Goßner, Johannes - Evangelische Hauskanzel - Am 4. Sonntage nach Trinitatis.
Evang. Luc. 6, 36 - 42.
Von Christi Feldpredigt über das Splitterrichten.
Der Heiland war auf einem Berge zu beten; Er blieb über Nacht im Gebet, am Tage aber ging Er wieder hervor und erwählte zwölf Jünger, die Er Apostel, Boten, Gesandte nannte; dann ging Er mit ihnen unter das Volk, um demselben zu predigen, und die Kranken zu heilen; denn es ging Kraft von Ihm aus und heilte Alle. Zuerst lehrte Er Seine Jünger, dann das ganze Volk, wie sie alle in Seinem Reiche gesinnt seyn und wandeln müßten! Das war eine Predigt, wie man sie nie hörte. Er trug Lehren vor, die in Israel ganz fremd waren, z. B. die zu segnen, die Einem fluchen; denen wohlzuthun, die Einem wehe thun; selbst Feinde zu umarmen, und für Beleidiger zu beten; sich auf einen Backen schlagen lassen, und gutwillig auch den andern dazu darbieten; sich nicht nur den Mantel nehmen lassen, sondern auch die Wegnahme des Rocks nicht wehren. Man solle das vom Vater im Himmel lernen, der gütig sey gegen Undankbare und Gottlose. Und darauf fährt Er im heutigen Evangelio fort:
Darum seyd barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist. Ohne Barmherzigkeit Gottes kann kein Mensch bestehen und selig werden. Seine Barmherzigkeit ist es, daß es nicht gar aus ist mit uns, daß wir noch leben und sind. Es könnte uns kein Mensch und kein Engel ertragen in unserer Schwachheit und Gebrechlichkeit; nur die göttliche, unendliche Barmherzigkeit kann es.
Ich hatte nichts als Zorn verdienet, und soll bei Gott in Gnaden seyn!
Gott hat mich mit Ihm selbst versühnet, und macht durch's Blut des Sohns mich rein.
Wo kommt dies her? warum geschicht‘s? Erbarmung ist's und weiter nichts.
Das muß ich Dir, mein Gott bekennen, das rühm ich, wenn ein Mensch mich fragt.
Ich kann es nur Erbarmung nennen, und fühle, daß mein Herz es sagt.
Ich beuge mich, und bin erfreut, und rühme die Barmherzigkeit.
Gieb auch mir Mitleid und Erbarmen, bei meiner armen Brüder Noth;
Lehr, Jesus, mich, den Feind umarmen; Du starbst für ihn der Liebe Tod.
Dein Blut für alle Sünder schreit: Barmherzigkeit! Barmherzigkeit!
Wer solche Barmherzigkeit von Gott erlangt hat, von dem wird billig auch Barmherzigkeit gegen seine Mitmenschen verlangt und soll von selbst folgen. Denn ein unbarmherziges Gericht ergeht über den, der nicht an Andern übt, was Gott an ihm gethan hat; wie an dem unbarmherzigen Knecht zu sehen ist. Matth. 18, 23.
Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammet nicht, so werdet ihr auch nicht verdammet. Vergebet, so wird euch vergeben. Wer also dem Gericht, der Verdammniß, der strafenden Gerechtigkeit Gottes entgehen, nicht gerichtet und verdammt werden, sondern Vergebung und Gnade erlangen will von Gott, der hat hier die größte Versicherung und Anweisung, wie er es machen soll; es liegt in seinen Händen, steht ganz bei ihm; er soll nur Andern auch vergeben, Andere nicht richten und nicht verdammen, wenn sie auch verdammungswürdig sind, sondern ihnen gönnen und angedeihen lassen, was er sich selbst wünscht - Erbarmen und Gnade. Der Heiland hat dies uns ja schon im Gebete, das Er uns lehrte, in den Mund gelegt: „Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern.“ Würde Er uns das bitten heißen, wenn Gott nicht dazu geneigt wäre, uns alle Schuld zu verzeihen, sobald wir verzeihen unsern Beleidigern; und barmherzig mit uns zu verfahren, uns weder zu richten noch zu verdammen, wenn wir Andere nicht richten und nicht verdammen, sondern vielmehr um Barmherzigkeit für sie flehen? - Aber da des Richtens und Verdammens, des Nichtvergebens kein Ende ist unter den Menschenkindern, welches Gericht wird über sie ergehen? Es ist fast durchgehend keine Neigung starker und gewöhnlicher, als das Richten und Verdammen, und nichts schwerer als Vergeben. Doch wenn ein Vater sein Kind, eine Obrigkeit den fehlenden Unterthan, ein Vorgesetzter seinen Untergebnen, ein Freund und Bruder den andern, der offenbar fehlt und sündigt, freundlich straft, zurechtweist, ihm den Fehler oder das Vergehen vorhält, um ihn zu bessern und vor dem ewigen Gerichte zu bewahren, so dürfen die Bestraften nicht sagen: Richtet nicht, verdammet nicht! - Das lieblose, unberufene Richten der Andern, das nur aus Tadelsucht und Scharfrichter hervorgeht, ist hier gemeint und verboten, so wie das andere pflichtgemäße der Liebe geboten ist, und im Unterlassungsfalle wie bei Vater Eli schrecklich gestraft wird.
Gebet, so wird euch gegeben; ein voll, gerüttelt überfließend Maaß wird man in euren Schooß geben. Denn eben mit dem Maaß, womit ihr messet, wird man euch wieder messen. Nicht nur zum Vergeben, sondern auch zum Geben und Mittheilen muß der Christ geneigt seyn, und sich's vom Geber aller guten Gaben ausbitten, so daß es ihm zur Natur wird, und er von Herzen sagen kann: Geben ist seliger als Nehmen. Wie es der Sonne Natur ist, aller Welt Licht und Wärme zu geben, ohne etwas dafür zu nehmen; wie Gott Allen Alles giebt, was sie nöthig haben, auch den Gottlosen und Undankbaren, die statt des Dankes die Gaben nur mißbrauchen, und damit gegen Ihn sündigen; dennoch hört Er nicht auf, Seine Sonne aufgehen, und Regen und Thau herabfallen zu lassen über Alles, was auf Erden ist. Und Jesus hat Sein Blut und Lehen uns gegeben, hat also für das, was wir um Seinetwillen Andern geben, längst voraus bezahlt, so daß wir Ihm ewig uns und Alles schuldig bleiben. Dennoch verheißt Er uns, daß, wenn wir geben, uns wiedergegeben wird, und zwar ein volles, gerütteltes und überfließendes Maaß. Es bleibt nichts unvergolten, kein frischer Trunk Wasser. Wir sollen zwar nicht deswegen geben, um es wieder zu erhalten, aber wir sollen uns doch auch nicht durch die Besorgniß, als wenn durch's Geben etwas verloren wäre, abhalten lassen. Denn es ist nichts verloren oder weggeworfen, was wir in Liebe geben; es wird in Zeit oder Ewigkeit uns reichlich wieder zufließen, und ewige Zinsen tragen. Gott richtet sich nach unserm Maaß, womit wir geben, nach demselbigen wird uns wieder zugemessen, kärglich oder reichlich, so wie wir geben.
Und Er sagte ihnen ein Gleichniß: Mag auch ein Blinder einem Blinden den Weg zeigen? Werden sie nicht alle Beide in die Grube fallen? Das sagte Er wohl in Beziehung auf die Pharisäer und Schriftgelehrten, die Er ja blinde Führer der Blinden nannte, und geradezu saget: Wäret ihr blind, so hattet ihr keine Sünde, aber da ihr saget: Wir sehen; so bleibt eure Sünde. Es ist ein großes Unglück und schweres Gericht über ein Land, über eine Stadt oder eine Gemeinde, wenn die Lehrer, die Führer blind, unerleuchtet und unerfahren in den Wegen des Herrn sind; wenn sie vom falschen Lichte der Aufklärung betrogen, sich für sehend und hocherleuchtet halten, und sogar das wahre Licht des Evangeliums, und Christi und der Apostel Lehre selbst für ein Irrlicht, für veralteten Aberglauben und jüdische Vorurtheile ausschreien; wenn sie den in Schatten stellen, der da sagte: „Ich bin das Licht der Welt, der Weg, die Wahrheit und das Le- den; Niemand kommt zum Vater als durch mich.“ Wer Jesum nicht also kennt und erfahren hat an seinem Herzen; wer seinen einzig wahren Weg nicht selbst gegangen, in der Nachfolge Christi nicht weit gefördert ist, der kann kein Führer der Blinden seyn; der weiß den Weg selber nicht: er wird sich und die er führt in's Verderben stürzen, und mit Allen in die Grube fallen. Es ist eine schreckliche Anmaßung und unverantwortliche Frechheit, Andere leiten wollen, und selbst des rechten Weges unkundig seyn, ja ihn verdächtigen, davor warnen und geflissentlich einen selbsterwählten Irrweg führen. Eben so entsetzlich ist es, wenn Eltern und Vorgesetzte, die selbst nicht erleuchtet sind, ihre Kinder und Untergebene nach ihrem Gutdünken und nach hergebrachter väterlicher Weise auf den breiten Weg der Welt führen, und anstatt sie in der Furcht Gottes und Nachfolge des Herrn zu führen und sie für den Himmel zu erziehen, sie ihren Lüsten und Leidenschaften überlassen, oder sie gar dazu anleiten, wie sie sich der Welt sollen gleichstellen, um zu Ehren oder zu Glücksgütern und Wollüsten zu gelangen, wenn sie sie selbst zu den rauschenden Vergnügungen, unter gemischte Gesellschaften, auf gefährliche Plätze, in Schauspiele, Belustigungen der Sinne und dergleichen führen oder dahin laufen lassen, wie sie wollen. Sie werden mit ihren Kindern in die Grube fallen, und ewig ihren Fluch hören müssen. Und was wird eine Gemeinde, wenn sie mit ihrem blinden Führer in der Grube liegt, die mit Feuer und Schwefel brennt, einst zu ihm sagen? welchen Dank wird sie ihm wissen? Wie sehr hat daher jede Gemeinde, jedes Land und Volk um erleuchtete Führer und Lehrer zu bitten, die den rechten Weg kennen, leiten, selber gehen, und also auch führen können! Wie sollen Kinder und Untergebene für ihre Eltern und Herrschaften bitten, daß sie Gott erleuchte und ihnen den Weg der Wahrheit zeige, daß sie nicht irre führen. Darum flehte Paulus unaufhörlich für die Seinigen um den Geist der Weisheit und Offenbarung zur Erkenntniß des Vaters und Christi, um erleuchtete Augen des Verstandes, daß sie erkennen möchten die Hoffnung ihres Berufes. O wie viele Tausende gehen durch blinde Führer verloren! Möge der Herr sich erbarmen, und Alle, die Andern vorangehn, erleuchten!
Der Jünger ist nicht über seinen Meister; wenn er ganz vollendet ist, so wird er wie sein Meister seyn. Das bezieht sich noch auf das Vorige; wie der Führer, so der Geführte; wie der Meister, so der Jünger oder Schüler; wenn er ausgelernt hat und vollendet ist, wird er seyn wie sein Meister, nicht über ihm. Wie kann der Schüler eines blinden Lehrers erleuchtet werden, oder Licht, wahre Erkenntniß von seinem Führer empfangen? Ein bloßer Vernunftlehrer kann keine evangelischen Christen bilden, sondern bloße Vernunftmenschen. Der blinde Vernunftmensch kann den Weg zu Christo nicht finden, wenn ihn sein blinder Vernunftlehrer führt, der ihn selber nicht kennt und nicht findet. Das sieht man wohl allenthalben; in allen Gemeinden, wo blinde Lehrer und Prediger stehen, da sind auch ihre Gemeindeglieder und Zuhörer in derselben Grube des Todes, des Unglaubens, der Lauigkeit und Weltlichkeit, wie ihre Führer.
Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge wirst du nicht gewahr? Was siehst du, wenn du noch blind bist, und blinder als der, den du bekehren willst; was siehst du an Andern, wenn du an dir nichts siehst? Die geistlich Blinden sehen gewöhnlich an Andern die Fehler, und vergrößern sie durch ihr falsches Licht; und für sich und an sich sind sie blind, sehen keine Fehler, sehen die größten Balken von Sünden nicht an ihnen selbst. Wer aber wohl erleuchtet ist, fängt bei sich selbst an, benutzt das Gnadenlicht zuerst für sich selbst, bittet zuerst um Selbsterkenntniß, und wacht über sein Herz und alle feine Gedanken, Worte und Werke. Und wenn er an Andern etwas sieht, was nicht wohl ansteht, so erinnert es ihn vor Allem an seine eignen Fehler, er erforscht sich selbst, ob er nicht dasselbe oder etwas Aergeres an sich habe. Es ist nichts Schädlicheres, als das Sehen auf Andere und das Splitterrichten, jede Kleinigkeit an Andern bemerken, hervorheben, vergrößern, ausbreiten und überall davon reden. Das macht die Splitterrichter vollends ganz blind, daß sie sich selbst ganz vergessen, sich besser dünken und für vollkommen halten; daß sie ihre größten Gebrechen nicht wahrnehmen, oder zudecken, oder entschuldigen und rechtfertigen. Habe Acht auf dich selbst; du kannst im christlichen Leben und Wandel unmöglich zunehmen und wachsen, wenn du so viel auf Andere schauest, ihre Fehler bemerkst und tadelst. Höre, was der Heiland weiter sagt:
Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt stille, Bruder; ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen; und du selbst siehst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuvor den Balken aus deinem Auge, und besiehe dann, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest. Wenn du die Augen und Herzen so gerne rein haben willst, so reinige doch zuerst dein Auge und Herz. Wenn du den Splitter an Andern nicht ertragen kannst, wie kannst du denn deinen Balken selbst so geduldig tragen? Fange doch bei dir selbst an. Man will Andere ganz vollkommen haben, und sich selbst übersieht man Alles, was noch so unvollkommen und anstößig ist. Man setzt eine Heiligkeit und Vollkommenheit darein, daß man mit Andern so streng ist, und an ihnen Alles bemerkt, richtet und verdammt. Man will zeigen, wie weit man es schon gebracht habe, wie eifrig und ernst man sey. Allein gerade dadurch verräth man nur zu deutlich, daß man mit sich selbst noch gar nicht angefangen habe; daß man in seinem eignen Herzen gar nicht zu Hause ist, und nicht weiß, wie es da aussieht. Kehre und fege vor deiner Thüre, reinige dein Inneres, wende deine Augen hinein in dein Herz und Leben. Du hast mit dir selbst genug zu thun, bis du das erfleht hast von deinem Heiland, daß du deine Balken ausziehen und wegwerfen kannst. Du wirst ihrer sobald nicht los. Fange nur einmal mit Einem an, wache und bete, und übe dich in Ablegung Eines Fehlers, Einer bösen Gewohnheit, der Ungeduld, des Zorns, der. Hitze, des unnöthigen und unnützen Geredes, der zerstreuten Gedanken im Gebete, des Neides oder Hasses, der Hoffart oder Eitelkeit, der argwöhnischen Gedanken, vor Allem der Lauigkeit im Gebete und der Wachsamkeit über dein Herz. Denn wenn du da nur ein Wenig vorwärts gekommen wärest, und brünstig und eifrig betetest, die Gegenwart des Herrn bewahrtest, so würde das Sehen auf Andere, das Splitterrichten von selbst wegfallen, und du könntest deine Balken nicht mehr ertragen, sie müßten heraus. Aber da fehlt es gewöhnlich bei allen splitterrichtenden Frommen; sie beten nicht, oder nicht recht; sie sind nicht innig; darum ruhen ihre Augen immer auf Anderen. Sie kennen sich selbst nicht, weil sie nicht in ihrem Herzen sind, sich nicht bewachen; ihr Gebet ist meistens nur äußerlich, mit dem Kopfe und mit der Zunge, kein Gebet des Herzens, kein Umgang mit dem Herrn im Herzen, kein Gespräch des Herzens mit Gott, mit dem Heilande; zum unaussprechlichen Seufzen des heiligen Geistes in ihnen kommt es gar nicht; es ist bloß eine Rede des Mundes. Sie nahen sich Gott mit den Lippen; aber ihr Herz bleibt ferne von Ihm. Würde der Herr in ihren Herzen wohnen, und sie Seine Nähe und Gegenwart gewahren, in Ihm bleiben, so würde Er ihnen bald alle ihre Gebrechen aufdecken: es kann sich vor Seinen Flammenaugen nichts verstecken, nichts verborgen bleiben. Wie sollten sie die Balken in ihren Augen nicht sehen, und doch die Splitter in andern Augen so leicht bemerken? o, das wäre unmöglich. Kehre also vor Allem in dein Herz zurück, und lerne mit dem Heiland vertraulich umgehen; in Seinem Lichte wirst du das Licht sehen. In Seiner Nähe wird dir der kleinste Flecken an dir sichtbar und erschrecklich werden, daß du ihn nicht mehr an dir dulden kannst; und Er wird dir's schenken, daß du seiner los wirst. Und dann, wenn du das vom Heiland gelernt hast, wie du deine Balken herausbringst, wirst du Andern leicht zeigen können, wie sie der Splitter los werden.
Dieses ganze Evangelium weist uns auf uns selbst zurück; wir sollen bei uns selbst anfangen, und nicht zuerst auf Andere sehen, sondern uns selbst, nicht Andere richten, verdammen, oder leiten und führen wollen, ehe wir selber recht erleuchtet sind, uns selber kennen und ganz bekehrt haben. Du bist nicht bekehrt, sondern verkehrt und verdreht ist dein Auge und dein Herz, wenn du die Splitter Anderer siehst, und richtest, und deine Balken siehst du nicht, und richtest dich selber nicht. Wie kannst du denn für das Heil Anderer so sorgfältig seyn, und dich selbst vernachlässigen! Wie kannst du denn selber im Kothe stecken bleiben, und Andere herausziehen wollen aus der Grube, in der du selber liegst? O laßt uns doch die Augen aufthun! laßt uns eifrig beten, daß uns der Herr unsere Augen öffne, und uns von dieser Blindheit und Verkehrtheit erlöse, und das: „Habe Acht auf dich selbst,“ in's Herz schreibe. An unserm eignen Heil muß uns doch vor Allem Alles gelegen seyn: Arzt, heile dich selbst! Freund! rette zuerst deine eigne Seele, ehe du andere retten willst. Sieh zu, ob du nicht schlechter bist, als die sind, die du bessern willst; ob du nicht kränker bist, als die du heilen willst; ob du nicht tiefer im Schlamme sitzest, als die du herausziehen willst. Es ist jämmerlich anzusehen, wenn ein Taumelnder die Andern gehen lehren will; wenn ein Trunkener Andere zur Mäßigkeit ermahnt; wenn ein Zorniger Andern die Sanftmuth empfiehlt; wenn ein Geiziger Andre wegen des Mangels an Freigebigkeit anklagt und straft. Dieses Verklagen und Richten Anderer ist das Geschäft und Handwerk des Teufels, der der Verkläger der Brüder in der Schrift genannt wird, und alle Splitterrichter sind seine Nachfolger und von seinem Geiste beseelt. Es ist die Gewohnheit der Pharisäer und Heuchler, die als die ärgsten Feinde der Wahrheit und Gottseligkeit, Christum, den Heiligsten und Untadelhaftesten tadelten und richteten, lästerten und verdammten, an Seinen Jüngern jeden Splitter bemerkten und hervorhoben, und dem Heilande zum Vorwurfe machten.
O Herr, erlöse uns von diesem Uebel, und schenke uns Innigkeit und Wachsamkeit über unser eignes Herz, Mund und Augen, daß wir auf uns selbst sehen, uns selber richten und reinigen von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes, und der Heiligung nachjagen, ohne welche dich Niemand schauen kann. Amen.
Ach, ihr theuren, lieben Kinder! höret Jesum, unsern Herrn,
Hört den Seelenüberwinder, und gehorchet Ihm auch gern,
Seine Triebe gehn auf Liebe,
Seine letzten Worte zeugen, Liebe sey den Seinen eigen.
Sinket nieder vor dem Heiland, alle von der Brüderschaft,
Die, ihr fremde waret weiland, und nun nah durch Seine Kraft!
Wollt ihr wissen, was zu'n Füßen
Unsers Meisters wird getrieben? nichts als lieben, nichts als lieben.