Frommel, Max - Am vierten Sonntage nach Epiphanien.
In der Apostelgeschichte 15,36 wird uns erzählt, wie Paulus zu Barnabas sprach: „Lass uns wieder umziehen und unsere Brüder besehen durch alle Städte, in welchen wir des Herrn Wort verkündigt haben, wie sie sich halten.“ Es war die älteste Kirchenvisitation, welche da abgehalten wurde, ein apostolisches Vorbild für diese segensreiche Einrichtung der Kirche, welche nur zurücktrat in den Zeiten kirchlichen Schlafs, aber immer wieder erwachte in den Zeiten kirchlichen Lebens. So waren Luthers Kirchenvisitationen von durchschlagender Bedeutung für die Reformation, und in den Lüneburger Landen verdanken wir der Arbeit des großen Visitators Urbanus Rhegius und Johann Arndt die Kirchenordnung unseres Landes bis auf den heutigen Tag.
Als Johannes auf der Insel Patmos gefangen lag und seine geliebten Gemeinden nicht besuchen konnte, da empfängt er jene sieben Sendschreiben in der Offenbarung, da Christus es ist, der selbst die Visitationen abhält als Der, der da wandelt inmitten der sieben goldenen Leuchter. Denn jede Gemeinde Christi ist ein goldener Leuchter in der dunklen Nacht der sündigen Welt, weil in ihr das Licht Gottes flammt und das Feuer Gottes brennt und das Öl des Geistes fließt. Und Christus wandelt persönlich inmitten aller seiner Gemeinden; Er kennt sie, Er lobt und tadelt, Er dringt auf Abtun der Ärgernisse und Hindernisse, Er droht und verheißt. Darum soll sich jede Gemeinde und jede einzelne Seele in das Licht dieser Sendschreiben stellen, so wird er die Visitation seines thronenden Christus erfahren. Vernehmen wir denn auch heute, was der Herr uns zu sagen hat in dem Sendschreiben an die Gemeinde zu Thyatira, wie es geschrieben steht:
Offenb. Joh. 2,18-29.
Und dem Engel der Gemeine zu Thyatira schreibe: Das sagt der Sohn Gottes, der Augen hat wie Feuerflammen und seine Füße gleich wie Güldenerz: Ich weiß deine Werke und deine Liebe und deinen Glauben und deine Geduld und dass du je länger je mehr tust. Aber ich habe ein Kleines wider dich, dass du lässt das Weib Jesabel, die da spricht, sie sei eine Prophetin, lehren und verführen meine Knechte Hurerei treiben und Götzenopfer essen. Und ich habe ihr Zeit gegeben, dass sie sollte Buße tun für ihre Hurerei; und sie tut nicht Buße. Siehe, ich werfe sie in ein Bette, und die mit ihr die Ehe gebrochen haben, in große Trübsal, wo sie nicht Buße tun für ihre Werke. Und ihre Kinder will ich zu Tode schlagen. Und sollen erkennen alle Gemeinen, dass ich bin, der die Nieren und Herzen erforscht und werde geben einem Jeglichen unter euch nach euren Werken. Euch aber sage ich und den Andern, die zu Thyatira sind, die nicht haben solche Lehre und die nicht erkannt haben die Tiefen des Satans (als sie sagen): Ich will nicht auf euch werfen eine andere Last. Doch, was ihr habt, das haltet bis ich komme. Und wer da überwindet und hält meine Werke bis an das Ende, dem will ich Macht geben über die Heiden. Und er soll sie weiden mit einer eisernen Rute, und wie eines Töpfers Gefäße soll er sie zerschmeißen, wie ich von meinem Vater empfangen habe; und will ihm geben den Morgenstern. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinen sagt.
Auch hier trägt das Schreiben den Namen des Briefstellers an der Spitze. Er nennt sich den Sohn Gottes. Wie er sich im Stande der Erniedrigung gern „des Menschen Sohn“ genannt hat, wie ihn der Prophet Daniel einst schaute als den König des Gottesreiches im Gegensatz zu den vier Tieren der vier Weltreiche; als den Träger und Vermittler der wahren Humanität im Gegensatz zu der Bestialität einer ungöttlichen Weltherrschaft; als den wahren anderen Adam und verheißenen Weibessamen, welches ja nur ein anderer Ausdruck ist für „des Menschen Sohn“ so nennt er sich hier im Stande der Erhöhung den Sohn Gottes, den Allwissenden und Allgegenwärtigen, den Allweisen und Allmächtigen, der im Stande ist, Visitation zu halten und einem Jeden Bescheid zu sagen. Darum ist Er Der, der Augen hat wie Feuerflammen, dessen Blick Alles durchdringt und vor welchem Nichts verborgen bleibt; dessen Füße sind wie flüssiges Güldenerz, weil sein Gang in der Weltgeschichte unaufhaltsam ist und sein Schritt alles Widerstrebende zermalmt. Denn Er steht als der allmächtige Sohn Gottes hinter jedem seiner Worte und ist stark genug, seine Drohungen wie seine Verheißungen zu erfüllen.
Lasst uns denn heute hören:
Den Visitationsbescheid Jesu Christi vom Thron
und zwar
- seine liebevolle Anerkennung,
- seinen scharfen Tadel,
- seinen guten Rat und
- seine liebreiche Verheißung.
Herr, der Du Herzen und Nieren erforscht, kehre bei uns ein und sage uns, was Du wider uns hast, dass wir abtun, was vor Dir missfällig ist, und allezeit Deinem treuen Rate folgen. Amen.
I.
Das Wort: „Ich weiß deine Werke“ hat hier nach dem ganzen Zusammenhang den Sinn der liebevollen Anerkennung. Der Herr kennt den Baum in seiner Wurzel und in seinen Früchten. Er weiß dein Geben, auch wo deine Linke nicht weiß, was deine Rechte tut, und der Becher kühlen Wassers, in seinem Namen. einem der Geringsten unter seinen Jüngern gereicht, soll nicht unbelohnt bleiben. Aber er weiß nicht allein die Werke, sein Auge sieht tiefer auf den Grund, aus dem die Werke wachsen: „Ich weiß deine Liebe,“ spricht er. Was vor Menschenaugen verborgen bleibt, der Umgang der Seele mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen, der sie zuvor geliebt, das Aufflammen des tiefsten Gemüts im Gebet, das Zwiegespräch im Ostergarten: „Maria Rabbuni“, das Ein- und Ausgehen im oberen Heiligtum, das Ruhen zu seinen Füßen, das Eilen auf seinen Wink, das Umfassen der Brüder und Schwestern mit dem Herzen, das dem Herrn an ihnen Dienen-Wollen, das sich innerlich herunterhält zu den Niedrigen, das sich herniederbeugt, um ihnen die Füße zu waschen, diese Wurzel, aus welcher erst Blüten und Früchte sprießen, diese ganze Triebfeder des Handelns, die vor den Menschen verborgen, ja wohl verkannt und oft angezweifelt und missdeutet wird, sie ist dem allsehenden Auge des Sohnes Gottes offenbar; denn er spricht: „Ich weiß deine Liebe und deinen Dienst.“ Denn was du dieser Geringsten einem getan hast in meinem Namen, das hast du mir getan.
Der Herr geht aber noch tiefer, wenn er hinzusetzt: „Ich weiß deinen Glauben.“ Denn Werke wurzeln in der Liebe, aber die Liebe wurzelt im Glauben, nach dem Spruch: Lasst uns Ihn lieben, denn Er hat uns zuerst geliebt. Wahrlich, hier hören wir die Wahrheit jenes Wortes bei dem Propheten: „Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben.“ Das ist seines Herzens Lust und seiner Augen Freude, wenn er ein Herz findet, das an ihn wahrhaft glaubt, das an sich selbst verzagt und auf ihn traut und trotzt, das aus einem furchtsamen Jakob ein sieghafter Israel d. i. ein Gotteskämpfer wird, der im Ringen ihn überwindet, indem er ruft: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ ein Herz, das aus einem verleugnenden Simon ein bekennender Petrus, aus einem schnaubenden Saulus durch den Glauben ein demütiger Paulus, aus einem zweifelnden Thomas ein seliger Jünger wird, welcher auch dann glaubt, wenn er nicht sieht. Wie tröstlich ist solche liebevolle Anerkennung aus dem Munde Jesu! Es gibt Stunden, wo andere Menschen nichts von unserer Liebe sehen, unsern Dienst nicht verstehen und unsern Glauben nicht ahnen; es gibt Stunden, wo auch uns selbst unsere Liebe so arm, unser Dienst solch Stückwerk, unser Glaube so schwach erscheint, dass sie vor seinem Flammenauge wie nichts sind; wo wir bei Christi Visitation ein vernichtendes Urteil erwarten und keinen Ausweg wissen als die Zuflucht zu Ihm. Da gibt es denn nichts Holdseligeres, als wenn Er uns durch seinen Geist in seinem Worte versichert: „Ich weiß deine Liebe und deinen Glauben;“ ich weiß, dass du doch ohne mich nicht leben und nicht sterben kannst; ich weiß doch, dass du im Grunde deines Herzens sagst: „Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. Ich bin dein, du bist mein, Niemand soll uns scheiden.“
Der Herr hat noch ein Lob für Thyatira, wenn er seine liebevolle Anerkennung mit den Worten schließt: „Ich weiß, dass du je länger je mehr tust.“ Die Gemeinde und ihr Bischof wurden nicht weich im Kampf, nicht müde und matt im Lauf, sondern ihre Kraft drang vorwärts in die Breite. Was Paulus seinem Timotheus wünscht: „dass dein Zunehmen in allen Dingen offenbar sei,“ das war an Thyatira zu sehen. Je schmerzlicher es ist, wenn es von einer Gemeinde oder von einem Christen heißen. muss: Ich habe wider dich, dass du je länger je weniger tust; wenn die Lust zum Kirchgang je länger je geringer, wenn das Forschen im Wort und das Anhalten am Gebet abnimmt und des freudigen Opferns für die Aufgaben der Kirche und für die Mission unter den Heiden je länger je weniger wird um so edler ist das Lob, das der Herr jener Gemeinde spendet. Denn wer an dem Herrn bleibt, der ist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, und seine Blätter verwelken nicht, und bringt seine Früchte zu seiner Zeit. Weil es Gottes, des Ewigen, Geist ist, der im Christen wohnt, so ist eine Kraft der Ewigkeit in ihn hineingekommen, ein perpetuum mobile, d. h. eine unablässige Triebkraft, die nicht aus dieser Welt ist, sondern mit unversieglichem Wasser die Räder seines Lebens treibt. Denn siehe „Er gibt den Müden Kraft und Stärke genug den Unvermögenden. Die Jünglinge fallen, und die Knaben werden matt; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“
II.
Auf die liebevolle Anerkennung des Herrn folgt aber trotzdem ein scharfer Tadel: „Aber ich habe ein Kleines wider dich, dass du lässt das Weib Jesabel, die da spricht, sie sei eine Prophetin, lehren und verführen meine Knechte Hurerei treiben und Götzenopfer essen.“ Dies strafende Wort berührt sich nahe mit der Warnung an Pergamus vor falscher Duldung. Es beweist uns, wie ernst der Herr in seiner Gemeinde auf den Kampf gegen falsche Lehre dringt, wie groß er die Gefahr schätzt, welche seiner Kirche von daher droht, um so größer, je feiner der Schafpelz ist, unter welchem sie sich verbirgt. Auch ein Bileam weissagt, auch ein Saul gerät unter die Propheten, auch ein Judas Ischarioth unter die Apostel, und Paulus warnt dort am Strande von Milet: „Auch aus euch selbst werden Männer aufstehen, die da verkehrte Lehren reden, die Jünger an sich zu ziehen.“
In unserm Sendschreiben warnt der Herr innerhalb der Gemeinde, welche für die tiefere vor einer Partei gelten wollte und Er bezeichnet sie dabei zugleich zum heidnischen Wesen hinneigte. aber mit einem Namen aus der alttestamentlichen Geschichte und nennt die Partei das Weib Jesabel. Was die Gemeinde und ihr Bischof unterließ, das tut der Herr in seinem Visitationsbescheid selbst: er führt den Kampf gegen die Irrlehre. Es ist überaus treffend, dass er sie unter diesem geschichtlichen Spiegelbild zeichnet. Jene Partei gab sich für eine neue Richtung in der Kirche aus, für eine Fortbildung und modernere Fassung des alten Christentums; aber gerade weil sie mit dem Schein des Neuen prahlte, sagt ihr der Herr: „Es ist nichts Neues unter der Sonne;“ euer Treiben ist längst vorgebildet in dem gottlosen Treiben jener Königin Jesabel, des Weibes Ahabs, welche den Götzendienst Baals in Israel begünstigte, auf den Höhen und in den Hainen opferte und die Propheten Jehovas verfolgte. Ihr, der heidnischen Königstochter aus Sidon, erschien der Dienst des unsichtbaren Gottes mit seinem tief sittlichen Gehalt, wie ihn das Gesetz Israels vorschrieb, viel zu düster und streng; ihr gefiel die heitere Naturreligion mit ihrer Poesie und ihrem Lebensgenuss: Baal das Symbol der Sonne, die Sonne selbst nur die Vertreterin der Alles belebenden und verschönenden Naturkraft, und die zügellose Leidenschaft als unschuldige Befriedigung des Naturtriebs. Wie der Herr in dem Sendschreiben. an Pergamus jene Vermischung des Christentums mit dem Heidentum unter dem Bilde Bileams gegeißelt hatte, so zeichnet er hier in Thyatira die neue Partei mit dem alten Bilde der gottlosen Jesabel, welche das Volk Gottes verführte zu heidnischem Gräuel. Halten wir hier etwas inne. Welch ein Gebrauch der Schrift und der biblischen Geschichte tut sich da vor uns auf! Wahrlich nichts Neues unter der Sonne, sondern überall Vorbilder des Glaubens und des Unglaubens, Bilder der Treue und des Wankelmuts, Gestalten des Lichts und Gestalten der Nacht! Das 11. Hebräerkapitel malt uns die herrlichen Vorgänger des Glaubens durch das ganze Alte Testament vor Augen; aber daneben stehen durch die ganze Schrift lautredende Zeugen des Gerichts. In dem Sündenfall Adams und Evas haben wir das Original, von welchem alle Sünden nur getreue Kopien sind. In Kain und Abel schaut das Auge Johannis vorgebildet das ganze Geschlecht der Kinder Gottes mit ihrer Bruderliebe und der Kinder der Welt mit ihrem Christenhass. „Gedenkt an Lots Weib,“ spricht der Herr. Die Rotte Korah gegen Moses, das Vorbild aller Kirchenstürmer; der Abfall Absaloms, das Vorbild aller Revolution. Jonas, der trotzige Anbeter seines Programms, unter der Kürbishütte; Gamaliel, der weltkluge Anbeter des Erfolgs; Simon Magus, der Vorläufer derer, welche sich das Amt erkaufen oder erschleichen, der Vater der nach ihm genannten Sünde der Simonie, und König Agrippa, das Vorbild aller Beinahchristen. Vor Allem aber in der Geschichte aller Geschichten, in der Passionsgeschichte, treten Gestalten und Lagen hervor, die sich im Laufe der Jahrhunderte immer wiederholt haben: Judas mit seinem Verrat um 30 Silberlinge und Maria mit ihrer Salbung, die unvergessen bleiben soll, so lange das Evangelium gepredigt wird; Kaiphas mit seinem geistlichen Gericht und der neutrale Pilatus mit seinem weltlichen Gericht; Simon Petrus mit seiner Verleugnung und Simon von Kyrene mit seinem Kreuztragen; der Schächer am Kreuz und der gottselige Hauptmann unter dem Kreuz; die weinende Magdalena, die ihren Herrn verloren hat, und der ungläubige Thomas, der seinen Herrn wiedergefunden hat. Wahrlich, es bedarf nur der offenen Augen, um in den einzelnen Fällen das biblische Vorbild zu erkennen. Und wie in der Schrift, so in der Kirche und ihrer Geschichte fehlt es an vorbildlichen Gestalten nicht. Ist es nicht geradezu eine Frucht der Kämpfe und ein Segen unserer Bekenntnisse, dass jede neu auftauchende Irrlehre längst ihre Vorgänger hat, nach welchen sie beurteilt werden kann. Jedes Menschenfündlein tritt mit dem blendenden Anspruch auf, nach Athenerart etwas ganz Neues zu bringen; aber mit der Gabe der Geisterprüfung soll die Kirche jeder Irrlehre getrost entgegenhalten: Es ist nichts Neues unter der Sonne, nur in anderer Gestalt ist der Irrtum der Menschen längst gerichtet und überwunden durch die Wahrheit Gottes.
Mit dem Bilde der Jesabel hat der Herr seinen ernsten Tadel gegen Thyatira erhoben, dass diese Gemeinde in ihrer Mitte die Verführung zu heidnischem Wesen duldete. Denn unter dem Vorwand, dadurch die Heiden zu gewinnen, hatte jene Partei ein weltförmiges Christentum begonnen, hatte die Teilnahme an den rauschenden Götzenfesten empfohlen und der Unsittlichkeit Tür und Tor geöffnet.
Vielleicht gelingt es, hier einmal auf dem sittlichen Gebiet zu zeigen, wie verheerend die Wirkung der falschen Lehre ist. Meine Lieben, wenn Jemand Gottes Gebot übertreten hat, so hat er nur zwei Wege vor sich: entweder er lässt Gottes Gebot und seine Heiligkeit stehen, beugt sich und tut Buße, oder er beugt sich nicht, will nicht Buße tun; so geht er hin und sucht Feigenblätter, um seine Sünde zu verkleinern, zu rechtfertigen, zu leugnen. Er kann aber dabei nicht stehen bleiben, sondern er muss Gottes Gebot in seinem Herzen biegen und brechen, muss seine verpflichtende Kraft leugnen und kommt notwendig dahin, vor seinem eigenen Gewissen eine neue Moral aufzurichten. So lange das Verbot klar vor Evas Augen stand, konnte sie nach der Frucht nicht greifen; darum rief ihr der Versucher zu allererst zu: „Sollte Gott gesagt haben?“ sollte es so große Sünde sein? Denn die Sünde kommt nie auf ein Mal, es gehen der Tat immer eine Reihe Gedankensünden vorauf. So lange nun das Gesetz Gottes, das erste Hauptstück in unserm Katechismus, öffentlich im Schwange geht, so findet das Gewissen des Einzelnen wie das Gewissen des Volkes sich immer wieder daran zurecht. Wo aber die Laxheit in sittlichen Dingen, die sogenannte unabhängige Moral, oder eine aparte Moral für die Gebildeten, für die Genies und Kraftmenschen geduldet wird, da bildet sich beim Einzelnen wie in ganzen Kreisen eine wahrhaft ansteckende Luft. Nun fliehen zwar heutzutage die Menschen gewaltig vor ansteckenden Krankheiten: wenn eine Augenentzündung entsteht, werden die Schulen geschlossen, wenn Diphterie herrscht, so verreist, wer kann, mit seinen Kindern und nimmt Luftveränderung vor; wenn die Blattern auftreten, so sperrt man sorgfältig ab und befestigt eine Tafel am Hause mit der Inschrift: „Hier herrschen die Pocken“, ja sogar bei der Rinderpest und Viehseuche ergreift man Schutzmaßregeln. Aber bei der moralischen Ansteckung durch schlechten Umgang oder schlechte Lektüre, bei der Vergiftung mit leichtfertigen Grundsägen, bei der Augenentzündung in Betreff der sittlichen Begriffe nur ja kein Schutz, nur ja keine Absperrung, sondern völlig freie Duldung. Meine Lieben, ist das recht? „Ist die Seele nicht mehr denn der Leib?“ spricht der Herr. Wahrlich, wer seine und der Seinigen Seele lieb hat, der hüte sich vor falscher Lehre, sei es in sittlicher oder religiöser Beziehung, der dulde nicht gleichgültig falsche Grundsätze, sondern erhebe sich dagegen mit seinem Zeugnis. Nur dadurch kann ein Christ vor Ansteckung bewahrt bleiben, sonst wird er erfahren, dass in unreiner Luft eine rasche Abschwächung der sittlichen Begriffe vor sich geht. Alles gesunde Leben vollzieht sich im Aneignen und Ausscheiden, das gilt vom leiblichen wie vom geistlichen Leben, vom Einatmen der gefunden Luft und vom Ausatmen der verzehrten Luft. Weil es aber dem Herrn so sehr am Herzen liegt, seine Gemeinde im gefunden Leben zu wissen, darum ergeht sein scharfer Tadel gegen die falsche Duldung.
III.
Darum gibt er der Gemeinde den guten Rat: Willst du dem Gericht entfliehen, so halte, was du hast. Er unterscheidet zwischen den Treuen und den Untreuen in der Gemeinde. Jenen Verführern droht er das Gericht mit Worten, welche dem Gericht über das Haus Ahabs und Jesabels entnommen sind, da die siebzig Söhne Ahabs auf einen Tag getötet wurden. Er, der Gnädige und Barmherzige, ist zugleich der Heilige, der Augen hat wie Feuerflammen, der seine Ehre keinem Andern lässt, noch seinen Ruhm. den Götzen, der hin und her mit seinen Strafgerichten seinen Namen verherrlicht, damit die Gemeinde inne werde, dass Er es ist, der Herzen und Nieren prüft.
Aber die Treuen in der Gemeinde tröstet er, dass er sie im Gericht verschonen und auf sie keine Last werfen will, weil sie der Verführung widerstanden und die falsche Lehre gemieden haben, obwohl dieselbe mit dem Anspruch auftrat, eine tiefere Auffassung des Christentums und doch zugleich eine freisinnigere Theologie zur sein. Christi Auge sieht wohl Tiefen, aber er nennt sie mit dem rechten Namen: Tiefen des Satans. Damit reißt er hinweg den Schein geistlicher Vornehmtuerei und enthüllt den antichristlichen Charakter jener Irrlehre. Denn wie es Tiefen der Gottheit gibt, welche die rechte Lehre offenbaren nach dem Spruch: „Uns aber hat es Gott offenbart durch seinen Geist; denn der Geist erforschet alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit“ so gibt es auch Satanstiefen, welche in der falschen Lehre verborgen und wirksam sind. Hat doch ein Jahrhundert lang in den Lehren der sogenannten Gnostiker die Schule Jesabels und Thyatiras mit ihrer vermeintlichen Tiefe und ihrer Vermischung mit dem Heidentum den Kampf gegen das Christentum geführt, und im Laufe der Zeit hat es in der Geschichte der christlichen Kirche nicht an falschen Propheten gefehlt, welche vorgaben, das Christentum mit heidnischer Spekulation zu vertiefen. Ihnen gegenüber gibt der Herr der Gemeinde den guten Rat: „Haltet, was ihr habt, bis dass ich komme.“ Bleibt bei eurem alten Bibelglauben, alten Katechismus glauben, bei dem Wort, das ihr von Anfang gehört, bei dem schlichten Gesetz und Evangelium; damit werdet ihr ausreichen, bis dass ich komme.
IV.
Zum guten Rat fügt er aber schließlich die liebliche Verheißung für die Überwinder: „Ich will ihnen Macht geben über die Heiden.“ Im Gegensatz zu jener Partei, welche die Heiden durch ihre verkehrten Vermittlungskünste zu gewinnen meinte, will Christus die, welche bis ans Ende beharren, zu Völkergebietern machen. Das Verschweigen oder Verleugnen der vollen Wahrheit, das Herunterhandeln und Zugeständnisse-Machen an die Weisheit dieser Welt hat keine Verheißung; will man uns nötigen zu solchem Abgeben von unserm Öl, so müssen wir mit den klugen Jungfrauen antworten: „Nicht also, auf dass nicht uns und euch gebreche, geht aber hin zu den Krämern und kauft für euch selbst.“ Wer selbst nicht entschieden ist, kann auch Andere nicht entschieden machen. Wer aber festhält am Wort, den wird das Wort fest machen und wird ihm Kraft geben, auch Andere fest zu machen zum Seligwerden. Wenn nun diese Verheißung vom Völkergebieter einhergeht in der Sprache des zweiten Psalms, wo in der messianischen Weissagung der Vater zum Sohne Christo spricht: Heische von mir, so will ich dir die Heiden zum Erbe geben und der Welt Ende zum Eigentum; du sollst sie mit einem eisernen Zepter weiden, wie Töpfe sollst du sie zerschmeißen“ so ist das in alttestamentlicher Weise die neutestamentliche Verheißung: „Sterben wir mit Christo, so werden wir auch mit ihm leben; dulden wir mit, so werden wir mit herrschen;“ wir sollen Teil haben an Christi endlicher Herrlichkeit. Darum fügt er hinzu: „Gleichwie ich von meinem Vater empfangen habe,“ wie er im hohepriesterlichen Gebet spricht von seinen Jüngern: „Ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast.“
Am Schluss steht das Wort: „Ich will ihm geben den Morgenstern.“ Jenes Gestirn, das den kommenden Sonnenaufgang verkündet, ist ein Gleichnis für die lebendige Gewissheit des endlichen Sieges. Christus will den Überwindern den leuchtenden Anbruch des ewigen Lebens ins Herz geben, jenen Vorschmack der zukünftigen Welt schon hienieden im Haufe der Wallfahrt, dass sie mit Simeon sagen können: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen;“ dass sie aus seliger Erfahrung der Höhepunkte des inneren Lebens mit dem Sänger preisen dürfen:
Wie schön leucht't uns der Morgenstern
Voll Gnad und Wahrheit von dem Herrn,
Die süße Wurzel Jesse!
Du Sohn Davids aus Juda Stamm,
Mein König und mein Bräutigam,
Hast mir mein Herz besessen.
Lieblich, freundlich, schön und herrlich,
Groß und ehrlich, reich von Gaben,
Hoch und sehr prächtig erhaben.
Wie bin ich doch so herzlich froh,
Dass mein Schatz ist das A und O,
Der Anfang und das Ende.
Er wird mich auch zu seinem Preis
Aufnehmen in das Paradeis,
Des klopf' ich in die Hände.
Amen, Amen, komm du schöne
Freudenkrone, bleib nicht lange,
Deiner wart' ich mit Verlangen.
Amen.