Goetz, Christoph Wilhelm - Kurze Betrachtungen über die Leidensgeschichte Jesu - Vierte Betrachtung.
Mein Heiland, gib mir Kraft zum neuen Leben,
Gib mir den Muth, dem Beispiel nachzustreben,
Das du, o Herr, uns hinterlassen hast;
Dein Joch ist sanft und leicht ist deine Last.
Dein Auge sieht die Schwäche meiner Seele;
Verwirf mich nicht, vertritt mich wenn ich fehle,
zu dir empor fleht meine Seele stets,
Und du vernimmst‘s, Erhörer des Gebets! -
Text: Joh. 13, V. 2-15.
Nach dem Abendessen, da schon der Teufel hatte dem Juda Simonis Ischarioth ins Herz gegeben, daß er ihn verriethe, wußte Jesus, daß ihm der Vater hatte alles in seine Hände gegeben und daß er von Gott gekommen war und zu Gott ging; stand er vom Abendmahl auf, legte seine Kleider ab, und nahm einen Schurz, und umgürtete sich. Darnach goß er Wasser in ein Becken, hob an den Jüngern die Füße zu waschen und trocknete sie mit dem Schurz, damit er umgürtet war. Da kam er zu Simon Petro; und derselbige sprach, zu ihm: Herr, solltest du mir meine Füße waschen? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was ich thue, das weißt du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren. Da sprach Petrus zu ihm: Nimmermehr sollst du mir die Füße waschen. Jesus antwortete ihm: Werde ich dich nicht waschen, so hast du kein Theil mit mir. Spricht zu ihm Simon Petrus: Herr, nicht die Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt. Spricht Jesus zu ihm: Wer gewaschen ist, der darf nicht, denn die Füße waschen, sondern er ist ganz rein. Und ihr seyd rein, aber nicht alle. Denn er wußte seinen Verräther wohl, darum sprach er: Ihr seyd nicht alle rein. Da er nun ihre Füße gewaschen hatte, nahm er seine Kleider und setzte sich wieder nieder, und sprach abermal zu ihnen: Wisset ihr, was ich euch gethan habe? Ihr heißet mich Meister und Herr, und saget recht daran; denn ich bins auch. So nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe; so sollt ihr auch euch untereinander die Füße waschen. Ein Beispiel habe ich euch gegeben, daß ihr thut, wie ich euch gethan habe.
Zu den merkwürdigsten Vorfällen in der Lebensgeschichte Jesu gehört ohne Zweifel derjenige, den uns dieser biblische Abschnitt mittheilt. Mit Liebe und Herablassung den Herrn allenthalben auftreten zu sehen, das sind wir an ihm gewohnt, hier, aber ist mehr als Liebe und Herablassung, hier ist eine Demuth, eine Erniedrigung seiner selbst, die uns staunen macht. Er leistet seinen Jüngern einen gemeinen Knechts-Dienst. Was er von einem jeglichen unter ihnen hätte erwarten und verlangen können, was er aber nicht erwartete und verlangte, das leistet er ihnen. Ueberdieß scheint ihm alles daran zu liegen, daß jeder diesen Dienst sich leisten lasse; denn er erwidert dem sich weigernden Petrus, ungewaschen werde er keinen Theil an ihm haben, und das Einzige, was er seinen befremdeten Jüngern, da er sein Geschäft vollzogen hatte, als Aufschluß über seine That mittheilte, sind die Worte: ein Beispiel habe ich euch gegeben, daß ihr thut, wie ich euch gethan habe. Wir würden gewiß das ganze Ereigniß viel zu gering nehmen, wenn wir darin weiter nichts als eine Veranschaulichung der Lehre, seyd demüthig, erblicken wollten. Nein, es sollte seinen Jüngern und allen, die von dieser That hören würden, eine Bestätigung dessen seyn, was er bereits hie und da angedeutet hatte, daß er nur gekommen sey, zu dienen, sich selbst zu überwinden und aufzuopfern, und daß auch sie nur dann die ganze Bedeutung seiner Erscheinung fassen und in eine lebendige Gemeinschaft mit ihm treten würden, wenn sie sich überwinden und zu dienen gelernt haben würden. Wir bleiben bei diesem Gedanken stehen, und unsere Betrachtung gilt der Wahrheit: Jesus kam zu dienen, und hat uns ein Vorbild gelassen, dem wir nachfolgen sollen. Es ist die eine Wahrheit, selten in ihrer Tiefe ganz gefaßt; seltener freudig geübt; ohne deren Ausübung jedoch, wahrer Christensinn unmöglich ist.
1.
Daß Jesus gekommen sey, um zu dienen und uns ein Vorbild gelassen habe, dem wir nachfolgen sollen, nennen wir eine tiefe Wahrheit, und mit Recht, denn sie gibt uns den entscheidendsten Aufschluß, wie wir seine Erscheinung zu fassen, in welches Verhältniß wir zu ihm zu treten haben.
Dem freiwilligen Dienen, Sichaufopfern, Demüthigseyn, stehen der Eigenwille, die Selbstsucht, der Stolz entgegen, und dieser Eigenwille, dieser Stolz und Selbstsucht sind die Sünde, welche dem Menschen angeboren ist, welche die Ursache seines Falles und Elendes zu allen Zeiten wurde. Was die Mosaische Schöpfungs-Geschichte uns von den ersten, reingeschaffenen Menschen und von ihrem Falle erzählt, das ist die Geschichte aller Menschen, die je auf der Erde lebten, bis auf den heutigen Tag. Wie dort das Nichtdienenwollen, Nichtgehorchenwollen, nicht, was Gott will, Wollen; sondern eigensüchtiges, Gott entgegengesetztes Wollen, Sünde und das an sie geknüpfte Elend herbeiführte; so ist das noch immer der Fall. Wer anders will, als Gott will, ist gottlos, ist ein Sünder, und in diesem Gefühle der Sünde und des Geschiedenseyns von Gott, und mit der Sehnsucht nach dem verlornen, vollendetern Zustande gingen die Menschen dahin, ohne Kraft sich zu erheben.
Gefallen waren wir, und Niemand konnte retten;
Kein Vater, kein Geschlecht, kein Bruder, Bruder retten;
Erlösen konnte nur der Abgefall‘nen Schar,
Sein eingeborner Sohn, er, der ihr Schöpfer war.
Da die Zeit erfüllet war, da sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz gethan. Was wir nun nicht vermochten, hat er geleistet. Dadurch, daß sein Wille eins war mit dem Willen des Vaters, daß er keinen besondern Willen hatte, hat er das rein Menschliche gerettet und, in sich das Urbild des menschlichen Wesens daran gestellt, und ist, in sofern er das auch unter allen Versuchungen und Kämpfen behauptete, unser Versöhner, Herr, Heiland und Erretter geworden. Dieses Aufopfern jedes Eigenwillens, das zeigte sich nun an Christus in einer Liebe, die nicht das Ihre suchte, in einem freiwilligen Dienen, Demüthigseyn, und Sichhingeben. In ihm findet sich jeder Stolz und jeder Eigenwille überwunden, und wenn er uns auffordert, ihm nachzufolgen, so verlangt er nichts Geringeres von uns, als daß auch wir jede Regung des Stolzes besiegen und unsern besondern - oder unsern eignen - Willen unterwerfen unter dem Willen Gottes; somit dienen und gehorchen wie er. In diesem Aufgeben seines Willens liegt das ganze Wesen des Christenthums. Je mehr wir die Selbstsucht überwinden, desto lebendiger wird Christus in uns, desto mehr vergöttlicht sich unsere Natur und desto inniger wird unsere Gemeinschaft mit Gott. Je mehr wir selbstsüchtig nur uns meinen, das Unsrige begehren, unserm eignen Willen folgen, desto mehr trennen wir uns von Gott und unserm Erlöser. Dieses Hingeben aber seines Willens an Gott, tritt äußerlich als ein Dienen, Demüthigseyn und Sich-aufopfern hervor, wie es an Christus in aller Erhabenheit erscheint. Eigenwille und Stolz sind der Urgrund alles Verderbens; Demuth und Hingebung seines Willens, an Gottes Willen, sind die Grundbedingungen alles Guten im Menschen. Diese große Wahrheit, wollte Jesus unstreitig seinen Jüngern an das Herz legen, da er ihnen die Füße wusch. Aber selten ist dieß recht erkannt. Man ist geneigt, ein solches Dienen für eine allzugroße Erniedrigung seiner selbst zu halten; man hat den wohl auch bemitleidet, der sich so wegwerfen konnte. Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes, und der Welt, die sich in ihrem Dünkel und Eigenwillen gefällt, ja wohl gar etwas Großes darein setzt, nach Gott nichts zu fragen, ist ein solches Dienen, eine solche Demuth, Aergerniß und Anstoß. Selten wird diese Wahrheit: Jesus kam, um zu dienen und hat uns ein Vorbild gelassen, dem wir nachfolgen sollen, in ihrer Tiefe erkannt;
2.
seltner noch geübt. Diejenigen, welche die Wahrheit, daß auch wir uns mit unserm ganzen Wesen Gott hingeben sollen, um das Gute nur zu thun, weil es gut ist, ohne unsere Ehre, Freude oder Gewinn zu meinen, nicht kennen und auch nicht kennen lernen wollen, und deshalb Christum als ihren Heiland und Erretter noch keineswegs erfaßten; üben sie natürlich auch nicht. Aber selbst bei denen, welche sie erkennen, steht doch häufig die That mit der erkannten Wahrheit in Widerspruch. Groß ist allerdings die Aufgabe. Es wird nichts Geringeres damit von uns verlangt, als daß alles ungöttliche Wesen in uns sterbe und das göttliche auferstehe. Nicht nur verbannen, ausrotten sollen wir jede Regung des Stolzes, der Eitelkeit, des Hasses, der Lieblosigkeit, der Selbstsucht, und freudig, still bereit zu jedem Opfer, wollen wir den Willen Gottes erfüllen. Es findet sich für uns alle so viel Gelegenheit zu dienen, wie der Herr den Seinen diente. Wir sind ja umgeben mit Menschen; wir bilden mit ihnen die große Gemeinde, deren Haupt Christus ist, die sich wechselseitig helfen und fördern soll, damit sie sich zu ihm erhebe, damit sie recht als sein Eigenthum erkannt werden möge. Je größer unser Wirkungskreis ist, je ausgedehnter unsere Verbindungen sind; desto häufiger findet sich Gelegenheit zu dienen, Segen zu stiften. Indessen auch in einem beschränkteren Kreise zeigt sie sich vielfach selbst dem Weibe, das von Natur bestimmt ist, stiller, anspruchsloser, und auf einen engern Raum angewiesen, zu wirken, wie viel reiche Gelegenheit zu dienen, bietet sich im Bezirke des Familienlebens auch ihr dar? ja, sie scheint sogar berufen, auf diese Weise schneller in eine bleibende Gemeinschaft mit Christo zu treten, als der Mann, der, auf einem größeren Uebungsfelde für seine Kräfte, zwar bei weitem Größeres leisten, aber auch leichter sich selbst verlieren kann. Veranlassungen um sich her Elend zu mildern, Freuden zu stiften, nützlich zu werden, finden alle, aber so oft werden sie gar nicht, oder nicht in der rechten Weise benützt. Je strenger wir den Blick in unser Inneres richten, je mehr wir wachsen an Erkenntniß unserer selbst, desto seltner finden wir uns ganz rein von Selbstsucht: Wirken für das Glück und die Freude Anderer; vergeben dem Beleidiger; lieben den, der uns haßt; das rauhe Wort sanft erwidern; die unfreundliche Begegnung geduldig tragen, um in der Liebe zu bleiben, und in Gemeinschaft mit Gott, der die Liebe ist, ach das wird uns stolzen, eigenwilligen, selbstsüchtigen Menschen so schwer, und doch
3.
ist ohne dieses freiwillige Dienen und Sich überwinden, kein wahrer Christensinn möglich. Für das erste, erhabenste Gebot hat Jesus die Liebe zu Gott und dem Nächsten erklärt, wo aber jener demüthige Sinn, der freiwillig dient und sich hingibt, nicht ist, kann auch diese Liebe nicht seyn. Ich kann nur dann, wenn ich ernstlich verlange, mit meinem ganzen Wesen Gottes zu seyn und seinen heiligen Willen zu erfüllen, seine Größe an mir selbst erfahren, daß sich die Bewunderung seines Wesens in Liebe zu ihm auflöst, die zu Thaten, welche mit seinem Willen übereinstimmen, erst die rechte Freudigkeit gibt. Ich werde nur dann, wenn ich den Kampf der Ueberwindung meines eignen Willens gekämpft, meine Schwachheit recht begreifend, keinen meiner Brüder zu gering meiner Liebe achten, ich werde in jedem, den himmlischen Vater, dem sie theuer sind, lieben.
Nur dann, wenn ich dienen und gehorchen gelernt, werde ich mein Kreuz auf mich zu nehmen und Jesu nachzufolgen im Stande seyn. Des eignen Herzens Begierden und Lüste, die Gott widerstreben, zu überwinden, das ist das wahre Kreuz des Menschen, das ohne Kampf und Schmerz nicht getragen wird, und doch will gerade hieran Jesus die Treue, wie an der Liebe, die Echtheit seiner Jünger erkennen. Wo aber keine Demuth, kein freiwilliges Dienen ist; da ist ein freies, losgelassenes Leben des natürlichen Menschen, kein Ueberwinden seiner selbst, kein Kreuzigen seines Fleisches, seiner Lüste und Begierden. Lüste und Begierden wohnen im Menschen, sie sind, ob auch der derbe Name den zarten Ohren nicht gefiele, sie sind in den Vornehmsten und Niedrigsten im Volke, und ohne sie besiegt zu haben, ist ein Christussinn unmöglich.
Wo dieses Sterben mit Christo dem Eigenwillen, und ein Auferstehen mit ihm, zum Willen des Vaters ist; nur da ist der Mensch, aus Gott geboren und hat ein neues Herz empfangen. Nur diese Gesinnung bindet ihr von der Erde los, und erhebt ihn im Glauben zum Himmel; nur dieser Sinn vereinigt mit Gott und verwandelt hier schon Glauben und Hoffen in Gewißheit. Zu solchen Gesinnungen, zu solcher Stärke im Glauben sind wir als Christen berufen. Hier schon soll unser Wandel ein Wandel im Himmel seyn, und unsern Blick sollen wir über das Zeitliche und Vergängliche erheben in das Gebiet des Unvergänglichen und Ewigen.
Ach, daß wir deinen Geist immer mehr in uns aufnehmen und dadurch deiner immer mehr werth werden möchten! Hilf uns Schwachen! - Hilf uns, wie du, mit Freudigkeit Gott und Menschen dienen! Demuth gib uns Herr, damit wir dir ähnlicher werden! Amen.