Gerhard, Johann - Tägliche Uebung der Gottseligkeit – Das zehnte Capitel.
Erwägung der Schwere des göttlichen Zorns gegen die Sünden in Christi Leiden und Sterben.
Heiliger Gott, gerechter Richter, ich sehe deinen Sohn an, wie er am Kreuze hängt, und sein Blut reichlich vergießt; ich sehe ihn an, und siehe, vor Schrecken sinkt mir der Muth ganz darnieder. Meine Sünden sind diese eisernen Nägel, mit denen ich seine Hände und Füße durchgraben habe. Meine Sünden sind diese schrecklichen Dornen, mit denen ich sein allerheiligstes Haupt gekrönt habe, das selbst die Engel, die himmlischen Mächte, verehren müssen. Meine Sünden sind diese stachlichten Geißeln, mit denen ich seinen vollkommen reinen Leib, der Gottheit eigenen Tempel, gepeitscht habe. Das böseste Thier hat jenen himmlischen Joseph zerrissen und seinen Rock mit Blut befleckt. Ich elender Sünder bin jenes böse Thier; denn auf diesen deinen liebsten Sohn sind meine Sünden auf Einem Haufen hineingestürzt. Wenn der Sohn bei seinem vollkommenen Gehorsam so viele Angst und Mühe um fremder Sünden willen auf sich nehmen mußte, was wird der ungehorsame und widerspenstige Knecht um eigener Sünden willen zu fürchten haben? Wahrhaft groß und tödtlich müssen die Wunden meiner Seele gewesen seyn, um deren Heilung willen dein eingeborner Sohn so jämmerlich geschlagen wird. Wahrhaft groß und tödtlich muß die Krankheit meiner Seele gewesen seyn, um deren Heilung willen der himmlische Arzt selbst, das Leben selbst, am Holze stirbt. Ich sehe die Pein seiner allerheiligsten Seele; ich höre den jammervollen Klageruf meines allerheiligsten Erlösers am Kreuze; um meinetwillen wird er so geängstet, um meiner Sünden willen klagt er, daß er von Gott verlassen sey. Wenn die Last fremder Sünden den allmächtigen Sohn Gottes so sehr drückt, daß sie ihm blutigen Schweiß auspreßt, wie unerträglich wird der Zorn Gottes und wie unberechenbar sein Grimm gegen einen unnützen Knecht seyn! O da Dürres und unglückseliges Holz, das dem ewigen höllischen Feuer angehört, was wirst du am Ende zu fürchten haben, wenn du siehst, daß dies am grünen Holz geschieht? Christus ist der grüne Baum: grün an der Wurzel, welche die Gottheit ist, und in der Liebe zur Menschheit, grün an den Aesten, welche Tugenden, an den Blättern, welche heilige Worte, und an der Frucht, welche gute Werke sind. Er ist eine Ceder an Keuschheit und ein Weinstock an Freude, eine Palme an Geduld und ein Oelbaum an Barmherzigkeit. Wenn diesen grünen Lebensbaum das Feuer des göttlichen Zornes um fremder Sünden willen anzündete, wie viel mehr wird es den Sünder um seiner unfruchtbaren Werke willen wie einen dürren Baum ganz verzehren! Mit wie großen und blutigen Buchstaben erscheinen meine Sünden am Leibe Christi angeschrieben! Wie sichtbar, o gerechtester Gott, ist dein Zorn gegen meine Missethaten! Wie eng muß meine Gefangenschaft gewesen seyn, da ein so kostbares Lösegeld gegeben ward, dieselbe zu lösen! Wie groß müssen die Flecken meiner Sünden gewesen seyn, da so reichlich das Blut aus dem Leibe Christi herabfließt, um sie abzuwaschen! O gerechtester Gott und zugleich gütigster Vater, siehe an, wie Unwürdiges dein Sohn für mich gelitten hat, und vergiß, wie unwürdig dein gottloser Knecht gehandelt hat! Siehe an seine tiefen Wunden und versenke meine Sünden in die Tiefe des Meeres deiner Barmherzigkeit! Amen.