Frommel, Emil - Ein Vaterunser auf hoher See - Die dritte Bitte.
Ev. Lukas 11, 1. u. 2.
„Wenn ihr betet, so sprecht: Unser Vater in dem Himmel! Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel.“§
Die meisten Menschen denken bei dieser Bitte: „Dein Wille geschehe“ nur an die Stunden des Leids und des Abschieds im Leben. Wenn ein Schiff seine Anker lichtet, die schwellenden Segel das Liebste davon tragen, und die Zurückgebliebenen mit langem Blick nachsehen, dann sprechen sie wohl wie auch an einem offenen Grabe:
„Es ist bestimmt in Gottes Rat,
Dass man vom Liebsten, das man hat
Muss scheiden.“
Und wenn's fromme, gottergebene Menschen sind, dann fassen sie ihre Seele in dem Wort: „Herr, dein Wille geschehe.“ Gewiss auch diesen Sinn hat diese Bitte; aber sie bittet doch noch mehr. Sie will nicht bloß ein Stecken und Stab in Trübsal, sondern auch eine Leuchte auf dem Lebenswege sein. Sie will nicht bloß, dass wir etwas leiden, sondern dass wir auch etwas tun sollen. Darum hat man sie die schwere Bitte genannt. Was wir aber bei dieser Bitte tun sollen, wollen wir zusammenfassen in drei Mahnungen:
- Erkenne Gottes guten, gnädigen Willen.
- Tue seinen heiligen Willen
- Beuge dich unter Seinen mächtigen Willen.
I.
Was ist Gottes guter, gnädiger Wille? Wir können es mit einem kurzen Schriftwort sagen: Gott will, dass allen Menschen geholfen werde, und Alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Damit ist uns ein froher Lichtblick in Gottes Herz gegeben. Da findest du nichts von einem launischen, grausamen Schicksal, wie die Heiden es sich vorstellten, nichts von einer dunklen Macht, die die Menschen hasst und verdirbt, sondern du erkennest den Liebeswillen eines heiligen, gnädigen Gottes, der seine Kinder retten und selig machen will. Das war ja der ursprüngliche Gedanke Gottes, als Er die Welt schuf, dass darin eine Menschheit leben sollte, die Ihn liebte, in die Er Sein Leben und Seine Gottesfülle geben könnte. Als der Mensch aber seinem eigenen Willen folgte und Abschied nahm von seinem Gott, hat Gott doch Seinen guten, heiligen Willen nicht fallen gelassen. Durch die Jahrtausende hindurch geht dieser Sein heiliger Wille, der das zerrissene Band immer wieder anknüpft. Als die Zeit erfüllt war, sandte Er Seinen Sohn, dass Er des Vaters Wille tue und vollende sein Werk und die Menschheit wieder zurückbrächte an das Herz des Vaters. In Christo hat Gott der schiffbrüchigen Menschheit das Rettungsboot vom Himmel herabgelassen und entgegengesandt; das Rettungsseil zugeworfen. Nun will Er, dass du dieses Seil nicht bloß siehst, sondern dass du es fasst und dich ans rettende Ufer ziehen lässt. Siehe, das ist Gottes guter gnädiger Wille. Gott macht es dem Menschen so leicht, selig zu werden, und so entsetzlich schwer, verloren zu gehen. Auf dem Weg zum Himmel gibt's keinen Schlagbaum, wohl aber auf dem Weg zur Hölle, wo sein Gott ihm entgegentritt und ihn retten will. Der Herr weist hinauf mit dieser Bitte von der Erde weg und spricht: „Es geschehe auf Erden wie im Himmel.“ Im Himmel geschieht dieser gute, gnädige Wille Da ihn die Engel Gottes, und das ist ihre Seligkeit, ganz einzugehen in die Gedanken Seiner Liebe. Darum ist Freude bei ihnen über einen Sünder, der Buße tut und sich wieder zurecht findet; darum sendet sie der Vater am Weihnacht, an Ostern und Himmelfahrt, dass sie die Herolde Gottes seien Seiner Gnade. So bittest du denn in dieser Bitte: „Herr, lass mich deinen guten, gnädigen Willen erkennen, der mich selig und zu deinem Kinde machen will, und lass mich in dem bunten Gewirr der Fäden meines Lebens den goldenen Faden herausfinden, dessen Name ist: 'Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu Mir gezogen aus lauter Güte.'„
II.
Aber freilich, bis Gottes Wille an uns geschieht, kostet's keinen geringen Kampf. Sein guter, gnädiger Wille trifft einen anderen bösen Willen an, den Er erst überwinden muss. Darum hat das Wort Luthers wohl recht, das Antwort auf die Frage gibt: Wie geschieht solcher Wille? „Wenn Gott allen bösen Rat und Willen bricht, die uns Gottes Namen nicht heiligen und Sein Reich nicht kommen lassen wollen.“ Der Mensch hat ja seinen freien Willen und kann sich auch gegen Gottes Willen aufbäumen, denn Gott kann und will den Menschen nicht zwingen. Wie ein Hirte seine Schafe mit der Stimme ruft, dass sie ihm folgen, und sie nicht am Strick zieht, so tut Gott auch. Alles kann man in der Welt sprengen und zwingen: die Felsen und den härtesten Diamant, nur nicht ein Menschenherz. Darum hat der Heiland zu dem Geschlecht Seiner Tage gesagt: „Wie oft habe Ich euch sammeln wollen, aber ihr habt nicht gewollt!“ Der verlorene Sohn hat auch getan, was er gewollt hat, und sein freier Wille hat ihn schließlich ins Elend und in die Knechtschaft gebracht. Frei ist nicht der Mensch, der tut, was er will, sondern was er soll. Da beten wir also allen bösen Willen in uns hinunter ins Grab. Du bist vielleicht nahe daran gewesen, Gottes guten Willen zu tun und dich retten zu lassen; es fehlte nicht viel, und doch was nützt es, wenn dir nicht viel fehlt? Vor etlichen Jahren strandete ein Schiff dicht an der englischen Küste, angesichts des Ufers. Der Hafen war fast erreicht, die Reise war zu Ende, Keiner dachte an Gefahr, und siehe, da versank das Fahrzeug plötzlich und verschwand von der Oberfläche des Meeres. Es fehlte nicht viel, so wäre es in den Hafen gelaufen. Es fehlte nicht viel, und doch es fehlte Alles, es hatte sein Ziel nicht erreicht.
Lass sodann den Willen Gottes nicht bloß an dir geschehen, lass ihn auch von dir geschehen. Du kennst den heiligen Willen Gottes, Er hat ihn in die steinernen Tafeln der Gebote, Er hat ihn dir ins Gewissen geschrieben. Nicht die „Herr, Herr“ sagen, sondern die den Willen tun ihres Vaters im Himmel, werden ins Reich Gottes kommen. Man sagt wohl im Sprichwort: „Des Menschen Wille ist sein Himmelreich“, aber wenn es nicht zugleich der heilige Wille Gottes ist, dann wird er seine Hölle. Glücklich bist du nie, wenn du gegen Gottes Willen und Gebot handelst, da verfolgt dich immer dein böses Gewissen. Gottes Gebote sind nicht schwer für den, der Ihn liebt. Was man aus Liebe tut, wird Einem überhaupt leicht. Ein Kind, das seine Eltern liebt, sieht's ihren Augen ab, was sie gern haben; es braucht kein äußeres Gebot, denn das Gebot steht in seinem Herzen geschrieben. So tun die Engel im Himmel den Willen Gottes: Ganz, willig, immer. Tust du ihn also, dann wird es dir nicht schwer werden, den letzten Sinn der Bitte zu erfüllen:
III.
Beuge dich unter Gottes Willen.
Gott führt uns manchen Weg im Leben, den wir anders gewünscht hätten; Wege, die wir im ersten Augenblick nicht verstehen. Aber ein rechtes Kind fasst die Hand seines Vaters, sagt nicht: „Wo führst du mich hin? Sag mir's, sonst gehe ich nicht mit“, sondern ist getrost und weiß: „Du wirst mich nirgends hinführen, wo ich Schaden nehme.“ So steht ein Abraham auf, geht auf den Ruf seines Gottes aus Vaterland und Freundschaft in ein unbekanntes Land, das Gott ihm erst später zeigen will. Da ist kein Murren und kein Fragen. „Gottes Will' macht das Herze groß und still.“ Wer sich in Gottes Willen ergibt, der steht auf einer Alpenhöhe, sieht unter sich die Nebel und die Abgründe, aber über sich den klaren, lichten Himmel. Werde an Gottes Herzen nicht irre, wenn du auch einmal seine Hand nicht verstehst, und erwarte, was Sein guter Wille zu deinem Wohlergehen verfügt. Darum heißt es in dem Liede des Markgrafen Albrecht von Brandenburg:
„Was mein Gott will, gescheh' allzeit,
Sein Will' ist stets der beste;
Zu helfen den'n Er ist bereit,
Die auf Ihn trauen feste.
Wer auf ihn traut,
Fest auf Ihn baut,
Den wird Er nicht verlassen!“
Da wird auch alles Scheiden im Leben friedevoll. Als Paulus am Meeresstrand in Kleinasien Abschied von den Seinen nahm auf Nimmerwiedersehen, da knieten sie alle am Ufer nieder, beteten und sprachen: Des Herrn Wille geschehe! und er stieg getröstet ins Boot. So wollen auch wir tun: bei jedem Abschied, bei jeder Fahrt unseres Lebens und auch bei der letzten Fahrt sprechen: Des Herrn Wille geschehe! Amen.
Gebet.
Lieber himmlischer Vater! Wir bitten dich, offenbare uns deinen guten, gnädigen Willen und lass uns selig zu dir kommen! Tilge in uns, was gegen deinen Willen streitet, und lass es unsere Herzensfreude sein, deinen Willen zu tun. Lass uns im Kampf und in der Not mit deinem lieben Sohn beten: Vater, nicht mein, sondern dein Wille geschehe! Amen.