Emmerich, Friedrich Carl Timotheus - Am Karfreitag.
Text: Ev. Joh. 19,28-37.
Es ist vollbracht! ruft unser Heiland, an dem Kreuzesstamme, das Erdenleben aushauchend, und den Geist hinüber befehlend in seines Vaters Hände. Es ist vollbracht! dieses Wort in dem Munde des sterbenden Christus, wie ist es so inhaltsreich, so bedeutungsschwer, wie fasset der Erlöser in diesem Sterbelaute alle Strahlen, allen Reichtum seines gesamten Lebens in einen Punkt zusammen, und bietet dieses nun sich schließende Leben als ein wohlvollendetes Werk, als ein getreu vollbrachtes Opfer dem Vater dar, der das Werk ihm aufgetragen, der das Opfer von ihm gefordert hatte. Was die Engel bei seiner Geburt verkündet, was dort in dem Tempel das jugendliche Gemüt des Knaben mit Gotteskraft ergriffen, was im väterlichen Hause der Jüngling in unbekannter Stille heranreifen ließ, was endlich während seines Lehramtes die Worte beseelte, seine Schritte leitete, seine Taten begeisterte, die Erlösung des gesunkenen Menschengeschlechtes: dies hat er jetzt vollendet, gekrönt, versiegelt mit seinem Sterben am Kreuze: Es ist vollbracht die Aufgabe seines Lebens, der Zweck seiner Geburt, das Werk seiner Pilgrimschaft auf Erden, vollbracht in demutsvollem Gehorsame, in ungebrochener Treue, in alles überwindender Liebe.
O! dass doch dies ernste, große, inhaltsschwere Wort des sterbenden Erlösers herübertönte, herüberdränge in unsere Kreise, in unsere Herzen, dass es uns weckte aus den Zerstreuungen und Betäubungen der Welt, aus dem verworrenen Treiben und Jagen und Wünschen und Begehren, welches wir Leben nennen, dass es uns mahnte an den hohen Ernst, an die große Bedeutung, an den wichtigen Zweck unsers irdischen Daseins. Denn, können wir es leugnen, Brüder, dass so vielen das Leben nicht eine vom Vater ihnen gegebene, und von ihnen zu lösende wichtige Aufgabe sei, sondern ein kindisches Spiel, ohne Zweck, ohne Bedeutung, mit welchem sie von der Jugend ins Alter, von dem Alter ins Grab hinabtändeln und scherzen; können wir es leugnen, dass so Wenige das Werk kennen, und kennen wollen, das auf der Erde sie zu vollenden und zu vollbringen haben, dass noch Wenigere dieses Werk fest ins Auge fassen, alles auf dies Einzige, was Not tut, beziehen, und mit jedem Tage seiner Vollendung näher rücken. Ist ihnen nicht vielmehr das Leben ein verworrener, bald schmerzhafter, bald angenehmer Traum, ohne Zusammenhang, ohne Einheit, ohne Sinn, ein Traum, der sie hin und her treibt, hin und her bewegt, ohne dass sie wissen, was sie wollen noch was sie tun, noch wohin sie gehen und getrieben werden. Und doch, meine Brüder, doch kommt auch für sie, kommt für uns alle eine Stunde, unvermeidlich, ernst, folgenschwer, eine Stunde, die uns nicht fragen wird: wie lange hast du deinen Körper von einem Tage zum andern getragen, was hast du besessen, gewusst, genossen, gelitten; wie bist du gelobt oder getadelt worden? sondern: ist das Werk vollendet, die Aufgabe gelöst, das Opfer vollbracht: das dir der himmlische Vater aufgetragen hat? Ist es vollbracht das Eine, was Not tut? In der Beantwortung dieser Frage, meine Brüder, muss entweder ein Himmel oder eine Hölle liegen. Eine Hölle, wenn jetzt die Maske von den Dingen, von den Gütern fällt, die wir begehrt, an welche wir die Seele verkauft, denen wir die Unschuld des Herzens, des Lebens Reichtum, die Fülle unserer Kräfte geopfert, und die jetzt hohnlächelnd vor uns stehen in ihrer wahren Gestalt, in ihrer Nichtigkeit, in ihrer Leere, in ihrer Unseligkeit; eine Hölle, wenn die Maske von unserm eignen Innern fällt, wenn wir uns nicht mehr täuschen können durch den Beifall der Andern, durch den Glanz unsers Standes und unsers Reichtums, durch die übermütige Schar der sogenannten guten Werke, womit wir uns den Himmel zu erkaufen, zu ertrotzen wähnten, und wir nun uns erblicken so leer an dem einzigen echten Gehalt des Menschen, an Glauben, an Liebe, an Demut, so verunstaltet durch Lüste und Leidenschaften, so verunreinigt durch den Schlamm der ungemäßigten, ungeordneten irdischen Begierden, so ferne von dem, der allein die Seligkeit dem Geiste gewähren kann, von Gott und seinem menschgewordenen Sohne.
Aber auch welch' ein Himmel bringt jene Stunde, bringt die Beantwortung jener Frage demjenigen, in welchem Christus gelebt hat, wenn jetzt die Aufgabe der Heiligung gelöst, das Opfer des alten verdorbenen Menschen gebracht; wenn das Werk, das der Vater uns aufgetragen, vollbracht ist, und unser Glauben nun übergeht ins selige Schauen, das Dunkel der göttlichen Fügung sich löst ins Licht der ewigen Liebe, wenn wir in uns erblicken die neue von Christus gebildete, durch unsere Treue, unsere Liebe, unsere Demut bewahrte Gestalt des neuen, geistigen, göttlichen Menschen: wenn endlich wir dankerfüllt und beschämt in seiner eigentümlichen Herrlichkeit jetzt schauen das Werk, das der Vater uns auftrug, das zu vollenden und zu vollbringen er uns geholfen hat. Der schwache Mensch, er bedarf auf seinem Wege zur Heimat der Stärkung von oben; und wo finden wir diese Stärkung reichlicher, voller, kräftiger, als bei unserm Meister und Heilande; so lasst uns denn in Andacht uns sammeln um sein Kreuz, und zu unserer Ermutigung und Stärkung mit einander betrachten, in welchem frohen Sinne derjenige, in welchem Christus gelebt hat, auch sterbend mit seinem sterbenden Erlöser ausrufen könne: Es ist vollbracht!
Es ist vollbracht das Geschäfte der Erdenheiligung: dies ist der erste Jubelton, in welchen die scheidende, von der groben, dichten Körperhülle befreite, und ins höhere Geisterreich hinüber sich schwingende Seele des Christen ausbricht. Was über den Neugebornen einst bei der Taufe mit bedeutungsvollen Worten ausgesprochen, wozu er unter den Segnungen der beglückten Eltern eingeweiht wurde, was er selbst in reifern Jahren als die Aufgabe seines Lebens anerkannt, als das Ziel seines höchsten Strebens geliebt: die Heiligung des innern Menschen zu einer Wohnung der Gottheit durch Christum, das ist jetzt in heißem Kampfe errungen, in fester Treue bewahrt, in reiner Liebe vollbracht. Der innere Mensch nach Christus gebildet, mit dem heiligen Geiste erfüllt, ist reif zum Abwerfen der beschwerlichen Hülle; reif zum Erwachen ins eigentliche Leben, reif zur nähern, innigern, seligern Verbindung mit dem himmlischen Vater. Nicht, dass Alles vollbracht, dass das Geschäft der Heiligung ganz vollendet sei, denn ganz heilig ist nur der Allheilige; aber vollbracht ist die Erdenheiligung, das Ringen des unsterblichen Geistes mit einer widerspenstigen Hülle, das Kämpfen im dunkeln Tale des Glaubens, wo der Mensch so oft, ja meist nur vertrauen, nur lieben, nur die Treue bewahren kann, ohne das, worauf er vertraut, zu schauen, ohne das, was er liebt, zu genießen, ohne die Frucht der Treue zu sehen, welche er übt; vollbracht ist endlich durch die Entsagungen und Leiden, durch das immerwährende Sehnen und Ringen und Streben nach oben das allmählige Ablösen, das Abscheiden des Geistes, des eigentlichen Menschen von den Begierden, den Leidenschaften des tierischen Wesens, welches mit ihm verbunden war und das er anfangs oft für einen Teil seiner selbst angesehen hatte. Durch unsere Geburt auf Erden und durch unsere Taufe werden wir zu dieser Erdenheiligung bestimmt, wird sie uns auferlegt als das zu vollbringende Werk; jenes Ringen des Geistes mit der Hülle soll seine Kräfte üben, jenes Kämpfen im dunkeln Tale uns prüfen, ob wir's redlich meinen, oder ob wir auch in dem Wahren, Schönen und Guten bloß den Genuss suchen. Jenes der Natur so peinliche Lösen des Bandes, welches anfangs den Geist an die tierische Welt kettet, es soll ihn bilden zum Herrn über die Natur, zur Freiheit und Erhabenheit über alles ungeistige, ungöttliche Wesen und haben wir, vom Vater begnadigt, vom Sohne geliebt, vom Heiligen Geiste unterstützt, dieses Werk vollendet nach bester Einsicht, nach besten Kräften, in aller möglichen Treue: ist das Geschäfte der Erden-Heiligung von uns vollbracht, dann tritt an ihre Stelle jene himmlische Heiligung, die frei ist von der Bürde des trägen Erdenkörpers, frei von den Gebrechen, Schwachheiten und Fehlern, die mit dem besten Willen wir nicht ganz besiegen konnten, mit denen aber unser Willen sich nicht vereinigte, sondern die er verabscheute und bekämpfte, und welche Gott in Christo uns vergibt, von uns nun hinwegnimmt; jene himmlische Heiligung, die sich immer mehr an uns vollendet im Schauen des Geistigen und Göttlichen, im Gefühle der Seligkeit, welche das Leben des göttlichen Willens den himmlischen Geistern gewährt. Aber siehe wohl zu, mein Bruder, dass jenes Siegeswort, welches der sterbende Christ ausspricht, und welches zu immer ernsterem Kampfe, zu immer größerer Treue dich auffordern und ermutigen soll: siehe wohl zu, dass es nicht in der Verkehrtheit des Herzens dich etwa nachlässig mache, und einschläfere mit schmeichelnder aber trügerischer Hoffnung. Hoffe nicht jenes Wort aussprechen zu können, wenn dir nicht wirklich das Geschäfte der Heiligung dein ernstes und vorzüglichstes, wenn es nicht wirklich dir zum Inhalt des Lebens geworden war; hoffe nicht, dass der Tod an und für sich selbst dich zu jenem Ausruf berechtige, dich einführe in die Seligkeit der himmlischen Heiligung. Wie könnte der Tod an dir vollenden, was du nicht angefangen, oder was du vielleicht angefangen, aber immer wieder unterbrochen, immer lässig und lau geübt hast? Wie sollte dein Geist reif sein zu jener himmlischen Heiligung, zu jenem reinen Leben des göttlichen Willens, zu jenem Schauen des Übersinnlichen, Geistigen und Göttlichen; wenn die Erdenheiligung nicht den Geist vorbereitet, das Herz geläutert, dein inneres Auge geschärft hat der Glanz jenes Lebens, jener Heiligkeit, würde dein am Irdischen abgestumpftes Auge blenden, und wenn auch ein Zauberschlag dich mitten in jenen Himmel der Heiligen versetzte, wie würde dein Herz, in dem die Erde noch wohnte, mit all' ihren Lüsten, Begierden, wie würde dein eigen Herz, dessen Liebe noch auf das Vergängliche gerichtet wäre, sich so enge, so unheimlich fühlen und hinweg, hinweg sich sehnen nach den trüben Wohnungen hinab, wo deine Schätze, wo deine Liebe du gelassen hast. Was du hier an deiner Erdenheiligung versäumt hast, das musst du dort nachholen, denn nur an die vollendete, vollbrachte Erden-Heiligung schließt sich die Seligkeit der himmlischen Heiligung an; und weißt du denn, welche Schwierigkeiten sich dir dort entgegenstellen; welche Gewalt alsdann die Leidenschaften und Begierden, die du hier zu bekämpfen versäumt, über dich erlangen, welche Qualen dir die Erblickung deines eigenen vernachlässigten Innern dir bereiten werde? Nein, nicht verderbliche trügerische Hoffnungen erwecke in dem verblendeten Herzen die Vollendung, welche der Tod dem Christen bringt; den aber, der Christum in sich aufgenommen hat, den, der in Christus lebt, nach Christus sich bildet, durch Christus sich auf der Erde heiligen lässt, den kräftige jenes große Wort: Es ist vollbracht! den stärke es in seinem Glauben, in seiner Treue, in seinem Kampfe, dem versüße es durch einen Blick auf die Vollendung den schweren Kreuzesweg, der zur Vollendung führt.
Der scheidende Christ darf im Vertrauen auf seinen Erlöser ausrufen: Es ist vollbracht das Geschäfte der Erdenheiligung! und eben so ist für ihn das Erdenwirken vollbracht, um dem himmlischen Wirken die Stelle einzuräumen. Das Erdenwirken ist beschränkt, und geschieht im Dunkel der irdischen Nacht; das himmlische Wirken ist frei wie der ungebundene Geist, geschieht in der Klarheit des himmlischen Tages. Das Erdenwirken ist beschränkt, weil der Körper des Geistes freie Tätigkeit fesselt, bändigt, oft hemmt. Seht Christum, musste er nicht, als er die Knechtesgestalt annahm, um uns in allem gleich zu werden, außer in der Sünde, musste er sich da nicht entäußern eines Teiles seiner göttlichen Kraft, seiner Hoheit, weil kein Erdenkörper die ganze Fülle der Gottheit, die in dem eingebornen Sohne war, hätte ertragen können; musste er sich nicht unterwerfen den trägen Gesetzen, welche die Körperwelt beherrschen, sich unterwerfen den irdischen Bedürfnissen, die des Geistes Tätigkeit beschränken? Aber als er gehorsam gewesen bis in den Tod; als das: Es ist vollbracht! ausgesprochen war, da sprengt er die Fesseln der Körperwelt, da erhebt er sich bald wieder in jenes Reich, wo der Geist ungehindert sich entfalten, im Genuss seiner Tätigkeit wirken, und frei von irdischen, niedrigen Bedürfnissen die ganze Fülle seiner Kräfte entwickeln kann. Und auch du, mein Bruder, der du bei dem regen Triebe zur geistigen Tätigkeit oft seufzt unter der Last des trägen Körpers, der du vielleicht unwillig erträgst die Menge der irdischen Bedürfnisse, die immer wiederkommend deines Geistes freien Gang hemmen und stören, der du so vieles tun möchtest, und so wenig tun kannst, weil deine Glieder, deine körperlichen Werkzeuge dem Geiste den willigen Dienst versagen: harre aus mit Mut und Vertrauen, denn siehe, wenn du in diesem dir beschiedenen beschränkten Erdenwirken den Gehorsam, die Treue, die Liebe bewiesen, die du an dem menschgewordenen Sohne Gottes bemerkst: so kommt auch für dich die frohe Stunde, wo du mit deinem Heilande ausrufen kannst: es ist vollbracht! wo die Fesseln fallen, und frei du dich erhebst zu ungehinderter, seliger Tätigkeit der himmlischen Geister. Und dann wird dein Wirken auch nicht mehr gesehen im Dunkel der irdischen Nacht, sondern in der Klarheit des ewigen Tages. Ja wohl, unser Erdenwirken ist ein Wirken im Dunkel; wir säen aus, aber der finstere Schoß der Erde verbirgt die Saat vor unsern Augen; wir wirken, aber wir wissen nicht was gewirkt wird; kaum dass hier und da ein hervorbrechender Halm, eine sich öffnende Blume, eine reife Frucht sich unserm Auge zeigt, um uns zu stärken, um uns zu versichern, dass nicht Alles verloren sei, dass manches von uns ausgestreute Saatkorn möge Wurzeln gefasst haben. Seht auf Christum: drei Jahre lang hatte er unermüdet gewirkt, gearbeitet an dem Herzen seines Volkes, seiner Jünger, hatte keine Beschwerde, keinen Aufwand von Kraft gescheut, um für sie Gottes Reich zu gewinnen, und was ist der sichtbare Erfolg seines Erdenwirkens? Die Priester und Vornehmen verfolgen ihn, das Volk, das ihm Hosianna zugerufen, ruft einige Tage nachher das Kreuzige, Kreuzige über ihn aus; eine kleine Zahl furchtsamer, vorurteilsvoller Jünger ist die einzige, sichtbare Frucht seines Lebens, und dennoch ruft er getrost und freudig aus: es ist vollbracht! denn er weiß es: dass seine im Dunkel des irdischen Wirkens gesäte Saat, nicht verloren sei, dass in seines Gottes Hand verborgen, sie reife, emporwachse, emporblühe zu überreicher Ernte, dass wenn der Körper gefallen und des Geistes Auge nicht mehr gehemmt ist durch die irdische Binde, der Geist der alles durchdringt, dann in der Klarheit des ewigen Tages das erblicke, was im Dunkel der Erde er gesät hat. Unsere Werke gewirkt in Treue, in Liebe, in Glauben, unsere Werke gepflegt von der Hand des Gottes, der sie uns aufgetragen, der uns dazu gestärkt hat, sie folgen uns nach, und erscheinen uns in ihrer wahren Gestalt, wenn das: Es ist vollbracht! ausgerufen ist, und an das dunkle Erdenwirken die Klarheit des himmlischen sich angereiht hat.
Und so ruft endlich auch 3) der sterbende Christ mit seinem Erlöser aus: Es ist vollbracht das Erdenlieben, auf dass das himmlische Lieben nun beginne. Wem, meine Brüder, durch Christum das Geheimnis der reinen, göttlichen Liebe ist offenbart worden, der fühlt es bald, wie dies zarte Himmelsblume nur mit Mühe gedeihe in dem kalten Schoß der Erde, unter den Stürmen, die hier unten toben, unter den feindlichen Gewalten, die unaufhörlich auf sie losdringen. Denn, in wessen Herz diese reine Liebe zu Gott und den Brüdern, die Christus lehrt und vorbildet, die uns zu wirklichen Gotteskindern macht, in wessen Herz diese Liebe wohnet, der erfährt es nur zu oft, und mit bitterem Schmerz, dass auf Erden sie so gefesselt sei; denn unsere Lage, unser Körper, unsere beschränkten Kräfte versagen so oft dem Herzen den Dienst, den es zu leisten sich gedrungen fühlte. Der dichte Erdenkörper, die beengenden Erdenverhältnisse lagern sich trennend und scheidend zwischen Geist und Geist, zwischen Herz und Herz, und hindern jene Vereinigung, jene innige, unaufhörliche Verbindung, welche nur der Himmel den befreiten Geistern gewähren kann. Und wie in ihren Wirkungen unsere Erdenliebe beschränkt und gebunden ist, also ist sie auch oft in unserm Innern dürre und trocken, ohne Genuss. Denn sagt selbst, habt ihr, die ihr auch weit schon vorangerückt seid in der Liebe zu Gott und den Brüdern, ihr, in denen sie schon tiefe Wurzel geschlagen hat, in denen sie zur Seele des Lebens wurde, habt ihr wohl immer jenes lebendige, erquickende, entflammende Gefühl der Liebe, das in einzelnen Stunden wie eine Flamme von oben euch durchdringet, begeistert, beseliget? Merket ihr es nicht selbst recht deutlich, dass euer schwacher Erdenkörper ein solches anhaltendes, lebendiges Gefühl der himmlischen Liebe nicht ertragen könnte? und müsst ihr euch nicht meistens begnügen, ohne die beseligende Empfindung der Liebe, diese euere Liebe zu Gott zu beweisen, zu üben, bloß durch treuen Gehorsam, und euere Liebe zu den Brüdern, bloß durch euer Dulden und Vergeben, durch euere stets erneuerte Tätigkeit für dieselben? Aber siehe, wenn auch ohne den Genuss, ohne das beseligende Gefühl der Liebe zu empfinden, dennoch euere Liebe echter Art ist, und nicht sich selbst sucht, dann wandelt sich euer genussloses, euer beschränktes und gefesseltes Erdenlieben mit jenem Worte: es ist vollbracht! in das freie, mit der höchsten Seligkeit verbundene himmlische Lieben um. In jenem Reiche, zu dem der Heiland wiederkehrte, als er seines Erdenlebens Aufgabe gelöst, und sein: es ist vollbracht! ausgerufen hatte, in jenem Reiche lebt Geist in Geist, lebt Herz in Herz, eine selige Gemeinschaft der Heiligen in Gott, durch Christum unauflöslich vereiniget; und das reine Herz, das wie sein Heiland entsagend, kämpfend, leidend auf Erden geliebt, wird mit ihm auch im Himmel triumphieren und selig sein in Liebe. O! du, für uns Gestorbener, der du uns die Macht erworben hast, dir ähnlich zu werden, sende uns deinen Geist, kehre ein in unser Herz, auf dass, wenn dereinst durch deinen Heiland wir unverbrüchliche Treue bewahrt haben in unserer Erdenheiligung, unserm Erdenwirken, und unserm Erdenlieben, wir auch mit dir ausrufen können: es ist vollbracht! und dir nachfolgen in deine Himmel, deren Pforten dein Tod uns geöffnet hat. Amen!