ein kleines Durchgangsland; jenseits der engen Grenzen dieses kurzen Erdenlebens liegt unsere eigentliche und ewige Bestimmung; hier sind wir in der Wüste, die wir zu durchpilgern haben, bis wir zum rechten himmlischen Kanaan kommen, wo die Lebensströme fließen, und der ewige Sabbat uns entgegenblüht. Der Weltgeist erwidert: nein! hier im Diesseits liegt unsere eigentliche und hauptsächliche Bestimmung, und ist das Diesseits da und dort durch die Trägheit und den Unverstand der Menschen noch eine Wüste, um so dringender ist die Aufgabe für uns, die Wüste in ein Paradies umzuwandeln, und es wird gelingen, wenn wir uns nach dem Grundsatz halten: hilf dir selber, dann wird dir der Himmel helfen.
Die Bibel sagt: es ist ein großer Gewinn, wer gottselig ist, und lässt ihm genügen; denn wir haben nichts in die Welt gebracht, darum offenbar ist, wir werden auch nichts hinausbringen; darum, so wir Nahrung und Kleidung haben, so lasst uns genügen (1. Tim. 6,6. bis 8.).- Törichte Selbstbeschränkung! ruft der Weltgeist, eine Religion für den besitzlosen Pöbel, um ihn in den Schranken zu halten, und zu verhindern, dass er die Reichtümer, das Gut der Besitzenden nicht antastet! Ein jeder hat gleiche Rechte an die Güter und Genüsse dieses Lebens, und ein Tor ist, wer, wo er kann, nicht zugreift, und mit denen, die etwas haben, Halbpart macht.
Seht! das ist der schneidende Gegensatz, in dem das Bibelwort und der Weltgeist mit einander stehen, und wenn der letztere sich nicht mehr strafen lassen will vom Geiste Gottes, wenn er das Wort der Zucht und der Wahrheit von sich weist, wenn er auf immer gefährlichere Höhen der Gottentfremdung sich zu verlaufen im Begriffe ist, was bleibt dem großen Gott, der den Erdkreis richtet mit Gerechtigkeit, und der Seiner nicht spotten lässt, was bleibt ihm anders übrig, als seinen allmächtigen Arm auszustrecken, und die verblendete, abgefallene Welt durch Macht- und Tat-Beweise von der Torheit ihrer Wege, von der Unhaltbarkeit ihrer Lehr-Gebäude, von der Lüge ihrer erträumten Unabhängigkeit, von dem Frevel ihrer Auflehnung und Empörung zu überzeugen, und zuzusehen, ob sie sich etwa weisen lasse, und zum Gehorsam und zur Unterwürfigkeit zurückkehre. Unter allen Zuchtmitteln des HErrn der Heerscharen ist keins, das mehr geeignet wäre, dem HErrn die geraubte Ehre eher wieder zurückzuerstatten, als gerade Hungersnot. Wie werden da zu Schanden, alle diejenigen, die in ihrem Besitztum und in ihren liegenden Gründen, in ihren Künsten und Gewerben, in ihrer Geschicklichkeit und ihren Talenten die unfehlbare Bürgschaft ihrer künftigen Wohlfahrt erblickten; wie schamrot müssen alle die ihre Augen niederschlagen, die des Segens von oben nicht zu bedürfen wähnten! Wie fallen die hochfliegenden Plane der Propheten der materiellen Interessen in ihr Nichts dahin! Wie wird's nun offenbar, dass an Gottes Segen alles gelegen, und alle Vorausberechnungen äußerlicher Wohlfahrt, die im Großen und Kleinen gemacht werden, im Grunde lauter Nullen enthalten, wenn der Eine sich zurückzieht, von dem alle gute und vollkommene Gabe herabkommt (Jakobi 1,17.), in dem wir alle leben, weben und sind (Apostelgesch. 17,28.), und der gewaltig zu reden vermag auf dem Erdboden! So ernst sind die Aufforderungen, welche die gegenwärtige böse Zeit an uns ergehen lässt.
O meine Lieben, wie haben wir nötig, unsere ganze Lebens- und Welt-Anschauung einer strengen Prüfung nach dem Worte Gottes zu unterwerfen, und nicht nur unsere Ansprüche an dieses Leben auf das von Gott uns gewiesene Maß zurückzuführen, sondern auch dem HErrn Himmels und der Erde die ihm geraubte und geschmälerte Ehre wieder zurückzuerstatten, damit er nicht noch schärfere Zuchtmittel aus der Rüstkammer feiner Allmacht hervorholen, und eine noch schärfere Geißel über uns schwingen müsse.
Ja, jetzt gilt es, dem ernsten Mahnruf Gehör zu schenken:
Ihr, die ihr Christi Namen nennt,
Gebt uns'rem Gott die Ehre;
Ihr, die ihr Gottes Macht bekennt,
Gebt uns'rem Gott die Ehre!
Die falschen Götzen macht zu Spott,
Der HErr ist Gott, der HErr ist Gott;
Gebt uns'rem Gott die Ehre.
II.
Die zweite Antwort, die wir nach unserem Texte auf unsere heutige Frage zu geben haben, lautet also: Dringend fordert uns die gegenwärtige böse Zeit auf, unsere und unseres Volkes Sünden, die gegenwärtig von Gott heimgesucht werden, in reumütiger Buße anzuerkennen, zu dem Einen Tilgungsborn unsere Zuflucht zu nehmen, der sie von uns nehmen kann, und uns so schnell als möglich unter den sanften Hirtenstab unseres HErrn und Heilandes Jesu Christi zu begeben.
1) Nichts fällt dem natürlichen Menschen schwerer, als wenn die Hand des HErrn ihn ereilt hat, seine Schuld und Strafwürdigkeit einzugestehen, und in das einfache Geständnis einzustimmen, das jener gläubige Schächer ebenso demütig, als einfach in die Worte niedergelegt hat: und zwar, wir sind billig in solcher Verdammnis, wir empfangen, was unsere Taten wert sind (Luk. 23, 51.). - Wie selten begegnet es uns Geistlichen, wenn wir an die Krankenbetten solcher berufen werden, die unleugbar durch vorangegangene Sünden der Unmäßigkeit oder der Wollust wenigstens teilweise ihre Leiden sich selber zugezogen haben, dass sie uns mit einem freiwilligen, demütigen und bußfertigen Geständnis entgegenkommen, dass sie die Strafe ihrer eigenen Sünden mit Recht jetzt zu tragen haben. Wie viel Zermalmung von Außen und wie viel Zucht des Geistes von Innen gehört dazu, bis endlich nur ein annäherndes Zugeständnis dieser Art erfolgt. Seht, da habt ihr in enger Rahme die Weltweisheit des Zeitgeistes. Trotz aller Leiden und Drangsale, die auf unserer Zeit lasten, trog aller unleugbarer, augenscheinlicher Zorn- und Strafgerichte, die durch unsere Marken schreiten, lässt er durchaus nichts aufkommen, als ob man's in irgend einer Sache verfehlt und versehen habe, als ob man sich irgend etwas vorzuwerfen und zu beklagen habe; ja nicht einmal das Wort „Strafgericht“ soll man in den Mund nehmen, weil es unschicklich sei, mit einem derartigen Ausdrucke in einer gebildeten Gesellschaft aufzutreten, weil die zarten Ohren der Welt schon durch ein derartiges Wort verletzt werden. Die Kinder dieser Welt wollen keine Schuld auf sich kommen lassen; daher rührt es denn auch, dass der Welt- und Zeitgeist keiner biblischen Lehre gramer ist, als der Lehre von der strafenden Gerechtigkeit Gottes, wie sich dieselbe in dem blutigen Opfertode des großen Sündentilgers in das hellste und klarste Licht gestellt hat. Gerade der gekreuzigte Christus, der freilich die lauteste Strafpredigt über alles ungöttliche und unlautere Wesen dieser Welt ist, ist das ärgste Ärgernis und die krasseste Torheit allen denjenigen, die zur Fahne des Zeitgeistes geschworen haben. Das Wort vom Kreuz führt für sie einen Leichengeruch mit sich, vor dem sie augenblicklich das Weite suchen. Und doch ist es diejenige Lehre, welche sich durch das ganze Wort Gottes hindurchzieht, im Alten und im Neuen Bunde, in den Geschichts- und in den Lehr-Darstellungen; es ist auch nichts vernünftiger und schon durch das Zeugnis des Gewissens gesicherter, als dass das Verhalten Gottes gegen uns nach unserem Verhalten gegen ihn sich richtet, und dass der heilige Gott, der Schöpfer und HErr des Himmels und der Erden nicht gleichgültig und untätig droben über dem Wolkenhimmel zusieht, was hier unten auf Erden von uns Menschen getan, oder unterlassen wird, sondern dass er Alles, was geschieht, Großes und Kleines, seinen heiligen Absichten an der Menschheit dienstbar macht, eben daher zwar oft und viel Geduld und Langmut übt, um Frist zur Buße zu geben, aber auch, wenn das Maß der Sünde voll ist, früher oder später den allmächtigen Arm seiner Gerechtigkeit offenbart.
Und ach! wie viel findet dieser sein Arm an uns zu richten und zu strafen, von den Thronen und Königspalästen herab bis in die niedrigsten Hütten des Volks, von den Hauptstädten und ihren Sodomsgräueln herunter bis zum entlegensten Bauernhof oder Weiler; von den Rats- und Reichs-Versammlungen, in denen so oft ganz ohne Furcht Gottes beraten, entschieden und gehandelt wird, bis herunter zu den Sauf- und Spielgelagen in den elendesten Dorfschenken, wo nicht der geistige Mensch, sondern oft nur das Tier im Menschen zu seiner Weide kommt; von den Hochschulen und ihren oft so vornehmen Verkündigungen einer ungläubigen und untergrabenden Wissenschaft in Wort und Schrift, bis herab zum armseligsten Flugblatt, das unter den niedersten Volksklassen der Wiederhall derselben sein zu müssen meint, und nur dadurch sich halten zu können vertraut, dass es sich zu einem Werkzeuge des zuchtlosesten und frivolsten Zeitgeistes macht. In der Tat hat in allen Lebensbeziehungen, sogar in den heiligsten und wichtigsten der Geist der Vermessenheit, der Gottentfremdung, der Zuchtlosigkeit, der Auflehnung, des Weltsinns, der irdischen Lust durchgeschlagen, und ein Wurm der Auflösung selbst an die edelsten Wurzeln eines gesunden Volkslebens seinen Zahn angelegt, an das Verhältnis zwischen Fürst und Volk, zwischen Kirche und Kirchengenossen, zwischen Mann und Weib, zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, zwischen Herrn und Knechten, so dass wir uns durchaus nicht zu beschweren haben, wenn die Hand des HErrn uns schwer darniederdrückt, und durch Seine Gerichte endlich gar jener traurige Zustand herbeigeführt werden sollte, den Jesajas als Folge schwerer Verschuldung seinem Volk vorhält: das ganze Haupt ist krank, das ganze Herz ist matt, von der Fußsohle an bis aufs Haupt ist nichts Gesundes an ihm, sondern Wunden und Striemen und Eiterbeulen, die nicht geheftet, noch verbunden, noch mit Öl gelindert sind. Wenn uns der HErr Zebaoth nicht etwas Weniges ließe übrig bleiben, so wären wir wie Sodoma und Gomorrha (Jesaj. 1,5.6.9.).
2) Und was wollen wir nun hierzu sagen? Wollen wir etwa unsere Hände in Unschuld waschen, und wenigstens für unsere Person der Mitschuld uns zu entziehen suchen? Wollen wir mit Stolz und Befriedigung auf die mancherlei schönen Anstalten und Maßregeln hinweisen, durch welche dem einbrechenden Verderben ein christlicher Wohltätigkeitssinn zu steuern beabsichtigt hat? Ich denke, vor allem wollen wir die Hand auf den Mund legen, und stille werden vor dem HErrn, der uns gezüchtigt und geschlagen hat; vor Allem wollen wir Ihm Recht lassen in allen Seinen Werken und in allen Seinen Gerichten, und sprechen: ja, HErr, allmächtiger Gott, heilig und gerecht sind Deine Gerichte! Denn vor Dir ist kein Lebendiger gerecht, keiner kann seinen Anteil an der großen Gesamtschuld leugnen, die auf unserem Volk haftet. Als Glied des Staats und der Kirche, als Glied seiner Familie und seiner Gemeinde hat ein jeder Unterlassungs- und Begehungs-Sünden, Schwachheits- und Bosheits-Sünden genug sich vorzuwerfen, wodurch er die allgemeine Schuld vermehrt, und den Eifer des HErrn, unseres Gottes herausgefordert hat.
Aber bei dieser dumpfen Anerkennung sollen und dürfen wir nicht stehen bleiben, nein, wir alle, so viele wissen, an wen sie glauben, sollen als wahrhaftige Priester ihre und unseres Volkes Sünden nehmen, und bittend und flehend an den heiligen Ort hintragen, wo sie allein gelöscht und gesühnt, allein getilgt und geheilt werden können, an den heiligen Ort, den uns Petrus zeigt, wenn er spricht: Er hat unsere Sünden selbst geopfert an seinem Leibe auf dem Holz. Seht ihr den Brandaltar rauchen, auf dem alle unsere Sünden in der heiligen Glut des Gehorsams und der Liebe Christi verzehrt worden sind? Seht ihr die Opferstätte flammen, auf der der ewige Sohn, mit unserer Schuld und Missetat beladen, als das Lamm geschlachtet worden ist, das der Welt Sünden trägt (Joh. 1,29.), und der Welt Sünden hinwegnimmt?
Dort ist ein kristallheller Strom, - ein Blut, das besser redet, denn Abels Blut (Hebr. 12,24.), das uns reinigt von aller unserer Missetat.
Ach, wie Schade ist es doch, dass unter den mancherlei Vorschlägen, die zum Heil und Frommen unserer drangsalsvollen Zeit erdacht, besprochen und vollzogen werden, der Eine, den uns das Wort der Wahrheit auf allen Blättern predigt, der Eine, der allein eine gründliche und durchgreifende Hilfe schaffen würde, kaum gehört, und noch viel weniger beachtet wird; ich meine den, dass, wie uns das gottesfürchtige Volk der Engländer ein Beispiel gegeben hat, Fürsten und Völker, dass Regierungen und Untertanen, dass Hohe und Niedere, Arme und Reiche sprechen: wir wollen umkehren, wir wollen zum Gott Jakobs uns flüchten; Er, der versprochen hat, das Flehen der gedemütigten und zerschlagenen Herzen nicht zu verachten, Er, der gesagt hat: rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen (Psalm 50,15.); Er wird dann auch unser Bitten und Flehen nicht verschmähen, und seine Barmherzigkeit zu uns wenden; Er, vor dem unsere Sünde und Missetat laut genug zum Himmel gerufen, wird auch das Rufen unserer Buße und unseres Glaubens vernehmen.
Warum greift man nicht zu diesem Mittel? warum lässt man im Sturm der Zeit diesen einzigen Anker nicht hinab in die Tiefe? warum lauft man lieber Gefahr, zu verderben? weil man innerlich noch nicht gedemütigt und zerschlagen ist, und weil man nach Außen sich eines solchen Beginnens schämt, weil das „pietistisch“ wäre, weil man einem Aberglauben zu huldigen meinen würde. Man fürchtet sich vor den Christus-losen Horden unserer Tage.
So weit sind wir! Ist's dann ein Wunder, dass der HErr uns den Brotkorb aus der Hand nimmt, und immer höher hinauf hängt; ists ein Wunder, dass Er das Schwert, welches an seidener Schnur über unsern Häuptern hängt, nicht so bald hinwegnimmt, und den fernherrollenden Donner Seiner Gerichte nicht verstummen, sondern immer noch verderbendrohend grollen lässt?
So lasst euch doch weisen, ihr Könige, und lasst euch züchtigen, ihr Richter auf Erden; dient dem HErrn mit Furcht, und freut euch mit Zittern. Küsst den Sohn, dass er nicht zürne, und ihr umkommt auf dem Wege, denn sein Zorn wird bald entbrennen. Aber wohl Allen, die auf ihn trauen (Psalm 2,10-12.).
3) Meine Lieben, so viel muss jedem Nachdenkenden klar werden, dass wir vor allen Dingen für unsere Seelen zu sorgen haben, dieweil wir nicht besser auch für unser leibliches Wohl sorgen können, als wenn wir unsere Seelen so schnell als möglich unter den sanften Hirtenstab unseres HErrn und Heilandes Jesu Christi begeben.
Zwar ist es ein alter Vorwurf, welcher längst schon dem HErrn und Seinen Nachfolgern gemacht worden ist, dass man eigentlich bei Ihm und in Seinem Dienst sein Weltglück nicht machen könne. Und es ist etwas Wahres an diesem Vorwurf; denn derjenige, der sich nach der Regel Christi hält: wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach, - darf allerdings mancherlei krumme und gerade Wege, die ein Weltmensch unbedenklich einschlägt, sich nicht gestatten. Bei schwierigen Fragen über das Mein und Dein, in Fällen, wo der himmlische mit dem irdischen Beruf ins Gedränge kommt, bei Fragen über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines bestimmten Mittels muss ein Christ fähig sein, auf das Irdische zu verzichten, um das Himmlische zu ergreifen. Wer nicht im Stande ist, einen zeitlichen Gewinn zurückzulassen, ist kein Diener Christi. Wer die Hand an den Pflug legt, und sieht zurück, ist nicht geschickt zum Reiche Gottes (Luk. 9,62.).
Und doch bleibt es dabei: die Gottseligkeit ist zu allen Dingen nütze, und hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens (1. Tim. 4,8.). Hast du nicht gelesen, was der Psalmist als die Erfahrung seines ganzen Lebens beurkundet: ich bin jung gewesen und alt worden, und habe doch nie gesehen den Gerechten verlassen, oder seinen Samen nach Brot gehen (Psalm 37,25.). Hast du nicht gelesen, was der 33ste Psalm, Vers 18. und 19. hinzufügt: siehe, des HErrn Auge sieht auf die, so Ihn fürchten, die auf Seine Güte hoffen, dass Er ihre Seele errette vom Tode, und ernähre sie in der Teuerung. Darum können wir auch für die Angelegenheiten unseres äußeren Lebens nicht besser sorgen, als wenn wir Sorge tragen für unsere Seelen, und sie ihrem Hirten und Bischof untertänig machen, der da gekommen ist, auf dass sie das Leben und volle Genüge haben. Er hat unsere Sünden selbst geopfert an Seinem Leib auf dem Holz, sagt unser Text, auf dass wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben, durch welches Wunden ihr seid heil worden. Denn ihr wart wie die irrenden Schafe, aber ihr seid nun bekehret zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen. Ach, dass dieses auch von uns gesagt werden könnte! Aber dass es so mit uns werde, dazu liegt in dem hohen und unleugbaren Beruf unserer Zeit eine zwiefache Aufforderung. Wir mögen auf einer Stufe des Glaubens oder des Unglaubens stehen, auf welcher wir wollen, wir sind eingeladen, unter den himmlischen Hüterstab Jesu Christi, unseres Heilandes, zu treten. O ihr Verlorenen, lasst euch führen! ihr Verirrten, lasst euch finden! ihr Verwundeten, lasst euch verbinden! ihr Schwachen, lasst euch stärken! ihr Starken, lasst euch behüten und pflegen durch Gottes Macht zum ewigen Leben!
Amen.