Goetz, Christoph Wilhelm - Kurze Betrachtungen über die Leidensgeschichte Jesu - Siebzehnte Betrachtung.
Sei nicht vermessen, wach' uno streite,
Denk nicht, dass du schon g'nug getan;
Dein Herz hat seine schwache Seite,
Die greift der Feind der Wohlfahrt an;
Die Sicherheit droht dir den Fall,
Drum wache stets, wach überall!
Text: Joh. 18,38-40. und 19,1-16.
Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit? Und da er das gesagt, ging er wieder hinaus zu den Juden, und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm. Ihr habt aber eine Gewohnheit, dass ich euch Einen auf Ostern los gebe, wollt ihr nun, dass ich euch den Juden König los gebe? - da schrien sie wieder allesamt und sprachen: Nicht diesen, sondern Barrabam. Barrabas aber war ein Mörder. Da nahm Pilatus Jesum und geißelte ihn. Und die Kriegsknechte flochten eine Krone von Dornen und setzten sie auf sein Haupt und legten ihm ein Purpurkleid an. Und sprachen: Sei gegrüßt, lieber Juden König! und gaben ihm Backenstreiche. Da ging Pilatus wieder hinaus und sprach zu ihnen: Seht, ich führe ihn heraus zu euch, dass ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde! Also ging Jesus heraus und trug eine Dornenkrone und Purpurkleid und er spricht zu ihnen: Sehet, welch ein Mensch? - Da ihn die Hohenpriester und die Diener sahen, schrien sie und sprachen: Kreuzige, kreuzige! Pilatus spricht zu ihnen: Nehmt ihr ihn hin und kreuzigt ihn; denn ich finde keine Schuld an ihm. Die Juden antworteten ihm: Wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz soll er sterben; denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht. Da Pilatus das Wort hörte, fürchtete er sich noch mehr. Und ging wieder hinein in das Richthaus und spricht zu Jesu: Von wannen bist du? Aber Jesus gab ihm keine Antwort. Da sprach Pilatus zu ihm: Redest du nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich zu kreuzigen, und. Macht habe, dich los zu geben? Jesus antwortete: Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir wäre nicht von oben herab gegeben; darum, der mich dir überantwortet hat, der hats größere Sünde. Von dem an trachtete Pilatus, wie er ihn los ließe. Die Juden aber schrien und sprachen: Lässt du diesen los, so bist du des Kaisers Freund nicht; denn wer sich zum König macht, der ist wider den Kaiser. Da Pilatus das Wort hörte, führte er Jesum heraus und setzte sich auf den Richtstuhl, an der Stätte, die da heißt Hochpflaster, auf Ebräisch aber Gabbatha. Es war aber der Rüsttag in Ostern um die sechste Stunde und er spricht zu den Juden: Seht, das ist euer König! - Sie schrien aber: Weg, weg mit dem, kreuzige ihn! Spricht Pilatus zu ihnen: Soll ich euern König kreuzigen? Die Hohenpriester antworteten: Wir haben keinen König, denn den Kaiser. Da überantwortete er ihn, dass er gekreuzigt würde! - Sie nahmen aber Jesum, und führten ihn hin.
In einem heftigen Kampf mit sich selbst, in einem Hin- und Herneigen, bald zu Recht bald zu Unrecht, stellen uns die evangelischen Textworte Pilatus, den Richter des Herrn, vor.
Wie viel die Versuchung in dem Menschen zu überwinden hat, um den Sieg davon zu tragen, das lasst uns heute an dieser Begebenheit erkennen.
I.
In einem vielfachen Kampf finden wir Pilatus verwickelt. Ein reiner Wille, ein klarer Begriff vom Rechten, ein fester Entschluss gerecht zu handeln, eine Achtung vor der Würde seines Amts, ein Glaube an die Wahrheit und eine Ehrfurcht vor der Heiligkeit derselben, würden diesem inneren Streit schnell ein Ende gemacht haben. Wie zu handeln sei, konnte ja gar keine Frage sein. Gerecht, und nicht anders. Für unschuldig hatte er Jesum erkannt; so musste er ihn auch freisprechen; um jeden Preis musste er ihn retten, wie dessen Gegner sich auch gebärden, wie sie auch toben und drohen mochten. Gerechtigkeit musste er handhaben. Aber eben dieses wilde Geschrei, die Missgunst der Vornehmen des Volks, die Drohungen derselben und die Furcht vor der Gefahr, wenn das Volk diesen Drohungen Gehör leistete, und dagegen auf der andern Seite doch die klarste Einsicht von der Unschuld des Angeklagten, erzeugten diesen Streit zwischen Recht und Unrecht. Aber viel hatte die Versuchung zu überwinden, ehe ihr der Sieg vollständig gelang.
Es war vor allem die eigene Überzeugung. Jesus war angeklagt, hart angeklagt; bei näherer Untersuchung indessen ergab es sich, dass diese Anklagen erdichtet, ungegründet waren. Ich finde keine Schuld an ihm, spricht Pilatus zu mehreren Malen. Er war also in seinem Inneren völlig entschieden, völlig überzeugt, dass der Angeklagte unschuldig sei, und um sich zu entschließen, ihn zu verurteilen, musste erst die Gewalt dieser eignen Überzeugung überwunden werden; denn ein Verdammungsurteil war ja gegen seine Überzeugung. Mit gleicher Macht sträubte sich gegen das Verdammungsurteil
sein menschliches Gefühl. Es mochte wohl der Anblick Jesu den heidnischen Richter wunderbar ergriffen haben. - Die mit Jesu gepflogene Unterhaltung vermehrte wahrscheinlich unwillkürlich diese Achtung. Zwar hatte er ja gefragt: Was ist Wahrheit? und hatte damit zu erkennen gegeben, dass ihm das Streben Jesu, Wahrheit zu verbreiten, unnütz und vergeblich schien - aber ihn zu achten, dazu fühlte er sich doch gedrungen. Da den Angeklagten die Kriegsknechte unmenschlich behandeln; da sie sein heiliges Haupt mit einer Dornenkrone verwunden; da ergreift ihn ein menschliches Gefühl; er empfindet Mitleiden: Seht, welch ein Mensch ist das!, - ruft er den Feinden Jesu zu. Auch sie sollte der Anblick des Verachteten führen, dass sie sich seiner menschlich erbarmten. Menschlich also fühlte Pilatus. Auch dies menschliche Gefühl musste besiegt werden, ehe er das Verdammungsurteil aussprach; denn dieses war ja gegen alles menschliche Gefühl. Gegen das Verdammungsurteil sprachen auch manchfache Warnungen von Außen her. Auch der Einfluss dieser musste beseitigt werden, wenn das Böse geschehen und die Unschuld verdammt werden sollte. Pilatus Gattin, so erzählt uns Matthäus, ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten. Diese Warnung konnte aber um so weniger ihres Eindrucks verfehlen, als sie mit seiner Überzeugung und mit seinem besseren Gefühl übereinstimmte. Er hat sich zu Gottes Sohn gemacht, sagten ihm die Juden. Auch dies kann als Warnung für ihn betrachtet werden. Denn, obwohl er der Wahrheit Hohn sprach, konnte er doch ihrem Einfluss nicht völlig widerstehen, dem Glauben nämlich an ein mächtiges Etwas außer ihm. Er erschrak, als er dies hörte; es drängte sich ihm unwillkürlich der Gedanke auf, so sehr er auch versucht haben mag, ihn zurückzuweisen, er habe es hier mit etwas Außerordentlichem zu tun; der Angeklagte sei unschuldig und dürfe nicht gerichtet werden. Und auch diese Warnungen mussten im Hintergrund unbeachtet zurücktreten; da dennoch das Verdammungsurteil von ihm ausgesprochen wurde; auch sie, samt ihrem Einfluss, hatte die Versuchung zu überwinden. Dazu kam auch endlich noch die gänzliche Verachtung, von der sich bereits Pilatus gegen die Feinde Jesu und gegen jede ihrer Unternehmungen erfüllt sah. Er hatte schon oft Gelegenheit gehabt, diese Gegner Jesu kennen zu lernen; er hatte sie bereits in ihrer Heuchelei und Niedrigkeit, in ihrem ohnmächtigen Hochmut, in ihrer kriechenden Schmeichelei durchschaut; er wusste, dass sie Jesum aus Neid, weil das Volk ihm anhing, weil er gewaltig predigte, überantwortet hatten; er wurde bestätigt in seiner Meinung von ihrer Schlechtigkeit; denn alle ihre Angaben waren falsch, ihre Anklagen ungerecht. Er verachtete sie, wie wir auch daraus sehen, dass er über das Kreuz schreiben ließ, was sie gerade nicht darüber geschrieben wissen wollten, und dass er, als sie sich beklagten, sie nicht einmal einer Verteidigung würdig hielt, sondern mit Hohn antwortete: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.“ Er hätte also auch um so mehr ihre Anklage verwerfen sollen; dennoch verurteilt er die Unschuld. Ja, gegen seine bessere Überzeugung, gegen sein besseres Gefühl, gegen die Warnung der Edleren, gegen den Widerwillen, den er über die Nichtswürdigkeit der Gegner des Angeklagten fühlte, und der ihn gleich von vorne herein erwarten ließ, dass ihre Sache ungerecht war, sprach er, nachdem vorher noch jeder ernste Gedanke beseitigt und die ganze Angelegenheit durch die Anrede an die Juden: Das ist euer König, lächerlich gemacht war, das ungerechte Urteil und verdammte die Unschuld zum Tod. So viel hat die Versuchung in dem Menschen oft zu überwinden, ehe sie ihn zum Abfall vom Guten bewegt.
II.
In Tausenden, deren Gesinnung und Tat wir verabscheuen müssen, wenn schon sie selbst ein Gegenstand unsers Mitleids bleiben, musste, ehe sie in völlige Entartung gerieten, zuerst die bessere Überzeugung zurückgedrängt werden. Sind ja doch nur wenige so früh in das Böse eingeweiht, dass ihnen, zur Selbstständigkeit gereift, jedes Urteil über Recht und Unrecht abginge. Das Gesetz Gottes ist doch am Ende auch dem Lasterhaftesten in die Brust geschrieben und Augenblicke, wo das Gewissen vernehmlich spricht, hat doch wohl auch der, welcher den Ausspruch desselben gewöhnlich nicht vernimmt. Wir alle erkennen gar wohl in Augenblicken, wo wir Unrechtes beginnen, es sei unrecht, es dürfe, was wir uns anschicken zu tun, streng genommen, durchaus nicht geschehen, die Gedanken verklagen und entschuldigen sich untereinander und durch die mannigfachsten Künste und Vorspieglungen wird die bessere Überzeugung endlich unterdrückt.
Tief ist in des Menschen Brust von Gott ein Gefühl der Teilnahme, des Mitleids gegen den Bruder, gesenkt. Ein menschliches Gerührtsein bat auch die Rohesten und Leidenschaftlichsten ergriffen. Es lässt sich kaum denken, dass irgend ein Mensch, mit Bewusstsein handelnd, ein Wesen seiner Art Verderben könnte, ohne dass dies menschliche Gefühl, in welchem das Menschengeschlecht bei weitem das entscheidendste Hindernis seiner Vernichtung erkennt, in ihm sich regte. Dennoch unterdrücken es so viele, und oft ist schon der Mensch des Menschen grausamster Feind geworden; so manche verruchte Tat, welche um Rache schreit, zeugt von solcher Unterdrückung des menschlichen Gefühls.
Vielleicht ist noch nie eine böse Tat vollbracht worden, ohne dass der Täter von Außen gewarnt worden wäre. Kam auch die Warnung nicht von Menschen; so lag sie in Umständen, welche die Tat zu hindern, oder einen Ausweg zur Umkehr zu bieten schienen. Aber der Mensch, wenn er von der Wahrheit und dem Recht weicht, verliert die Fähigkeit, den Wink einer höheren Hand zu verstehen, ein Verständnis, was nur mit der Frömmigkeit wächst, und so geschieht das Sündliche, trotz aller Warnung von Menschen, trotz aller Winke von Oben. Und wird endlich nicht noch immer häufig von unseren Mitbrüdern das Böse in Gemeinschaft mit solchen vollzogen, deren Nichtswürdigkeit bereits klar am Tage liegt? Wird nicht von Schlechten die Sache derer verteidigt, von denen sich im Voraus mit Bestimmtheit annehmen lässt, dass sie nichts Gutes wollen? Die eigene Überzeugung von dem, was gut und recht ist, das menschliche Gefühl der Erbarmung, das jedem eingepflanzt ist, der Rat der Guten, die eigne Verachtung der Niedriggesinnten und Schlechten - das alles wird so oft in der Stunde der Versuchung überwunden und das Böse vollbracht. Fast jeder hat seine schwache Seite - sie greift der Versucher an. - Pilatus wurde durch die Drohung, ihn als Feind des Kaisers zu erklären, geschreckt; dies konnte ihm, wenn dieser Anklage Gehör gegeben wurde, Amt, Ansehen, selbst das Leben kosten. Diese Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht; er fiel und verurteilte die Unschuld. Ja, jeder Mensch hat eine Seite, die schwach ist, auf der er angegriffen, leicht besiegt wird und fällt. Kommen gar die höchsten Güter des Irdisch gesinnten, als Macht, Ansehen, Reichtum, Leben in Gefahr, ach, dann fallen so viele; verkaufen doch die Meisten um viel niedrigeren Preis ihre Ruhe und das Heil ihrer Seele.
Darum lasst uns wachen und beten! Lasst uns erfüllt werden mit heiliger Liebe zum Guten, dass wir bereit werden, dem Willen Gottes jedes Opfer zu bringen! Lasst uns bedenken, dass, wer sein Leben, sein irdisches Leben und Glück gewinnen will, der wird wahres Leben und Heil verlieren; wer aber sein irdisches Leben und Glück daran setzen will, wo es Gutes zu tun gilt, der wird sein Leben, ewiges Heil und unnennbares Glück erringen. Lasst uns wachen und beten, und mit heiligem Ernst bedenken: Was hilft es dem Menschen, so er die ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an seiner Seele!
O du, der du aus Liebe zur Wahrheit und uns zu gut am Kreuze starbst, hilf uns dir nachtun, und, gleich dir, lieber sterben, als in die Sünde willigen! Amen.