Frommel, Emil - Ein Vaterunser auf hoher See - Die erste Bitte.
Ev. Lukas 11, 1 u. 2.
„Und es begab sich, dass Jesus war an einem Ort und betete. Und da Er aufgehört hatte, sprach seiner Jünger Einer zu Ihm: Herr, lehre uns beten, wie Johannes seine Jünger lehrte. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt.“
Das heilige Vaterunser ist wie ein trauter Freund, der uns von Anfang bis ans Ende unseres Lebens begleitet. Bei der heiligen Taufe werden unter diesem Gebet die Hände auf des Kindes Haupt gelegt; die Mutter faltet ihm später die Hände und lehrt es beten: „Unser Vater.“ Jeden Sonntag wird es in der Kirche gebetet, und jeden Werktag soll es unser Morgen- und Abendgebet sein. Bei der Trauung wird es über den Eheleuten gebetet, und wenn man uns zur letzten Ruhe geleitet, betet man ein stilles Vaterunser über dem Grabhügel.
Auch wir wollen es aufs Neue lernen in diesen Gottesdiensten, auf hoher See zur Andacht versammelt, und unseren Herrn bitten: „Christ Kyrie, komm' zu uns auf die See und lehre uns beten, wie du deine Jünger gelehrt.“ Für heute betrachten wir den seligen Anfang: „Vater unser in dem Himmel“, und die erste heilige Bitte: „Geheiligt werde dein Name.“
Wir wissen oft nicht, wie wir einen hochgestellten Mann anreden sollen in Schrift und Rede. Wir sind zweifelhaft, ob wir das richtige Wort treffen. Wie viel mehr muss es einem Christenmenschen eine Sorge sein, wie er den großen Herrn Himmels und der Erde würdig anreden soll. Siehe, da nimmt uns der Herr gleich die Sorge vom Herzen und sagt uns: „Rede Ihn an frischweg, wie du deinen lieben Vater anredest, und sprich: Vater unser in dem Himmel.“ Wir sollen also glauben, Er sei unser rechter Vater und wir seine rechten Kinder; und sollen mit aller Zuversicht und getrost Ihn bitten, wie die lieben Kinder ihren lieben Vater bitten. Da denke denn Jeder an seinen Vater und Mutter zu Hause und an all die Liebe und Güte, die er dort empfangen hat. Wie war's doch so köstlich, dass wir zu jeder Zeit, bei Tag und Nacht, kommen durften, ohne dass uns Jemand anmeldete! Solch Recht sollst du auch haben. Wir sind ja durch Jesum Christum erlöst und durch die Taufe Gottes Kinder geworden, darum dürfen wir vor Ihn treten, bitten und nicht wie das Geschöpf den Schöpfer, oder der Knecht seinen Herrn, sondern wie ein Kind seinen Vater. Sagt es uns doch die Schrift: „Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeigt, dass wir Seine Kinder heißen sollen.“ So hat uns im Vaterunser der Heiland die Bittschrift selbst an seinen Vater aufgesetzt und in die Hand gegeben.
Aber wir beten nicht: „Mein Vater“, sondern „Unser Vater“. Wir sind also nicht allein, wenn wir beten, sondern Millionen heben mit uns die Hände empor. Das soll uns ein Trost sein. So manchmal kommt man sich in der Welt einsam und verlassen vor und denkt, um dich kümmert sich kein Mensch. Aber nun sollst du wissen: in aller Welt, vom Nordpol bis zum Südpol gedenken Menschen an mich, wenn sie vor den himmlischen Vater treten. Sie beten ja „Unser Vater“ und nehmen dich hinein in ihr Gebet. - Aber dies Wörtlein „Unser“ lehrt dich auch für andere bitten, für die Deinen zu Hause und für der ganzen Welt Not und Elend. Das öffnet dir das Herz zur Liebe und Versöhnung. Denn mit dem Hass im Herzen kann man kein Vaterunser beten. Oder glaubst du, dass Einer von einem König oder vornehmen, reichen Herrn, den er bitten will, etwas empfangen werde, wenn er dessen Kinder im Vorzimmer schimpft und schlägt?
Dann darfst du auch fortfahren: „Unser Vater in dem Himmel“, denn da hinauf zieht dich das Vaterunser. Die Väter auf Erden müssen oft sagen: Ja lieber Sohn, ich möchte deine Bitte dir wohl geben, aber ich kann nicht; oder aber ihre Macht hat ein Ende: denn kein Vater kann sein Kind. freisprechen von der Anklage des Gewissens, noch es in aller Versuchung bewahren und erlösen von allem Übel und in den Himmel aufnehmen. Das kann der himmlische Vater allein, und darum betest du: Unser Vater im Himmel, denn bei Ihm ist kein Ding unmöglich. Danach sagt dir auch das Wort „in dem Himmel“, wo du eigentlich hingehörst. Wir sind noch auf Erden, und unser Vater ist im Himmel. Ein Kind gehört aber zu seinem Vater. Darum soll dich's mit jedem Vaterunser hinaufziehen zur himmlischen Heimat. Du bist hier nur unterwegs und sollst es darum nicht zu schwer und nicht zu leicht nehmen. Nicht zu schwer: denn das Wandern hat einmal ein Ende, und nicht zu leicht, denn unser Leben ist eine Vorbereitung auf die Ewigkeit. Siehe, so beten Glaube, Liebe und Hoffnung den Anfang des Vaterunsers: Als die Kinder Gottes sprechen wir im Glauben: „Vater“; als die Brüder in der Liebe: „unser Vater“; als Pilgrime und Fremdlinge auf Erden, in seliger Hoffnung: „der du bist im Himmel.“ Wer so aber recht den Anfang betet, der kann auch fortfahren und die erste heilige Bitte: „Geheiligt werde dein Name“ beten. „Geheiligt werde dein Name“! Da nimmt uns der Heiland auf den Flügeln des Gebets gleich himmelhoch hinauf, und wir stehen in seinem Heiligtum, wo alle Seraphim und Cherubim das „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind Seiner Ehre voll“ singen. Freilich, wenn der arme Mensch mit seiner Not und Elend das Vaterunser zu machen gehabt hätte, so wäre er mit seinem Anliegen auf der Erde geblieben und hätte angefangen von täglichem Brot und von Allem, was ihn beschwert und drückt. Aber im Vaterunser soll sich die Seele zuerst aufschwingen und an andere große, heilige Dinge denken und wissen: „Trachtest du am ersten nach dem Reiche Gottes, dann wird dir auch alles Andere zufallen.“ Erst kommt mein Gott und Seines Namens Ehre, und dann komme erst ich mit meiner Not.
„Geheiligt werde dein Name.“ Damit danken wir zu allererst, dass Er uns Seinen Namen genannt und geoffenbart hat. Denn wenn Er ihn nicht genannt, dann könnten wir Ihn auch nicht anrufen. Weißt du, was die griechischen Heiden, die doch sehr weise und gescheite Leute waren, auf ihren Altar geschrieben haben? „Dem unbekannten Gott, wir kennen Ihn nicht, wir wissen nichts von Ihm!“ Du aber hast und kennst Seinen Namen: „Vater.“ Mit großer Frakturschrift hat Er ihn in allerlei Bücher geschrieben. Da ist's, jenes große Buch, das kein Mensch mit seiner Hand umspannen kann, wo jeder Stern ein Buchstabe, jeder Berg ein Punkt, jedes Meer ein Satz und jedes Land ein Kapitel ist - das ist das große Buch der Schöpfung. „Ja, die Himmel erzählen die Ehre Gottes!“ Auf jeder Seite steht: Wie heilig ist dein Name! Es freut sich ein Kind, wenn Jemand seines Vaters Namen kennt und mit Achtung nennt. So freuen wir uns, dass wir den Namen unseres Vaters überall in der Natur geschrieben finden.
Dann findest du Seinen Namen in deinem Gewissen. Das ist das Buch, das du immer mit dir herumträgst, wenn du's nicht freventlich zerrissen und weggeworfen hast. Mit flammender Schrift steht Sein Name darin: Gerecht und heilig! Wo soll ich hingehen vor deinem Geist und hinfliehen vor deinem Angesicht? Da bittest du denn: Lass deinen Namen mir allezeit vor Augen und im Herzen sein, dass ich in keine Sünde willige.
Das letzte Buch ist das seligste: Das ist Sein heiliges Wort. Da siehst du Ihm in Sein Herz. Mit goldenen Buchstaben steht darin: Gott ist die Liebe! „Also hat Gott die Welt geliebt, dass Er Seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass Alle, die an Ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.“ Aus diesen drei Büchern tönt dir Gottes heiliger Name entgegen, und du sollst nun bitten: Ach, dass doch alle Welt Deinen heiligen Namen erkennt!
Du gelobst aber auch damit, dass du den Namen Gottes heiligen und nicht missbrauchen willst durch Fluchen und Schwören. Ach, hilf Gott, wie wird der Name Gottes unter uns so oft entheiligt! Wie viel Tausende beten alle Tage mit ihrem Fluchen zum Teufel und beten sich damit den Fluch aufs Haupt. Trage den Namen deines Gottes mit Ehren und untadelig. Es gibt keinen herrlicheren Namen als den Namen Gottes. Du aber bist Sein Kind und trägst Seinen Namen. Mache Ihm keine Schande auf Erden. Amen.
Gebet.
Heiliger Vater! Wir haben uns unterwunden, mit dir zu reden, wie wohl wir Staub und Asche sind! Entsündige unsere Lippen und heilige uns in deiner Wahrheit! Offenbare uns je mehr und mehr deinen heiligen Namen. Denn dein Name, o Herr, ist ein festes Schloss, der Gerechte flieht dahin und wird errettet. Dein Name sei am Morgen unseres Lebens und einst am letzten Abend in unseren Herzen. Dein heiliger Name sei unser Anker in der Sturmflut des Todes! Erhöre uns um Jesu Christi willen. Amen.