Ficker, Christian Gotthilf - Die Zweifler im Neuen Testamente - Predigt am Sonntage Quasimodogeniti (Thomas)
über Joh. 20,24-29.
1845.
Die Gnade unsres Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns Allen! Amen.
Wenn in der heiligen Schrift ganz im Allgemeinen vom Glauben ausgesagt ist, „dass er sei eine gewisse Zuversicht dessen, was man hofft, und eine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht,“ und wenn im Verlaufe des weitern Inhaltes jener Schriftstelle (Hebr. 11,1 ff.) dies Allgemeine nun auch in einzelnen Fällen nachgewiesen wird: so ist uns nicht bloß das Bereich der Wahrheiten, auf welche der Glaube sich zu beziehen hat, sondern auch das Wesen und die Natur des Glaubens ganz besonders angedeutet. Nach dieser Schriftstelle hat es der Glaube nämlich mit solchen Dingen zu tun, die zwar über die Grenzen des Raumes und der Zeit hinaus liegen, die aber für das Bestehen und das Gedeihen unseres Geistes und unseres Herzens eine wesentliche Bedeutung haben; die zwar mit den fleischlichen Augen nicht erreicht und mit dem menschlichen Verstande nicht begriffen werden mögen, die aber, als von Gottes Gnade und Weisheit offenbart, sicher sind und gewiss; die zwar im strengen Sinne des Wortes auch durch die größte menschliche Weisheit nicht bewiesen werden können, deren Wahrheit aber jeder voraussehen muss, wenn er anders sich selbst und seine Bestimmung begreifen und erreichen will; die zwar oft für die Gegenwart mit der Summe unserer erworbenen Kenntnisse zu streiten scheinen, von deren tiefen und beseligenden Kraft wir aber später uns selbst überzeugen, nachdem wir es vielleicht versucht haben, in fester Zuversicht und in bestimmter Überzeugung von der Wahrheit eines Satzes unser Leben selbst einzurichten. Denn gilt irgendwo das Gesetz des Herrn: „So jemand will Gottes Willen tun, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott ist, oder ob ich von mir selbst rede,“ (Joh. 7,16.), so gilt es gewiss im Reiche des Glaubens und Niemand hat ein Recht, ein Urteil in Sachen des Glaubens abzugeben, der nicht die Wahrheit des Glaubens an seinem eignen Herzen und Leben versucht und erfahren hat.
Demgemäß bekennen wir: „Ich glaube an Gott den Vater, allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde,“ d. h., ich bin fest überzeugt und stehe in der gewissen Zuversicht, dass der Gott, durch welchen die Welt geschaffen worden ist und durch dessen Weisheit, Gnade und Macht sie getragen und erhalten wird bis auf den heutigen Tag, auch der Schöpfer meines Lebens sei, mein Herr und Gott, der auch meine Tage bestimmt und die Schicksale meines Lebens in seinem Buche geschrieben hat, mein gnädiger und treuer Vater, der „ob ich gleich oft wandere im finstern Tale“ und ob ich oft nicht einsehe, warum Vieles in meinem Leben gerade so geworden ist, die Seinen alle leitet „nach seinem Rat und Alles herrlich hinaus führt“. Demgemäß bekennen wir: „Ich glaube an Jesum Christum, dass er durch Lehre und Leben, durch Leiden und Sterben, durch Auferstehung und Himmelfahrt auch mein Erlöser und Versöhner geworden ist,“ und ob auch Viele daran nicht glauben, ob auch auf manche Frage, die mit dem Werke unsrer Erlösung durch Christum zusammenhängt, unser Verstand keine Antwort weiß, wir sind um so fester von der Gnade und Wahrheit des Evangeliums überzeugt, je länger und je entschiedener wir im Geiste des Evangeliums gelebt haben. Demgemäß bekennen wir, umgeben noch von den Segnungen der Feier des heiligen Osterfestes: „ich glaube an die Auferstehung der Toten, wo die, welche Gutes getan, zur Auferstehung des Lebens, die da Böses getan haben, zur Auferstehung des Gerichts hervorgehen werden aus ihren Gräbern“ (Joh. 5,25.), und ob auch noch Niemand von den Toten zu uns zurückgekehrt ist, um uns sichere Kunde von dem Schicksale unsers Lebens nach dem Tode zu bringen, ob es auch „kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was Gott bereitet hat, denen die ihn lieben,“ wir sind in gewisser Zuversicht, dass Gott seine Verheißung einst an uns erfüllen werde, und nichts kann uns trennen von der Überzeugung, dass, wo wir mit Christo leben und sterben, auch das Sterben unser Gewinn sein werde, nachdem das Leben in Christo schon in dieser Zeit so groß und herrlich an uns sich er: wiesen hat.
Dass wir aber demungeachtet doch oft wünschen, weitern Aufschluss auch über solche Dinge zu haben, wo wir auf den Glauben verwiesen sind dass wir in mancher Stunde unsers Lebens, wo unser Glaube schwach ist, nicht bloß beten: „Herr stärke uns den Glauben,“ sondern wirklich danach ringen und verlangen, nur einen Blick in den verborgenen Rat unsers Lebens tun zu können, dass wir oft in unserm Glauben wankend und irre werden, wenn die Erfahrungen, welche wir machen, von Gott nicht sowohl darauf berechnet sind, uns von der Wahrheit des Glaubens zu überführen, als vielmehr lange Zeit hindurch unsern Glauben nur zu prüfen ist - wohl nicht nur in der allgemeinen Erfahrung, sondern auch in der Unvollkommenheit unsers geistigen Wesens und darum auch in der Unvollkommenheit unsers Glaubens genugsam begründet. Auch unser heutiger Text gibt davon ein Beispiel und, da der Erlöser selbst ein Urteil darüber gibt, was von dieser Erfahrung zu halten, um so lernbegieriger wollen wir unsere Gedanken und Herzen um das Wort unseres Erlösers versammeln.
Johannis 20, V. 24-29.
„Thomas aber, der Zwölfen einer, der da heißt Zwilling, war nicht bei ihnen, da Jesus kam. Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihm: Es sei denn, dass ich in seinen Händen sehe die Nägelmale, und lege meinen Finger in die Nägelmale, und lege meine Hand in seine Seite, will ich es nicht glauben. Und über acht Tage waren abermals seine Jünger darinnen, und Thomas mit ihnen. Kommt Jesus, da die Türen verschlossen waren, und tritt mitten ein und spricht: Friede sei mit euch! Danach spricht er zu Thomas: reiche deine Finger her und siehe meine Hände; und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite; und sei nicht ungläubig, sondern gläubig. Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr, und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Dieweil du mich gesehen hast, Thomas, so glaubst du. Selig sind, die nicht sehen, und doch glauben!“
Dass Thomas, der mit Unrecht von dem hier erzählten Vorfalle den Namen des „ungläubigen Thomas“ erhalten hat, auf die Nachricht der Jünger: „Wir haben den Herrn gesehen,“ nur das zweifelnde Wort darauf spricht: „Es sei denn, dass ich in seinen Händen sehe die Nägelmale usw. (V. 25.),“ dürfen wir nicht so befremdend finden. Die übrigen Jünger hatten den Herrn in seiner Verklärung gesehen, und ihr Glaube an den Auferstandenen war durch dieses Sehen natürlich leicht geworden. Warum sollte nicht auch er wünschen, sich selbst auf ähnliche Weise von der Wahrheit der Auferstehung Jesu Christi zu überzeugen? Warum sollte er nicht sich sehnen, dass auch ihm diese „Handhabe“ des Glaubens gereicht werde, je mehr ihm gewiss daran gelegen war und je deutlicher sein ganzes Betragen vor und nach seinen Zweifeln dafür zeugt, dass er mit der Hälfte seines Herzens gleichsam schon glaubte und dass überhaupt die Gnade und Treue des Erlösers an ihm nicht vergeblich gewesen war?
Dies erkannte gewiss auch der Erlöser, und wie er früher einen andern Jünger, namens Nathanael, trotz seiner Zweifel, die auch nur ein Zeugnis eines aufrichtigen und redlichen Sinnes waren, mit vieler Geduld und Langmut trug, wie er dadurch, dass er auf diese Zweifel einging und ihm nur einen Blick in die Göttlichkeit seines Wesens tun ließ, das Herz und das Leben des Jüngers gewann: so fordert er auch hier, nachdem er kraft seines verklärten Körpers plötzlich mit dem Worte des Friedens in den Kreis seiner Jünger getreten war, den Thomas selbst auf: „Reiche deine Finger her, und siehe meine Hände; und reiche deine Hand her, und lege sie in meine Seite; und sei nicht ungläubig, sondern gläubig,“ und nachdem Thomas eben so beschämt als glücklich und selig ausgerufen hatte: „Mein Herr und mein Gott,“ fällt eben Christus über den Wunsch des Glaubens, doch einmal auch schauen zu dürfen, das Urteil: „Dieweil du mich gesehen hast, glaubst du Thomas. Selig sind, die da nicht sehen. und doch glauben!“
Zu unserer Erbauung lasset uns jetzt dieses Urteil des Erlösers über das Verlangen des Glaubens nach dem Schauen zum Gegenstande unserer Betrachtung machen.
Aus dem ganzen Urteile: „Selig sind, die da nicht sehen und doch glauben!“ geht nun aber hervor,
- dass der Erlöser zwar diesen Wunsch trägt und duldet;
- dass aber doch nur der Glaube selig zu preisen ist, der eben an dem Glauben sich genügen lässt.
I.
Dass der Erlöser den Thomas nicht geradezu tadelt um seiner Zweifel willen, so es ihm doch die übrigen Jünger versichern, dass sie den Herrn gesehen haben, dass er ihm keine Vorwürfe darüber macht, so doch Christus in den Tagen seines Fleisches es voraus verkündigt hatte, wie er am dritten Tage wieder auferstehen werde von den Toten, dass er vielmehr den mit den Zweifeln ringenden Jünger selbst anredet und auf den Wunsch seines zweifelnden Herzens eingeht, das ist uns ein neuer Beweis von der Geduld, Treue und Barmherzigkeit, womit der Erlöser die Seelen der Menschen sucht, rettet, stärkt, tröstet und heilt; das ist uns nun eine Bestätigung des lieblichen Wortes (Jes. 42,3. Matth. 12,20.), welches ein Evangelist auf Christum deutete: „Er ist es, der den glimmenden Docht nicht auslöscht, und das zerstoßene Rohr nicht vollends zertritt.“
Und wie sehr bedürfen wir Alle in unserm Leben solcher Geduld, Treue und Barmherzigkeit, die wir uns so oft in unserm Glauben nicht genügen lassen an dem, was der Herr den Seinen verheißen hat, die wir so oft schauen wollen, wo wir nur glauben sollen, und die wir so oft darum nicht glauben, weil das Schauen uns selbst nicht vergönnt ist. Dem Glauben ist es verheißen: „Wir `werden viel Gutes haben, so wir die Sünde meiden und Gott fürchten.“ Wie mancher, der nun zwar die Sünde meidet und mit Freuden Gottes Gebote zu halten sich bestrebt, der aber wenig Freude um sich sieht und mit Sorgen und Tränen sein Brot isst viele Tage und Jahre, ist im Glauben an dieses Wort irre geworden! Dem Glauben ist verheißen: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten,“ und wie oft, wenn auf die Tränen bei der Aussaat die Tränen bei der Ernte folgen, meinen wir, dass des Herrn Wort vielleicht nicht überall Wahrheit sei? Dem Glauben ist verheißen: „Der Herr ist nahe allen, die ihn mit Ernst anrufen,“ und wie oft, wenn wir nicht sehen, um was wir gebetet haben, meinen wir, dass der Herr selbst uns nicht nahe sei und um alle unsre Wege und Seufzer nichts wisse! Dem Glauben ist verheißen; „Ich will bei euch sein bis an der Welt Ende“ und „wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen,“ und wie oft, wenn Gefahr und Not im Schoß der Kirche, auf den Herzen der Gläubigen sich häuft, wenn die Feinde des Herrn frohlocken, dass es um seine Kirche viel leicht bald geschehen sei, wenn die Wahrheit seufzt und die Lüge triumphiert, meinen wir, dass die Kirche des Herrn fürwahr verachtet und verlassen sei, und anstatt zu hoffen auf den Herrn, klagen wir trostlos über ihn! Dem Glauben ist verheißen: „Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen,“ und wie oft, wenn die Tage der Not und Trübsal über uns kommen, wenn die Hand des Herrn lange Zeit schon auf uns ruht und wenn wir keinen Ausgang sehen und keinen Stern an dem umwölkten Himmel unsers Lebens, ists geschehen, dass unser Glaube schwach geworden ist, dass wir uns sehnten nach Einem, der uns den Glauben an Gottes Liebe stärkte, dass wir auch erklärten: „Es sei denn, dass es besser werde mit mir und meiner Not, will ich‘s nicht glauben, dass Gott die Liebe ist!“ Dem Glauben ist verheißen: „Christus ist die Auferstehung und das Leben,“ und wie oft, wenn die Klage des Todes auch unsre Herzen ergreift, wenn mit dem Tode der Unsrigen vielleicht ein gutes Teil unsres Glückes uns genommen ist, wenn die Schauer der Verwesung uns berühren, wenn Fleisch und Blut gegen den Glauben an die Auferstehung auftreten, ists geschehen, dass auch unser Glaube nur ein schwacher Glaube gewesen ist! Wie Mancher verwirft darum den Glauben an die Auferstehung der Toten, weil der sinnliche Verstand die Wahrheit nicht fassen kann, weil er vergisst, dass der Glaube in dem Reiche des Webersinnlichen seine Wahrheit hat, wo der Verstand oft nur einen leeren Traum sieht! Und doch will der Herr auch solchen schwachen Glauben tragen und dulden. Doch dürfen wir uns vertrösten, dass der Herr auch unsrer sich erbarmen werde, wo wir nur das Gebet auf unsern Herzen haben: „Herr, stärke unsern Glauben.“
II.
Ob wir nun aber auch bei unsern Zweifeln an der Wahrheit der göttlichen im Evangelium uns gegebenen Zusagen uns getrösten dürfen, dass auch wir einen gnädigen, treuen und barmherzigen Richter finden werden, ob wir uns auch auf das Wort berufen können: (Heb. 4,15-10,21) „Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleid haben in unsrer Schwachheit:“ so wollen wir doch nicht zu denen gehören, welche im Angesichte solcher Gnade und Treue solche Zweifel vielleicht nun für erlaubt und begründet halten. Eingedenk des Wortes im Texte: „Selig sind die, welche nicht sehen und doch glauben,“ wollen wir vielmehr der Überzeugung leben, dass nur der Glaube selig zu preisen ist, der eben an dem Glauben sich genügen lässt. Verdient auch Thomas mit seinen Zweifeln kein Lob, wie viele Erklärer der heiligen Schrift bei dieser Stelle bemerkt haben, so verdient gewiss auch nur der Glaube selig gepriesen zu werden, der eben an dem Glauben sich genügen lässt. Oder ists nicht Sünde, wenn wir Gott nicht auf sein Wort glauben und trauen? Wo ist ein Mensch, der so arm an Gnadenbezeugungen seines Gottes wäre, dass er es nicht auch oft gesehen habe, wie Gott freundlich ist und gnädig, und ists nicht Sünde, dass wir nicht eher glauben wollen, als wir gesehen haben? Ists nicht Sünde, wenn wir überall fordern, dass es nach unserm Sinne gehen müsse, um glauben zu können, dass Gott unser Schicksal leitet und regiert? Ists nicht Sünde, um bei dem einen Glaubensartikel, auf welchen der Text und die festliche Zeit verweist, zu bleiben, wenn wir die Auferstehung verwerfen, weil Christus uns nicht erschienen und weil noch keiner von den Toten zu uns zurückgekommen ist? Ists nicht Gnade genug, dass Christus nicht bloß durch sein Wort, sondern auch durch seine eigne Auferstehung den Glauben auch an unsre Fortdauer uns verbürgt hat? Ists nicht Gnade genug, dass so viele Verheißungen des Herrn vor unsern Augen erfüllt sind, und ist nicht Grund genug vorhanden, auch zu glauben, dass er diese Verheißung uns halten werde? Ists nicht Grund genug, daran zu glauben, so doch so viele Tausende nur in diesem Glauben einen guten Kampf gekämpft und ihren Lauf vollendet und noch in der Stunde des Todes Gott um dieses Glaubens willen gedankt haben?
Dein Wort ist es, o Gott: „Selig sind, die da nicht sehen und doch glauben,“ und dem Glauben allein hast du deine Hilfe und deinen Segen verheißen! Dem Glauben allein hast du es gegeben, Taten zu tun, die bleiben wie Du bist, und deren Gedächtnis kein Ende nimmt! Herr, hilf uns von unserm Unglauben! Stärk' uns in unsrer Schwachheit, erleuchte uns in unsrer Ratlosigkeit! Gib uns, wo wir wanken und dem „Rohre gleichen, das von jedem Winde hin und her bewegt wird,“ fröhliche und feste Gedanken! Um Glauben ist Alles gelegen; wir können seiner nicht entbehren! Ohne ihn haben wir keine Vergebung, keinen Frieden im Leben, keine Hoffnung im Tode, keine Seligkeit im Himmel, kein Vaterunser hier auf Erden, kein Hallelujah dort im Himmel, wo wir schauen sollen, was Du dem Glauben verheißen, dem Glauben bereitet hast! Amen.