Ficker, Christian Gotthilf - Die Zweifler im Neuen Testamente - Predigt am Sonntage Judica (Pilatus)
über Joh. 18, 29-38.
1846
Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns Allen! Amen.
Wenn der Apostel Paulus (1. Kor. 15,58) ermahnt: „Meine lieben Brüder, seid fest und unbeweglich, und nehmt immer zu in dem Werke des Herrn, sintemal ihr wisst, dass eure Arbeit nicht vergeblich ist in dem Herrn,“ oder wenn derselbe Apostel an einem andern Orte ausdrücklich behauptet: „Christus (Kol. 1,22 ff.) hat euch versöhnet mit dem Leibe seines Fleisches durch den Tod, auf dass er euch darstellte heilig und unsträflich und ohne Tadel vor ihm selbst, so ihr anders bleibet im Glauben gegründet und fest und unbeweglich von der Hoffnung des Evangelii, welches ihr gehört habt und welches gepredigt ist unter aller Kreatur,“ oder wenn derselbe Apostel an einem andern Orte mit sichtbarer Erhebung (Kol. 2,5) des festen Glaubens gedenkt, wo durch sich die christlichen Gemeinden auszeichneten: so geht daraus nicht allein die hohe Bedeutung, sondern auch der unaussprechliche Segen eines erleuchteten und dabei festen und unerschütterlichen Glaubens an das gepredigte Wort des Evangeliums hervor. Wäre auch das Wort (Heb. 13,9) Es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde,“ nicht von Paulus selbst, sondern das Wort eines andern Apostels, so wusste gerade Paulus, dessen Leben und Lehre in der großen Wahrheit aufgeht: „Was nicht aus dem Glauben kommt, ist Sünde, und im Glauben allein haben wir das ewige Leben,“ ein wie köstliches Ding es um einen festen Glauben sei und wie wir ohne denselben nur dem Rohre gleichen, das von jedem Winde der Lehre hin und her bewegt wird.
Und in der Tat, um bei dem Letzteren stehen zu bleiben, hat die Erscheinung eines Christen, der heute der Wahrheit huldigt und morgen sie wieder verwirft, der heute seines Glaubens gewiss zu sein scheint und morgen jeglichem eindringenden Zweifel zur Beute wird, der heute der Gründe seines Glaubens sich wirklich bewusst ist und morgen dieselben ohne weiteren Kampf dahin gibt, dem es überhaupt gar nicht darum zu tun ist, in Bezug auf seinen Glauben auf einem festen Grunde zu stehen und denselbigen getreu zu bekennen und zu verteidigen vor aller Welt, und der am Ende so leichtsinnig und gewissenlos zur Wahrheit sich stellt, dass er auch nur fragen muss: Was ist Wahrheit,“ - ich sage die Erscheinung eines solchen Christen hat viel Demütigendes und Betrübendes. Abgesehen davon, dass er selbst mehr oder weniger fremdem Einfluss untertänig ist und dass es ihm an aller sittlichen Haltung, an der Ruhe seines Herzens und dem schönsten Schmucke des Lebens gebricht, ist er auch in den meisten Fällen nur ein Gegenstand des Mitleids, der Verachtung und des Spottes und, was die Hauptsache ist, das Heil der Seele ist oft so gefährdet, dass nur besondere göttliche Gnadenerweisungen im Stande sind, dasselbe zu retten. Niemand hat dieses Alles bestimmter und bündiger dargestellt, als der Apostel Jacobus, wenn er spricht (Jak. 1,5): „Wer da zweifelt, der ist gleich wie die Meereswoge, die vom Winde getrieben und geweht wird. Solcher Mensch denke nicht, dass er etwas von dem Herrn empfangen werde. Ein Zweifler ist unbeständig in allen seinen Wegen.“
Unser heutiges Textwort stellt uns das Bild eines leichtsinnigen und vom Geiste der Wahrheit losgerissenen Zweiflers vor die Seele. Gott gebe, dass seine Gestalt von der Gewalt und dem Verderben der Lüge uns überzeuge und uns treibe, dass wir Alle mit um so größerem Eifer und mit neuer Freude an ihn uns halten, der unser. Weg, die Wahrheit und das Leben ist!
Text. Joh. 18,29-38.
„Da ging Pilatus zu ihnen heraus, und sprach: Was bringt ihr für Klage wider diesen Menschen? Sie antworteten und sprachen zu ihm: Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten dir ihn nicht überantwortet. Da sprach Pilatus zu ihnen: So nehmt Ihr ihn hin, und richtet ihn nach eurem Gesetz. Da sprachen die Juden zu ihm: Wir dürfen niemand töten; auf dass erfüllt würde das Wort Jesu, welches er sagte, da er deutete, welches Todes er sterben würde. Da ging Pilatus wieder hinein in das Richthaus, und rief Jesum, und sprach zu ihm: Bist Du der Juden König? Jesus antwortete: Redest Du das von dir selbst? Oder haben es dir andere von mir gesagt? Pilatus antwortete: Bin Ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet; was hast du getan? Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darob kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; aber nun ist mein Reich nicht von dannen. Da sprach Pilatus zu ihm: So bist Du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren, und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme! Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit? Und da er das gesagt, ging er wieder hinaus zu den Juden, und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.“
Insofern es an sich betrachtet wohl keine wichtigere Frage gibt, als diejenige ist, die wir heute aus dem Munde des Pilatus hören: „Was ist Wahrheit?“, insofern aber dabei wohl zu erwägen ist, dass der Wert dieser Frage durchaus danach bemessen werden müsse, unter welchen Umständen und von wem diese Frage getan wird: so ist dadurch auch schon die Wichtigkeit einer genaueren Untersuchung, in welchem Sinne dieser Ausspruch des Pilatus zu fassen sei, angedeutet. Nicht nur um nur hierüber uns klar zu werden, was Pilatus mit diesem Ausspruche denn eigentlich gemeint habe, wobei es übrigens gleichgültig ist, ob wir diesen Ausspruch als Frage oder als Ausruf betrachten, sondern auch um in Bezug auf das, was wir als Wahrheit festzuhalten und zu bekennen und wo wir dieselbe zu suchen haben, immer gewisser zu werden, und das Törichte und Verderbliche solcher Zweifel, die auf ein leichtsinniges, gegen die Wahrheit selbst im Voraus eingenommenes und sündliches Herz als auf ihre Quelle zurückweisen, kennen zu lernen, wollen wir jetzt die Frage des Pilatus: Was ist Wahrheit? zu einem besonderen Gegenstande unsrer Betrachtung machen. Wenn wir nun bei Erörterung dieser Frage nicht nur die besonderen im Texte selbst vorliegenden Umstände und Verhältnisse, unter welchen diese Frage von dem Pilatus getan worden ist, sondern auch die übrigen teils in dem Johannisevangelium selbst, teils auch in den übrigen Evangelien befindlichen Nachrichten über das Leben und den Charakter des Pilatus berücksichtigen, so werden wir Folgendes von dieser Frage selbst behaupten dürfen:
- diese Frage zeugt durchaus nicht von einem Herzen, das die Wahrheit suchen will;
- auch nicht von einem Herzen, das, müde geworden des Suchens, an der Wahrheit verzweifelt;
- wohl aber von einem Herzen, das gleichgültig gegen die Wahrheit überhaupt ist und welches sich darum auch im Angesichte der Wahrheit in Christo derselben verschließt.
1.
Wenn schon aus dem öffentlichen Bekenntnisse, welches Jesus vor den Hohenpriestern (vergl. V. 20) ablegte: „ich habe freiöffentlich geredet vor der Welt. Ich habe allezeit gelehrt in der Schule und in dem Tempel, da alle Juden zusammen kommen und habe Nichts im Verborgenen gehalten,“ folgt, dass es auch dem Pilatus bekannt sein konnte, wie der Erlöser selbst sich als den Weg, die Wahrheit und das Leben dargestellt hatte; wenn Christus auch jetzt vor Pilatus selbst bekennt: „mein Reich ist nicht von dieser Welt. Ich bin ein König, ich bin dazu geboren, und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit zeugen soll.“ „Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme;“ wenn Pilatus unwillkürlich dem Eindrucke, den schon der Anblick dessen auf ihn machte, von dem er selbst bekannte,“ dass er keine Schuld an ihm finde,“ sich hingeben musste, und wenn er nun demungeachtet nach diesem Allen und auf dieses Alles nichts anderes zu sagen weiß, als: „was ist Wahrheit,“ ohne auch nur eine Spur von dem Verlangen zu zeigen, dass er die Wahrheit kennen lernen möchte: so zwingt dies uns zu der Annahme, dass dieser Ausspruch nicht aus einem Herzen gekommen sei, das die Wahrheit suchen will und dem es um die Wahrheit zu tun ist, und wir können uns von der Richtigkeit dieser Annahme um so mehr überzeugen, wenn wir die Andeutung des Erlösers selbst berücksichtigen, dass, wer aus der Wahrheit ist, das heißt, wer in seinem Herzen einen Zug, ein Verlangen nach Wahrheit, das Geboren sein für die Wahrheit fühlt und anerkennt, seine Stimme gewiss auch hören werde.
Und in demselben Falle befinden wir uns Alle, die wir wissen könnten, was Wahrheit ist, die wir aber auch durch unsre Zweifel an den das Heil der Seele und das ewige Leben betreffenden Dingen, durch unser Wanken und Weichen, durch unser in Sachen der Wahrheit oft so uns entschiedenes Leben beweisen, wie wir eben auch die Frage tun könnten, was Wahrheit sei, und dass es uns an jener heiligen Liebe zur Wahrheit fehlt, die der Erlöser das Geboren sein aus der Wahrheit genannt hat. Wir sind getauft auf Christi Namen; wir sind unterwiesen in seinem Wort; wir sind umgeben von tausend Segnungen eines christlichen Gemeindelebens; wir hören das Evangelium verkündigen als eine Kraft Gottes, selig zu machen, Alle die daran glauben; „wir haben die Schrift in unsern Händen und wissen es, dass sie uns unterweisen kann zur Seligkeit;“ wir schauen auf eine Vergangenheit zurück, wo auf jedem Blatte der Geschichte der Sieg der evangelischen Wahrheit gefeiert wird; wir sehen es mit eignen Augen, dass, wer die Wahrheit, die in Christo uns offenbar geworden ist, in Ehren hält, ein Wohlgefallen Gottes, eine Freude der Brüder ist. Wer nun unter uns noch fragen will oder auch fragen muss, was Wahrheit sei, an die wir uns halten und auf die wir uns verlassen können, wer in der Hauptsache nicht weiß, was er als ein vernünftiger Mensch und Christ zu glauben und zu tun hat: der spricht über sich selbst das Urteil aus, dass es ihm nur an dem Willen gefehlt habe, die Wahrheit kennen zu lernen. Und das ist eben der wunde Flecken, an welchem auch unsre Zeit leidet; das ist die Krankheit, die an dem Mark des menschlichen Glückes zehrt; das ist der Krebs, der immer weiter um sich greift, dass so Viele das Bewusstsein, wie auch sie von Gott bestimmt sind, durch Wahrheit frei zu werden, verleugnen und eine Stellung zur Wahrheit einnehmen, die gar bald von Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit zur Verachtung, von Verachtung zum Hass, vom Hass zur Verfolgung der Wahrheit übergeht. Das ist es, was rum auch heute noch das Urteil des Erlösers über ein Geschlecht, das, weil es die Wahrheit nicht will, sie verwirft oder tadelt, oder mit ihr mäkelt und rechtet, seine Stelle findet: „Es ist den Kindlein gleich, die an dem Markte sitzen und rufen gegen ihre Gesellen und sprechen: Wir haben euch gepfiffen und ihr wolltet nicht tanzen, wir haben euch geklagt und ihr wolltet nicht weinen, Johannes ist gekommen, aß und trank nicht, so sagen sie: er hat den Teufel. Des Menschen Sohn ist gekommen, isst und trinkt, so sagen sie: Siehe, wie ist der Mensch ein Fresser und Weinsäufer, der Zöllner und der Sünder Geselle, und die Weisheit muss sich rechtfertigen lassen von ihren Kindern (Matth. 11,16 ff.).“ Das ist es, warum jedem, der die Frage auf seinem Gewissen hat: Was ist Wahrheit? die Klage des Erlösers durch die Seele gehen muss: (Luk. 13,34) „Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihr Nest unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt! Seht, euer Haus soll euch Wüste gelassen werden.“
II.
Vielleicht aber - auf diesen Gedanken könnte man wohl kommen und viele Gelehrte aus älterer Zeit haben denselben verteidigt - war die Frage des Pilatus: Was ist Wahrheit? die Frucht langer und großer Mühen und Forschungen auf dem Gebiete der Wahrheit. Vielleicht war Pilatus durch alle Schulen der römischen und griechischen Weisen hindurchgegangen, um den Durst nach Wahrheit zu befriedigen; vielleicht hatte er viele Jahre hindurch an allen Pforten der Tempel, wo die menschliche Weisheit ihre Altäre gebaut, angeklopft, dass ihm endlich eine bestimmte und sichere Antwort werde auf die Fragen seines nach Wahrheit verlangenden Geistes. Vielleicht war er von allen Wegen, auf welchen er Wahrheit zu finden meinte, mit der traurigen Überzeugung heimgekehrt, dass es überhaupt auf Erden eine bestimmte Wahrheit nicht gäbe, also dass wir in dem Ausspruche: was ist Wahrheit, nur um so mehr den Ausdruck einer wehmütigen Klage darüber zu suchen haben, dass überhaupt dem Sterblichen die Wahrheit verhüllt sei. Gewiss aber war dies nicht der Fall. Wer von der außerordentlichen Erscheinung, als welche das Wort und das Leben des Erlösers sich geltend machte, so wenig gefesselt wurde, dass er auch da auf die nähere Einsicht in dieselbe nicht eingeht, wo die Pflicht und das Gewissen dazu aufforderten; wer der ausdrücklichen Aufforderung, der Stimme der Wahrheit Herz und Ohr nicht zu verschließen, mit der nichts sagenden, leichtsinnigen und trotzigen Antwort: Was ist Wahrheit? aus dem Wege gehen kann; wer überhaupt ohne Weiteres den Gedanken festhalten und als begründet und probehaltig verteidigen könnte, dass man wirklich in Bezug auf die übersinnliche Welt, jede Hoffnung auf den Besitz einer bestimmten Wahrheit aufzugeben habe, was doch auch in jener Frage des Pilatus zugleich liegt und was wenigstens daraus gefolgert werden kann: der hat es nie ernstlich und redlich mit der Wahrheit gemeint, der hat nicht die Wahrheit gesucht und geliebt, sondern nur das Seine; der steht mit diesem Verzweifeln an der Wahrheit vereinzelt da gegen die allgemeine Erfahrung, dass auch schon die Liebe zur menschlichen Weisheit zwar in ihren Anfängen von Gott hinwegführen kann, dass sie aber, wenn man dem Zuge dieser heiligen Liebe nur weiter folge, sicher zu Gott und mit Gott zur Wahrheit zurückführt.
Wie glücklich sind wir darum zu preisen, dass wir Glieder einer Gemeinschaft sind, welche die Wahrheit nicht erst zu suchen hat, sondern welcher alles dasjenige durch die Gnade Gottes in Jesu Christo offenbart worden ist, was die Einzelnen als Wahrheit zu glauben und zu bekennen haben und wodurch sie gerecht und selig werden können vor Gott. Wie bald würde Pilatus seines Wortes sich geschämt haben: Was ist Wahrheit, wenn er die leisen Mahnungen seines Gewissens und seines eignen Weibes (Matth. 27,19), dass er es mit einem Unschuldigen und Gerechten zu tun habe, beachtet hätte und nicht alsbald hinaus gegangen wäre zu den Juden, als es doch galt, der Wahrheit Stimme zu gehorchen!
Wie glücklich sind wir, dass die christliche Wahrheit eine solche ist, in Bezug auf welche Christus selbst gebetet hat: „Ich preise dich, Vater und Herr des Himmels und der Erde, dass du Solches den Weisen und Klugen verborgen hast, und den Unmündigen offenbart (Matth. 11,25).“ Wie glücklich sind wir, dass aber auch unser Glaube auf einer Wahrheit beruht, welche auch die strengste Prüfung nicht zu scheuen braucht, die das Herz des Kindes mit heiligen Ahnungen erfüllt und auch dem tiefen Denker zu tun gibt, die das Herz des Mannes stärkt und die der Greis noch für den Schatz und den Trost seines Lebens hält, die ein alter Kirchenlehrer den Bach genannt hat, „in welchem die Lämmer gebadet werden und in dem doch auch die Elefanten baden!“ Wie glücklich sind wir, dass wir zu einer Kirche gehören, die zwar berufen ist, an dem, der das Haupt ist und in der Gnade und Erkenntnis Gottes und unsers Heilandes Jesu Christi (Eph. 4,15) zu wachsen, die aber auch auf einen „Felsen gegründet ist, den auch die Pforten der Hölle nicht überwältigen sollen,“ und dass es dieselbe Kirche ist, an welche wir eben als an die durch alle Zeiten hindurch aus Glauben in Glauben fortschreitende heilige, allgemeine christliche Kirche glauben! Welche schwere Verantwortung laden wir aber auch auf unser Herz und Gewissen, wenn wir diesen festen, unveränderlichen und ewigen Grund der Wahrheit nicht als solchen anerkennen, wenn wir uns dem das Wesen der evangelischen Kirche aufhebenden Wahne ergeben, dass wir in und mit ihr zu einem ewigen Suchen der Wahrheit verdammt seien, und wenn wir eben unsre Zweifel, unsre Unentschiedenheit im Glauben und Leben durch denselben gar noch entschuldigen! Wie viel Aufforderung liegt aber auch zugleich in der Überzeugung von einer bestimmten und ewigen, eben im Christentum uns gegebenen, nicht aber erst durch menschliche Klugheit aufzufindenden Wahrheit, dass wir nun auch dieser Wahrheit uns unterwerfen, dass wir uns mit unserm ganzen Wesen an sie hingeben und im Leben nach ihr und mit ihr ebenfalls ihre beseligende, göttliche Kraft erfahren, wie sie Tausende vor uns und mit uns erkannt und gepriesen haben, eingedenk des Wortes unsers Erlösers (Joh. 7,17): „So jemand will meines Vaters Willen tun, der wird inne werden, ob meine Lehre von Gott sei, oder ob ich von mir selber rede!“
III.
Haben wir nun in der Frage des Pilatus nicht das Zeugnis eines Herzens zu suchen, das die Wahrheit liebt und sucht, aber auch nicht eines Herzens, das, des Suchens müde geworden, überhaupt an der Wahrheit verzweifelt, so tritt uns in dieser Frage vielmehr das Zeugnis eines Herzens entgegen, das, weil es gleichgültig gegen die Wahrheit überhaupt war, auch der christlichen insbesondre sich verschließen musste. Es waren zwar noch nicht alle Gefühle für Wahrheit und Recht in dem Manne erstorben. Unwillkürlich musste sein Herz nicht bloß die Unschuld und Gerechtigkeit des so hart beschuldigten und verklagten Heilandes anerkennen, sondern das ernste Wort des Erlösers (Joh. 19,11): „ Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht wäre von oben gegeben; darum, der mich dir überantwortet, hat größere Sünde,“ machte einen so tiefen Eindruck auf ihn, dass er von Stund' an danach trachtete, Christum los zu lassen. Aber das Sinnliche und Irdische hatte so sehr die Übermacht in ihm, dass sein Wille nur noch mit schwachen Fäden an die Wahrheit selbst gebunden war, dass er vor den Drohungen der Juden mit der Missgunst des römischen Kaisers alles Bessere wieder verleugnete, dass er das Wort des Erlösers: „Ich bin dazu gekommen, dass ich die Wahrheit zeugen soll, und wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme,“ leichtsinnig in den Wind schlug, dass er vielleicht einer weitern Erörterung des Erlösers absichtlich, wie einst Felix (Apg. 24,25) mit seinem: „Wenn ich gelegene Zeit habe, will ich dich rufen lassen,“ aus dem Wege ging und durch dieses Alles seine Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit überhaupt und darum auch gegen die des Erlösers insbesondere beurkundete.
Haben wir nun aber in dem Bilde des Pilatus, wie es in unserm Texte mit besonderer Rücksicht auf die Frage: Was ist Wahrheit, vorgezeichnet ist, ein lebendiges Zeugnis für die Wahrheit des Wortes: „wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme;“ stimmen damit auch andere von dem Erlöser selbst und von den Aposteln getane Äußerungen überein, wie z. B.: „es kann Niemand zu mir kommen, es ziehe ihn der Vater (Joh. 6,44,66) oder es sei ihm von meinem Vater gegeben,“ und: „in allerlei Volk, wer Gott fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm“ ist aber auch das umgekehrte Verhältnis eben so wahr und begründet: „wer an mich glaubt (Joh. 12,44) der glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat, und wer mich sieht, der sieht den, der mich gesandt hat (Joh. 14,6). Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, denn durch mich. Wenn ihr mich kenntet, so kenntet ihr auch meinen Vater; und von nun an kennt ihr ihn, und habt ihn gesehen:“ so wollen wir dieses Beides, was Gott zusammengefügt hat, nicht trennen, wollen uns immer deutlicher von dem notwendigen Zusammenhange der Erkenntnis und der Liebe Gottes des Vaters mit der Erkenntnis und Liebe Jesu Christi des Sohnes zu überzeugen suchen. Fern sei es von uns, denen Christus gepredigt wird „als der Sohn des lebendigen Gottes, als der Fels unseres Heils, als der Fürst unserer Seligkeit und der Herzog unserer Seelen,“ an einer nur ins Allgemeine gehenden Erkenntnis Gottes aus der Natur und dem Gewissen, wie einer solchen auch die Heiden sich rühmen können, uns genügen zu lassen und unsern Unglauben in Bezug auf christliche Wahrheit vielleicht auch mit einem: „Was ist Wahrheit,“ entschuldigen und beschönigen zu wollen! Wer als Christ und im Angesichte der christlichen Wahrheit Christum und seine Wahrheit verachtet, verleugnet oder verwirft, der verachtet, verleugnet und verwirft auch Gott; denn Christus kommt ja von Gott, Christus redet von Gott und aus Gott, Christus versöhnt mit Gott, Christus führt zu Gott, Christus erhält bei Gott, Christus ist Eins mit Gott. Und wer Gott erkennt und Gott liebt, der muss auch Christum lieb haben, und muss, weil wir „in Christo Gott schauen mit aufgedecktem Angesicht (2. Kor. 3,18 ff.), und weil wir in ihm in dasselbige Bild verklärt werden „von einer Klarheit zur andern,“ bald zu der Erkenntnis kommen, dass „Christum lieb haben besser sei, als alles Wissen (Eph. 3, 19).“ Unsre Freude und unser Ruhm sei es vielmehr, dass wir oft, gern und mit immer neuer, Lebensinniger Andacht zu den Füßen des Herrn sein Wort hören, dass wir unsre Wahrheit suchen bei ihm und in der Kraft derselben alle Sünden und Sorgen des Lebens überwinden, und so oft wir Einen sehen und hören, der vor dem Worte des Erlösers hinausgeht mit der Frage: „Was ist Wahrheit,“ eben so oft wollen wir seines Ausspruchs gedenken: „Das Wort, das ich geredet habe, wird ihn richten am jüngsten Tage (Joh. 12,48)!“
Ja, das wollen wir, Herr und Heiland, Jesus Christus. Du allein hast Worte des ewigen Lebens. Auf Dich wollen wir hören, auf Dich wollen wir schauen, mit Dir wollen wir uns verbinden, in Dir wollen wir bleiben, auf dass Deine Wahrheit in uns wohne und uns verkläre zu der Freiheit der Kinder Gottes und zu Erben der Seligkeit, die Du allen den Deinen bereitet hast! Amen.