Hamann, Johann Georg - Brocken (1759)

Hamann, Johann Georg - Brocken (1759)

Joh. 6, 12.

Sammlet die übrig bleibende Brocken, daß nichts umkomme.

Erklärung des Titels

Ein Heer von Volk wird von 5 Gerstenbrodten überflüssig gespeist; dieses kleine Maas ist für die Menge in der Wüsten so reich, daß mehr Körbe voll übrig bleiben als sie Brodte empfangen hatten. Wir sehen eben dies Wunder des göttlichen Seegens in der Menge der Wissenschaften und Künste. Was für ein Magazin macht die Geschichte der Gelehrsamkeit aus! Und worauf gründet sich alle? Auf 5 Gerstenbrodte, auf 5 Sinne, die wir mit den unvernünftigen Thieren gemeinschaftlich besitzen. Nicht nur das ganze Waarhaus der Vernunft sondern selbst die Schatzkammer des Glaubens beruhen auf diesem Stock. Unsere Vernunft ist jenem blinden thebanischen Wahrsager Tiresias ähnlich, dem seine Tochter Manto den Flug der Vögel beschrieb; er prophezeyte aus ihren Nachrichten. Der Glaube, sagt der Apostel, kommt durchs Gehör, durchs Gehör des Wortes Gottes. Röm. 10. 17. Geht, und sagt Johannes wieder, was ihr höret und sehet. Matth. 11. 4.

Der Mensch genüst unendlich mehr als er nöthig hat - und verwüstet unendlich mehr als er genüst. Was für eine Verschwenderin muß die Natur ihrer Kinder wegen seyn; wie viel Herunterlassung, womit sie die Wagschaale und die Verhältnis unserer Anzahl und Bedürfnisse unterdrückt und sich nach den Hunger und den Uebermuth unserer Begierden in Aufwand setzt. Muß sie nicht die Tochter eines sehr liebreichen Vaters und Menschenfreunds seyn?

Wie weit mehr sündigt der Mensch in seinen Klagen über das Gefängnis des Körpers, über die Gränzen, in die ihn die Sinne einschränken, über die Unvollkommenheit des Lichtes, - und verdammt selbige zu gleicher Zeit durch seine Unersättlichkeit in den Lüsten des Fleisches, durch seine Partheylichkeit für sinnliche Vorurtheile und durch seinen Stoltz auf das Licht, das er schmälert - Die sichtbare Welt mag noch so eine Wüste in den Augen eines zum Himmel erschaffenen Geistes seyn; die Brodte, die uns Gott hier aufträgt, mögen noch so unansehnlich und kümmerlich aussehen; die Fische noch so klein seyn; sie sind geseegnet und wir mit denselben von einem Allmächtigen, Wunderthätigen, Geheimnisvollen Gott, den wir Christen als den unsrigen nennen, weil er sich selbst so in der grösten Demuth und Liebe offenbart hat.

Ist es nicht unser Geist selbst, der in der Tiefe seines Elends dies Zeichen seines hohen Ursprunges verräth und sich als einen Schöpfer über die sinnlichen Eindrücke erhebt, der sie fruchtbar macht, der selbige zu einem Gerüste baut, um den Himmel zu ersteigen oder sich Götzen schafft, für die er Ziegel brennt und Stoppeln zusammensucht. Ist es nicht ein Wunder unsres Geistes selbst, der die Dürftigkeit der Sinne in einen solchen Reichthum verwandelt, über dessen Ausbreitung wir erstaunen müssen.

Unsere Seele macht sich aber eben der Ausschweifung schuldig in der Nahrung ihrer Kräfte als die sie durch den Leib begeht. Außer der Mässigkeit, die unsere Nothdurft uns vorschreiben sollte ist eine wirthschaftliche Aufmerksamkeit auf die Brocken, die uns in der Hitze unseres Appetits entfallen und die wir nicht der Mühe werth achten, weil wir mehr vor uns sehen, zu sammlen, nicht zu tadeln. Wir leben hier von Brocken. Unsere Gedanken sind nichts als Fragmente. Ja unser Wissen ist Stückwerk. Ich denke mit göttlicher Hülfe gegenwärtige Blätter zu einem solchen Korbe zu machen, worinn ich die Früchte meines Lesens und Nachdenkens in losen und vermischten Gedanken sammlen will. Um die von gleichem Inhalt mit der Zeit zusammen zu bringen, will ich selbige numeriren.

§ 1.

Sind es nicht die blossen Erscheinungen der Selbstliebe, die wir mit dem Begriff der Freyheit belegt? Diese Selbstliebe ist das Herz unseres Willens, aus dem alle Neigungen und Begierden gleich den Blut- und Pulsadern entspringen und zusammenlaufen. Wir können so wenig denken, ohne uns unserer bewußt zu seyn als wollen, ohne uns unserer bewußt zu seyn.

Der Japaneser sieht seinen Abgott in einer so nahen Verhältnis mit seinen Begriffen und Neigungen als der Russe seinen Bart und der Engländer seine Charta Magna. Der Abergläubische, der Sclave und der Republikaner streiten daher mit gleicher Wuth und Verdienst für den Gegenstand ihrer Selbstliebe und mit einem gleichen Grund der Freyheit und Eyfer für selbige.

Warum vermehrt der Handel die Liebe der Freyheit? Weil er das Eigenthum eines Volks sowohl als jeden Bürgers vermehrt. Wir lieben, was uns eigen gehört. Hier ist also die Freyheit nichts als Eigennutz und ein Ast der Selbstliebe gegen unsere Güter.

Daher ist so viel Ähnlichkeit zwischen den Wirkungen der Selbstliebe und Freyheit. Ja die erste ist das Gesetz der letzteren, wie Young sagt:

man love thyself;
In this alone free - agents are not free.

So wie alle unsere Erkenntniskräfte die Selbsterkenntnis zum Gegenstand haben, so unsere Neigungen und Begierden die Selbstliebe. Das erste ist unsere Weisheit, das letzte unsere Tugend. So lange es den Menschen nicht möglich ist, sich selbst zu kennen, so lange bleibt es eine Unmöglichkeit für ihn, sich selbst zu lieben. Die Wahrheit kann uns daher allein frey machen; dieß ist die Lehre der himmlischen Weisheit, die deswegen in die Welt kam, uns Selbsterkenntnis und Selbstliebe zu lehren.

Warum kann der Mensch sein eigen Selbst nicht kennen? Dies muß bloß in dem Zustande unserer Seelen liegen. Die Natur, die uns in lauter Räthseln und Gleichnissen von dem Unsichtbaren unterrichtet, zeigt uns an den Beziehungen, von denen unser Körper abhängt, wie wir uns die Beziehung unseres Geistes auf andere Geister vorstellen können. So wie der Leib den Gesetzen der äusseren Gegenstände unterworfen ist, der Luft, dem Boden, der Würkung anderer Körper: so müssen uns wir unsere Seele gleichfalls vorstellen. Sie ist dem beständigen Einfluß höherer Geister ausgesetzt und mit selbigen verknüpft; dies macht daher unstreitig unser eigen Selbst so zweifelhaft, daß wir selbiges nicht erkennen, unterscheiden, noch selbst bestimmen können.

Die Unmöglichkeit, uns selbst zu kennen, kann so wohl in der Grundlage unserer Natur als in einer besondern Bestimmung und Zustande derselben liegen. So setzt die Bewegung einer Uhr eine gehörige Einrichtung ihres Baues und die Bedingung, aufgewunden zu werden, zum voraus. Wenn unsere Natur auf eine besonders genaue Art von dem Willen eines hohen Wesens abhinge, so folgt von selbst, daß man den Begriff desselben zu Hülfe nehmen müsse, um die erstere zu erklären; und daß je mehr Licht wir in Ansehung dieses Wesens erhalten würden, desto mehr sich unsre eigene Natur aufklären müste.

Unser Leben ist das erste von allen Gütern und die Quelle der Glückseeligkeit. Wenn wir das erste in Betrachtung ziehen, so zeigt die Beschaffenheit desselben die Eigenschaften der letzteren an. Dies ist so abhängend, daß unzählige Zufälle uns desselben berauben können, und wir haben so viel Gewalt über dasselbe, als jedes äußere Ding sich rühmen kann. Das ganze Heer von den feindseligen Ursachen, wodurch das Band der Seele mit dem Leibe aufhören und getrennt werden kann, steht aber unter der Regierung desjenigen, dem wir unser Leben zu danken haben. Alle mittlere Werkzeuge stehen unter seiner Hand. Mit unserer Glückseeligkeit muß es daher eine gleiche Bewandtnis haben. Hieraus sieht man, wie nothwendig unser Selbst in dem Schöpfer desselben gegründet ist, daß wir die Erkenntnis unserer selbst nicht in unserer Macht haben, daß, um den Umfang desselben auszumässen, wir bis in den Schooß der Gottheit dringen müssen, die allein das ganze Geheimnis unsres Wesens bestimmen und auflösen kann.

Die erste Ursache aller Dinge, von der wir so unmittelbar abhängen, muß daher unumgänglich zur Hülfe genommen werden, wenn wir unser eigen Selbst, unsere Natur, Bestimmung und Einschränkung einsehen wollen. Nächst dieser ersten Ursache gehört dazu eine Kenntnis aller der Mittelwesen, die mit uns in Verbindung stehen, und die durch ihre Wirkung unsere hervorbringen helfen oder zu ändern im stande sind. Alle diese Betrachtungen zusammengenommen können wir den Zustand der menschlichen Natur auf der Welt nennen. Es ist die Frage nicht allein, wenn ich mein eigen Selbst ergründen will, zu wissen, was der Mensch ist? sondern auch, was der Stand desselben ist? Bist du frey oder ein Sclave? Bist du ein Unmündiger, ein Wayse, eine Wittwe und in welcher Art stehst du in Ansehung höherer Wesen, die ein Ansehen sich über dich anmassen, die dich unterdrücken, die dich übervortheilen und durch deine Unwissenheit, Schwäche, Thorheit zu gewinnen suchen?

Hieraus läst sich ersehen, auf wie viele Facta unsere Selbsterkenntnis beruht und daß selbige so lange unmöglich oder sehr unhinlänglich und betrüglich ist, als uns jene nicht entdeckt und offenbart werden. Daß die Vernunft nichts als Analogien auffassen kann, um ein sehr undeutlich Licht zu erhalten, daß wir durch Beobachtung über den Plan der göttlichen Schöpfung und Regierung allein auf Muthmassungen gebracht werden können, die sich auf den besonderen Entwurf seines geheimen Willens mit uns anwenden lassen.

Unser Leben besteht in einer Vereinigung des sichtbaren Theils mit einem höheren Wesen, das wir bloß aus seinen Wirkungen schliessen können. Diese Vereinigung ist unserm eigenen Willen einigermassen preis gegeben - und unzählich vielen andern Zufällen ausgesetzt - Beyde stehen auf eine unbegreifliche und verborgene Weise unter der Regierung und Vorsehung desjenigen, der es uns giebt und nach seinem Willen erhält. Diese und dergleichen Begriffe sind Zeigefinger, auf die wir Achtung geben müssen, um einige Schlüsse über uns selbst zu machen.

Um die Erkenntnis unserer Selbst zu erleichtern, ist in jedem Nächsten mein eigen Selbst als in einem Spiegel sichtbar. Wie das Bild meines Gesichts im Wasser wiederscheint, so ist mein Ich in jedem Nebenmenschen zurückgeworfen. Um mir dieses Ich so lieb als mein eigenes zu machen, hat die Vorsehung so viele Vortheile und Annehmlichkeiten in der Gesellschaft der Menschen zu vereinigen gesucht.

Gott und mein Nächster gehören also zu meiner Selbsterkenntnis, zu meiner Selbstliebe. Was für ein Gesetz, was für ein entzückender Gesetzgeber, der uns befiehlt, ihn selbst mit ganzem Herzen zu lieben und unsern Nächsten als uns selbst. Dies ist die wahre und einzige Selbstliebe des Menschen, die höchste Weisheit der Selbsterkenntnis eines Christen, der nicht nur Gott als das höchste, wohlthätigste, einzig und allein gute und vollkommene Wesen liebt sondern überdem weiß, daß dieser Gott selbst sein Nächster und seines Nebenmenschen Nächster im strengsten Verstande geworden ist, damit wir alle mögliche Ursache hätten, Gott und unsern Nächsten zu lieben.

In unserm Glauben, sieht man also, ist allein himmlische Erkenntnis, wahres Glück und erhabenste Freyheit der menschlichen Natur vereinigt. Vernunft - Geister - Sittenlehre sind 3 Töchter der wahren Naturlehre, die keine bessere Quelle als die Offenbarung hat.

§ 2.

Wie sollten wir über die Grösse unserer Natur erschrecken, wenn wir bedenken, daß die Wahl nicht nur des Guten, sondern des Besten, ein Gesetz unseres Willens ist? Der Bau jedes Geschöpfes bezieht sich auf seine Bestimmung. Ist dieser Ruff nicht eine Prophezeyung der höchsten Glückseeligkeit?

§ 3.

Es war nach dem römischen Recht den Soldaten nicht erlaubt, Ländereyen zu kaufen in dem Lande, wo sie Krieg führten. L. 9. II de re militari et L. 13. II eodem. Wir sehen hier ein römisch Gesetz, welches den Christen verdammt, der zum Streiter auf diese Erde beruffen (ist) und sich zum Angesessenen derselben machen will. In den Geschichten, Gesetzen und Gebräuchen aller Völker finden wir, daß ich so sage, den sensum communem der Religion. Alles lebt und ist voll von Winken auf unsern Beruf und auf den Gott der Gnade. Wir haben ein groß Vorurtheil in Ansehung der Einschränkung, die wir von Gottes Wirkung und Einfluß bloß auf das jüdische Volk machen. Er hat uns bloß an dem Exempel desselben die Verborgenheit, die Methode und die Gesetze seiner Weisheit und Liebe erklären wollen, sinnlich machen, und uns die Anwendung davon auf unser eigen Leben und auf andere Gegenstände, Völker und Begebenheiten überlassen. Der Apostel sagt dies ausdrücklich den Lystrensern, daß Gott den Heyden eben so gut ein Zeugnis und einen Zeugen von sich selbst gegeben; und worinn bestand das? Er that ihnen Gutes - er gab sich ihnen als die Liebe und den Gott der Liebe zu erkennen - Er gab ihnen Regen vom Himmel und fruchtbare Jahreszeiten und füllte ihr Herz mit Nahrung und Freude. Apg. 14. 17. Man sieht hier offenbar, daß dieser Regen und diese fruchtbaren Zeiten nicht allein in der Witterung bestehen sondern eben die Wirkungen des Geistes anzeigen, die uns gute Gedanken, Bewegungen, Anschläge mittheilen und der auf eine so unterscheidende Art den Juden zugeschrieben wird, daß es von ihren Weibern sogar heist, sie hatten seinen Beystand nöthig, um Wolle zur Stiftshütte zu spinnen.

Ist das kleinste Gräschen ein Beweis Gottes; wie sollten die kleinsten Handlungen der Menschen weniger zu bedeuten haben? Hat die Schrift nicht dies verächtlichste Volk ausgesucht, eines der kleinsten, die schlechtesten Handlungen, ja die sündlichsten derselben, um Gottes Vorsehung und Weisheit darin einzukleiden und ihn zu offenbaren in solcher Erniedrigung der Bilder. Natur und Geschichte sind daher die 2 grossen Commentarii des Göttlichen Wortes und dies hingegen der einzige Schlüssel, uns eine Erkenntnis in beyden zu eröffnen. Was will der Unterscheid zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion sagen? Wenn ich ihn recht verstehe, so ist zwischen beyden nicht mehr als der Unterscheid zwischen dem Auge eines Menschen, der ein Gemälde sieht, ohne das Geringste von der Malerey und Zeichnung oder der Geschichte, die vorgestellt wird, zu verstehen, und dem Auge eines Malers; zwischen dem natürlichen Gehör und dem musikalischen Ohr.

Könnte man nicht von Socrates, wenn er sich auf seinen Schutzgeist bezog, eben das sagen, was von Petrus steht: er wuste nicht was er sagte; oder von Caiphas, der prophezeyte und göttliche Wahrheiten verkündigte, ohne daß er, noch seine Zuhörer, das Geringste von dem wahrnahmen, was Gottes Geist durch ihn redte. Dies ist in der merkwürdigen Geschichte Sauls und Bileams vorgestellt, daß unter den Abgöttern selbst, ja in den Werkzeugen der Hölle die Offenbarung- Gottes vor Augen liegt und daß er sie selbst dazu braucht, um seine Diener und Knechte zu seyn wie Nebucadnezar.

Ein englischer Geistlicher hat in die Naturlehre die Salbung der Gnade zuerst einzuführen gesucht; es fehlte uns noch ein Derham, der uns nicht den Gott der nackten Vernunft, daß ich so rede, sondern den Gott der heiligen Schrift im Reich der Natur aufdeckt; der uns zeigt, daß alle ihre Schätze nichts als eine Allegorie, ein mythologisch Gemälde himmlischer Systeme - so wie alle Begebenheiten der weltlichen Geschichte Schattenbilder geheimerer Handlungen und entdeckter Wunder sind. Jer. 32. 20.

§ 4.

Welche Frage hat die Weltweisen mehr zu schaffen gemacht als der Ursprung des Bösen, oder die Zulassung desselben? Gott selbst sagt: Ich schaffe das Böses - Wenn wir einen rechten Begriff von den Dingen hätten oder uns zu machen suchten, so dürften wir uns durch Ausdrücke nicht verwirrt machen noch beleidigt halten. Gut und Böses sind eigentlich allgemeine Begriffe, die nichts mehr als eine Beziehung unserer Selbst auf andere Gegenstände und dieser Zurückbeziehung, daß ich so sage, auf uns anzeigen. Wir stehen also mit andern Dingen in Verbindung; auf diesen nexum beruht nicht nur unser wahres Wesen und eigentliche Natur sondern auch alle Abwechselungen und Schattierungen, deren sie fähig ist.

Unser Leben hat nöthig, durch Nahrung erhalten und ersetzt zu werden. Diese hängt von den Früchten der Erde ab, und diese gewissermassen von der Ordnung unseres Fleisses und dem Lauf der Natur. Die Faulheit ist daher ein sittlich Uebel und die Theuerung ein physisches Uebel. Wir nennen aber beyde so, weil durch selbige die Verbindung zertrennt wird, worinn unser Daseyn und die Erhaltung desselben zum Theil besteht.

Unsere Gesundheit ist ein Gut, das in einer Harmonie des körperlichen Baues und der Vereinigung mit der Seele besteht. Alles dasjenige, was selbige zu zerstören und zu ändern fähig ist, heist daher ein Uebel; und im Gegentheil ist dasjenige ein Gut, was selbige erhält oder wiederherstellen kann. Unsere Gesundheit und Leben kann daher aufhören, ein Gut zu seyn, sobald beyde in eine höhere Ordnung Eingriffe thun, die in einem näheren Verhältnis mit unserer geistigen Natur stehen.

Der Mensch ist ein sehr entferntes Glied in der Reyhe der erschaffenen Dinge von dem grossen Urwesen, wodurch alle bestehen und durch dessen Wort alle entstanden sind. Er mag noch so schwach gegen den ganzen nexum seyn, so hängt doch alles von Gott ab, und derjenige, welcher die ganze Kette in seiner Hand hält, trägt ihn in seiner unmittelbaren Obhut vermöge der Gesetze, wodurch alle Mittelwesen in Ihm ihren Grund und ihre Bestimmung haben. - Nichts giebt uns ein so außerordentlich Licht in die ganze Natur der Dinge, als die große Wahrheit unseres Heilands: Niemand ist gut als der einige Gott. Anstatt also zu fragen: wo kommt das Böse her? sollten wir die Frage vielmehr umkehren und uns wundern, daß endliche Geschöpfe fähig sind, gut und glücklich zu seyn. Hierinn besteht das wahre Geheimnis der göttlichen Weisheit, Liebe und Allmacht. Diese philosophische Neugierde, die sich über den Ursprung des Bösen so sehr wundert und beunruhigt, sollte man fast für ein dunkel Bewußtseyn des göttlichen Ebenbildes in unsrer Vernunft ansehen, für ein hysteron proteron dessen wahrer Sinn umgekehrt genommen werden muß, in dessen Versetzung aber gleichwohl eine Cabbala liegt, ein geheimer Verstand.

Es giebt nicht mehr als eine einzige Verbindung, die Gott zum Gesetz unserer Natur und ihres Glücks gemacht. Alles dasjenige, was der Mensch gegen diesen Zusammenhang thut, löst das allgemeine Band auf, die Harmonie, den Frieden, wodurch alle äussern Dinge zu schwach sind, in ihm zu wirken, und er stark genug, dem Ungestüm aller Gegenstände, die ihn unterdrückend überfallen, zu wiederstehen, ja nicht nur zu wiederstehen sondern selbst über diese vereinigte Macht zu herrschen.

Man stelle sich einen mächtigen Monarchen vor, der einen Liebling der Wuth seiner Höflinge aufgeopfert, um sich durch seinen Sohn an selbigen zu rächen. Der Vater ist verbannt und plötzlich der Rache und Macht seiner Feinde entzogen worden. Sein unmündiger Sohn bleibt im Reich und alles wüthet, um dieses Kind, um den Vater doppelt in demselben zu foltern und sich an seinem Erben mit desto mehr Grausamkeit zu rächen. Der Monarch entdeckt diesem Kinde das Schicksal seines Vaters, die Bosheit, die Macht und List seiner Feinde, ja ein Theil des Geheimnisses warum er sich nicht öffentlich für seinen Vater und ihn selbst erklären kann, warum er ihm den Hof verbieten muß; er thut ihm zugleich die Versicherung, daß er unbesorgt allenthalben seyn soll; daß er einen unerkannten Freund auf alle seine Wege und die Schritte seiner Feinde bestellt hat; ja daß er ihm ein Zeichen eindrucken will, daß jedermann verehren soll und das niemand im stande wäre auszulöschen oder ihm zu rauben als seine eigene Hand oder sein eigener Wille oder sein eigener Ungehorsam und Verachtung der Warnungen und Hülfsmittel, deren Gebrauch er ihm überliesse; daß seine Entfernung eine kurze Zeit seyn sollte; daß er ihn zu dem Aufenthalt seines Vaters unbekannt zu führen gedächte und sie beyde nach Vollziehung einiger wichtiger Geschäfte in sein Reich öffentlich zurückruffen und zu seinen Freunden und Nachfolgern oder Mitregenten öffentlich erklären und zugleich Strafe an ihren Feinden ausüben wollte.

Last uns dies Kind folgen, dem von seinen Feinden auf dem Wege nachgestellt wird; die alles thun, um durch Liebkosungen und Drohungen es zu gewinnen; die das Zeichen an seiner Stirn bald lächerlich machen, bald ihn bewegen, selbiges als einen Flecken abzuwischen, bald ihm Näschereyen und güldene Berge versprechen, um ihn selbst dazu zu bewegen. - Gesetzt, die Feinde erreichten es so weit, um es unkenntlich zu machen oder eine Zeitlang unsichtbar zu machen. Sie warten bloß hierauf, um ihre Rachsucht auszuüben; und mitten in der Entdeckung ihrer Grausamkeit und der Gefahr, worinn sich dieses Kind befindt, kommt der unbekannte Freund, um es aus ihren Klauen zu erretten. So kurz der Weg auch ist, so ist es von innerlicher Angst, Furcht und beständigen Anfällen seiner Feinde gedroht, in denen immer sein voriger unbekannter Erretter zu rechter Zeit erscheint, um ihn nicht umkommen zu lassen, und mit dessen Gegenwart alle Schreckbilder und Gestalten der Gefahr verschwinden.

Um der Aehnlichkeit in der Erdichtung noch näher zu folgen, last uns annehmen, daß dies Kind ein Zeichen an seinem Gesicht trüge, ohne es zu wissen, und das keine fremde Hand als seine eigene auslöschen könnte, daß es ihm daher aufgebunden würde, nicht mit der Hand die Stirne zu berühren und sich dazu durch keine Vorstellung bewegen zu lassen, ohne daß ihm die Ursachen oder das Daseyn dieses Zeichens und die Ehrfurcht, die seine Feinde für selbiges haben müsten, alle die Folgen aber seines Ungehorsams in diesem Stück entdeckt würden.

Dieser unmündige wandert jetzt - des Monarchen Verheißungen und Befehle - der Aufenthalt, wo er seinen Vater finden soll - und der Schutz des unbekannten Freundes, auf den er sich bey aller aufstoßenden Gefahr gewiß zu verlassen hatte; Hoffnung, kindliche Liebe und Zuversicht sind sein Stoltz, seine Lust und seine Stärke.

Wenn wir das menschliche Geschlecht und jeden Menschen uns in ähnlichen Fällen vorstellen, daß sein Leben, seine Sicherheit und ewig Glück von einer Bedingung abhängt, die über alle Schwierigkeiten siegt, und daß er mit Übertretung derselben nicht nur sein Glück verscherzt sondern auch in das höchste Elend geräth, und in beständiger Furcht, Angst und Gefahr schweben, ja einer augenblicklichen Erlösung nöthig haben muß, falls er nicht auf ewig verloren seyn soll - so wird uns die Frage vom Ursprung des Bösen in einem ganz fremden Gesichtspunkt vorkommen.

§ 5.

Je mehr ich dem Begriff der Freyheit nachdenke, desto mehr scheint er mir mit allen Beobachtungen derselben übereinzukommen. Ich will 2 anführen. Man kommt überein, daß es keine Freyheit ohne Gesetze geben könne; und man erklärt diejenige für freye Staaten, wo die Unterthanen sowohl als der Fürst von Gesetzen abhängen. Gesetze haben alle ihre Kraft bloß durch den Grundtrieb der Selbstliebe, der Belohnungen und Strafen als Bewegungsgründe würksam macht. Ein Gesetz ist niemals so beunruhigend und so beleidigend als ein Richterspruch, der auf Billigkeit gegründet ist. Das erste rührt meine Eigenliebe gar nicht und erstreckt sich auf meine Handlung allein, macht alle diejenigen daher mit mir gleich, die im gleichen Fall stehen. Der letzte, ein wiIlkürlicher Spruch ohne Gesetz, ist aus entgegengesetzten Bewegungen der Selbstliebe allemal als eine Knechtschaft für uns. Durch ein Gesetz sind mir die Folgen meiner Handlung bekannt; die Einbildungskraft kann daher durch keine Schmeicheleyen oder argwöhnische Ueberlegungen von der Gerechtigkeit unsers Fürsten oder Richters uns hintergehen. Ja der Richter in einer freyen Republik zeigt mir selbst durch sein Beyspiel, daß ihm das Gesetz so gut befiehlt, dies gegen mich auszusprechen, als es mir befiehlt, das was er ausspricht, zu leiden. Hierinn bestehen also alle die Vorzüge der politischen Freyheit. Ein jeder weiß die Folgen seiner Handlungen und niemand kann selbige ungestraft übertreten, weil nichts als der Wille des Gesetzes mich einschränken kann und dieser Wille ist mir so wohl bekannt als unwandelbar, ja der Wille des Gesetzes ist in allen Fällen vor mich und eine Stütze meiner Selbsterhaltung und Selbstliebe. Daher berufen wir uns auf Gesetze; daher fürchten wir selbige. Man füge noch hinzu, daß die Gesetze, die wir uns selbst geben, aus eben dem Grunde der Selbstliebe uns niemals schwer vorkommen und daß es das gröste Vorrecht freyer Staaten ist, ihre eigenen Gesetzgeber zu seyn. Gesetze schränken nicht also die Freyheit ein, sondern geben mir die Fälle zu erkennen und die Handlungen, die vortheilhafte oder nächtheilige Folgerungen für meine Selbstliebe haben sollen, und diese Einsicht bestimmt daher unsere Neigungen.

Der stoische Grundsatz: der Tugendhafte ist allein frey und jeder Bösewicht ein Sclave, bekommt aus dieser Erklärung gleichfalls sein Licht. Lüste und Laster hindern unsere Erkenntnis; die falsche Urtheile derselben verwirren daher unsere Selbstliebe. Wir glauben zu unserm Besten, zu unserm Vergnügen, zu unserer Ehre zu handeln und wählen Mittel, die allen diesen Endzwecken wiedersprechen. Ist dies Selbstliebe? Wo diese nicht ist, kann auch keine Freyheit seyn.

§ 6.

Wenn man erwägt, wie viel Stärke, Gegenwart des Geistes, Geschwindigkeit, der wir sonst nicht fähig sind, uns die Furcht einer außerordentlichen Gefahr giebt: so begreift man, warum ein Christ dem natürlichen sichern Menschen so sehr überlegen ist, weil er mit beständiger Furcht und Zittern seine Seeligkeit sucht.

§ 7.

Mein Magen beschwert sich über die Unmäßigkeit; jedes Glied hat sein Gefühl; das es warnt für einen Gegenstand, der ihm nachtheilig ist: dies ist ein physisches Gewissen.

§ 8.

Wo kommt das Ansehen her, in dem die Wahrsagerkünste stehen, und die große Anzahl derselben, die sich auf nichts als ein Misverständnis unsers Instincts oder natürlicher Vernunft gründen. Wir sind alle fähig, Propheten zu seyn. Alle Erscheinungen der Natur sind Träume, Gesichter, Räthsel, die ihre Bedeutung, ihren geheimen Sinn haben. Das Buch der Natur und der Geschichte sind nichts als Chyffern, verborgene Zeichen, die eben den Schlüssel nöthig haben, der die heilige Schrift auslegt und die Absicht ihrer Eingebung ist.

§ 9.

Der Leib ist das Kleid der Seele. Er deckt die Blösse und Schande derselben. Der Wollüstige und Ehrgeitzige schreiben die lasterhaften Neigungen ihrem Blut und Fibern zu. 2. Er hat gedient, unsere Seele zu erhalten, eben wie die Kleidung unsern Leib schützet gegen die äusserlichen Angriffe der Luft und anderer Gegenstände. Diese Nothdurft unserer Natur hat uns erhalten, unterdessen höhere und leichtere Geister ohne Rettung fielen. Die Hindernis, die uns ein Kleid giebt, das uns ein wenig schwerer macht und ein wenig von dem Gebrauch unsrer Glieder entzieht, erstreckt sich nicht sowohl auf das Gute in Ansehung der Seele - als in Ansehung des Bösen. Wie abscheulich würde der Mensch seyn vielleicht, wenn ihn der Leib nicht in Schranken hielte!

§ 10.

Das allgemeine Beste eines Staats wird von den Allmosen der Unterthanen unterhalten. Jede Scherbe des Fleisses wird von Gott geseegnet zum allgemeinen Reichthum und Nahrung.

Mit freundlicher Genehmigung durch Andre Rudolph, http://www.hamann-kolloquium.de/werk

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