Dräseke, Johann Heinrich Bernhard - Zum Pfingstfest.
Versammelte Christen!
Auf die Frage: „Habt ihr je Mangel gehabt in meinem Dienste?“ antworteten die Boten des Herrn: „Nie keinen.“ (Luk. 22, 35.)
Gaben sie schon dieses Zeugnis, das zunächst doch nur von ihrem irdischen Bedürfen galt, mit freudiger Rührung: was mussten sie da fühlen, als Petrus am ersten christlichen Pfingstfest, in ihrer aller Namen, vor jener erstaunten Volksmenge, welche die mit ihnen vorgegangene Verwandlung nicht begreifen konnte, hochentzückt ausrief: „Nun er durch die Rechte Gottes erhöht ist und empfangen hat die Verheißung des heiligen Geistes vom Vater, hat er ausgegossen dies, das ihr seht und hört!“ (Apgesch. 2,1-13 und 33.) Vormals hatten sie nie Mangel gehabt; jetzt waren sie auf ewig über Mangel erhoben. In wundervollen Strömen kam auf sie nieder alles und jedes, was sie brauchten für ihren höchsten Lebenszweck, für die Ausbreitung des durch Christum gestifteten Gottesreiches. Einsicht in die Tiefen des Geheimnisses, das sie kund machen; Mut zur Bekämpfung der Feinde, gegen welche sie auftreten; Sprache für die Darstellung des Unaussprechlichen, das sie in aller Welt Zungen und Himmelsstrichen predigen sollten; Kraft endlich aus der Höhe, um zu „bekräftigen das Wort durch mitfolgende Zeichen“ und selbst in verschlossene Gemüter Eingang zu finden: Alles wurde ihnen zu Teil.
Soll dem Menschen gegeben werden, das Teuerste; soll ihm also gegeben werden: so muss er die Fähigkeit haben, zu nehmen. Was gab den Jüngern am Pfingstfeste die Fähigkeit, zu nehmen diesen unausforschlichen Reichtum?
Das lasst uns mit heiligem Ernst fragen, das lasst uns um so tiefer beherzigen, je mehr auch wir uns sehnen zu nehmen, „dass unsere Freude vollkommen sei.“ Das lasst uns heute erkennen und gleich auf der Stelle anwenden: damit auch unser Leben Pfingstfeste feiere, und wir nicht immer bloß zusehen der Taufe, mit welcher Andere getauft werden, sondern selbst „selig uns fühlen durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des heiligen Geistes, welcher ausgegossen ist über uns reichlich durch Jesum Christum, unsern Heiland.“ (Tit. 3,5.6.)
Du, der Du gelöst hast alle Deine Verheißungen an die Deinigen, sie herrlich und heilig gelöst hast und zu lösen fortfahren willst bis ans Ende der Tage, angebeteter Heiland: hilf auch uns, zu empfangen; hilf, dass unsere Dunkelheit fähig werde, Dein Licht aufzunehmen, und unsere Armut fähig, Deinen Reichtum zu fassen, und unsere Schwachheit fähig, durchdrungen zu werden von Deiner Stärke; ja, hilf uns! Denn Alles ist Dein! Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
Eph. 3,19.
„Auch erkennt, dass Christum lieb haben, viel besser ist, denn alles Wissen, auf dass ihr erfüllt werdet mit allerlei Gottesfülle.“
Gleichwie man unter der Liebe Christi zweierlei verstehen kann, meine Zuhörer, nämlich die Liebe, die Christus zu uns hat, und die Liebe, die wir zu Christo haben: so leidet auch unser Text eine zweifache Übersetzung. Er lässt sich erstlich so fassen: „Auch erkennt, dass die Liebe Christi zu uns alles Wissen übersteigt“; und zweitens, nach Luthers Auslegung: „Auch erkennt, dass Liebe zu Christo herrlicher, als alles Wissen ist.“
Um des Zusammenhangs willen, darin die Worte stehen, ziehe ich die letzte Auslegung vor. Mir scheint offenbar, dass Paulus nur von dem Segen rede, welchen die Liebe zu Christo, wo sie herrscht, über das Gemüt ausgießt. Ich beuge,“ schreibt er unmittelbar vorher, meine Knie gegen den Vater unseres Herrn Jesu Christi, dass er euch gebe Christum, zu wohnen, durch den Glauben, in euren Herzen und durch die Liebe eingewurzelt und gegründet zu werden; auf dass ihr begreifen mögt, mit allen Heiligen, welches da sei die Breite und die Länge und die Tiefe und die Höhe (nämlich seiner Herrlichkeit und eurer Seligkeit) und erkennen, dass Christum lieb haben viel besser ist, denn das Wissen, damit ihr erfüllt werdet mit allerlei Gottesfülle.“
Es ist aber nicht bloß der Zusammenhang dieser Stelle, der mich bewegt, die Textworte nicht von der Liebe Christi zu uns, sondern von unserer Liebe zu ihm zu erklären; es ist der Umstand, dass Paulus in mehreren Stellen seiner Briefe dieselbe Ansicht von dem Segen der Liebe zu Christo darlegt. Im Briefe an die Kolosser (2,2.3) bittet er, dass die Herzen doch möchten zusammengefasst werden in der Liebe, zu allem Reichtum des gewissen Verstandes und einer sich vollendenden Einsicht in das Geheimnis Gottes und Jesu Christi, in welchem verborgen liegen alle Schätze der Erkenntnis und Weisheit.“ Und eben so wünscht er im Briefe an die Philipper (1,9), „dass ihre Liebe je mehr und mehr reich werde an allerlei Erkenntnis und Erfahrung.“
Um euch endlich zu überzeugen, wie sehr auch in des Herrn eigenen Verheißungen das Warten auf eine aus der Liebe zu ihm hervorströmende Gottesfülle gegründet sei, erinnert euch an das Wort: Wer mich liebt, der wird von meinem Vater geliebt werden, und ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren“ (Joh. 14,21); oder an den Ausspruch: „Liebt ihr mich, so haltet meine Gebote; und ich werde den Vater bitten, dass er euch einen Tröster gebe, der ewig bei euch bleibe, den Geist der Wahrheit“ (Joh. 14,15 ff.); oder an das Versprechen: „So ihr in mir bleibt, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren.“ (Joh. 15,7.)
Damit haben wir zugleich die Antwort auf unsere Frage: was die Apostel befähigte, erfüllt zu werden mit jener Gottesfülle, die das erste Pfingstfest über sie ausgoss?
Es war nichts, als ihre Liebe zu dem Herrn. Diese Liebe, die in ihm das einzige Heil erkannte, über alle Kleinode des Lebens ihn erhob und in seiner Gemeinschaft zu bleiben so fest entschieden, als eifrig bestrebt war. Diese Liebe, die schon früher fragte: „Herr, wohin sollten wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“; die eben darum alles verlassen hatte und ihm nachgefolgt war; die nunmehr bereit stand, den Kampf auf Leben und Tod mit der Finsternis zu beginnen in seinem Namen, wenn auch alle sollten bluten müssen zu seinem Ruhm. Nichts, nichts machte sie empfänglich, würdig, teilhaftig der heiligen Geisttaufe, als diese Liebe.
Am Pfingstfeste daher muss man unsern Text lesen, meine Zuhörer, um ihn recht durch zu verstehen und ganz aus zu verstehen. Sind wir überall im Stande, zu erkennen, dass Christum lieb haben viel besser, denn alles Wissen ist, und mit allerlei Gottesfülle das Gemüt erfüllt: so müssen wir's am Pfingstfeste sein.
Und so lasst mich denn unsere letzte Betrachtung fortsetzen.
Christum lieb haben, ist viel besser, denn alles Wissen; besser als das höchste Wissen; und besser, als das vielseitigste Wissen. Von dem höchsten Wissen, von dem Wissen um uns selbst, um Gott und Göttliches, gibt es kein auffallenderes Zeichen, keine schönere Frucht, keinen erhabeneren Zweck, als Christum lieb haben. Vielseitiges Wissen aber, das Wissen um Fremdes, um die Welt und was in der Welt ist, hat keinen wahren Zusammenhang, keine himmlische Richtung, keinen segnenden Einfluss, ohne Christum lieb haben. Dies Alles sahen wir bereits und wurden dadurch genötigt, Christum lieb haben, für die Krone alles Wissens zu erklären.
Heute lasst uns nun inne werden, wie Christum lieb haben zugleich die Quelle alles Wissens, sowohl des höchsten, als des vielseitigsten Wissens sei.
I.
Ich behaupte zuerst: Christum lieb haben ist die Quelle des höchsten Wissens.
Ein Wissen zwar von sich selbst, von ihrer überirdischen Natur und von ihrem Zusammenhange mit Gott, hatten die Menschen auch vor Christo. Israel war schon beinahe zwei Jahrtausende lang im Licht himmlischer Belehrungen geweidet; und selbst Heiden wussten, dass Gott sei, denn Gott hatte es ihnen offenbart, damit, dass seine ewige Kraft und Gottheit wird ersehen, so man des wahrnimmt an den Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt.- Wie flach aber war dies Wissen, verglichen mit der Tiefe der Geheimnisse Jesu! Wie bedürftig einer Vollendung waren die in Israel gemachten Anfänge!
Wir leben in der Anstalt, Christen, welche das höchste Wissen des Menschen, das Wissen um Gott und Göttliches, in dieser Vollendung darbietet. Uns, sollte man daher meinen, uns könne dasselbe in dieser Vollendung nicht fehlen.
Warum fehlt es dessen ungeachtet so Vielen? Sie gehören zur Kirche Jesu. Sie sind aufgewachsen in christlichen Staaten. Sie sammeln sich um die Predigt des Evangeliums. Sie gebrauchen die heilige Schrift alle Tage. Gleichwohl schließt sich ihnen das Reich Gottes nicht auf. Nach wie vor find hierüber ihre Begriffe verworren, ihre Urteile schwankend, ihre Überzeugungen wandelbar. Woraus soll man dies erklären?
Es fehlt an dem „Christum lieb haben.“
Damit soll nicht behauptet werden, Christus gelte ihnen gar nichts. Nur ihr Heil erkennen sie nicht in ihm. Ihr Köstlichstes besitzen sie nicht in ihm. Ihr Trachten vereint sich nicht in ihm. Es geht ihnen, wie früher dem Philippus. „Herr, zeige uns den Vater!“ spricht er, „so genügt uns.“ Jesus antwortet; „So lange bin ich bei euch, Philippus, und du kennst mich nicht? wer mich sieht, der sieht den Vater; wie sprichst du denn: zeige uns den Vater?“ (Joh. 14,8.9.)
Das ist es, Teuerste. Wollen wir den Vater sehen; wollen wir tiefere Blicke tun in Gottes heiliges Wesen und in des Menschen gottverwandte Natur; wollen wir fortschreiten in dem höchsten Wissen und herrlich fortschreiten: so hilft das bloße, wenn auch jahrelange Einhergehen neben dem Sohne nicht. Eine Gemeinschaft des Geistes mit ihm muss entstehen: Liebe. Nur die Liebe macht, dass wir
Ihn suchen;
Ihn finden;
Ihm folgen;
Ihm trauen.
1. Christum lieb haben macht zuvörderst, dass wir Christum suchen.
Was ist Liebe, als Zug der Herzen zu einander? Was ist wahre Liebe, als Gefühl einer vorhandenen Seelenverwandtschaft und Streben, diese Verwandtschaft zu bewahren, zu verinnigen durch zärtliches Zusammentreffen in den Grundsätzen, Wünschen und Zwecken?
Liebt ihr denn Christum, wenn ihr keinen Zug nach ihm habt, wenn keine Ähnlichkeit des Denkens, Empfindens und Wollens zwischen ihm und euch stattfindet, ihr auch nicht begehrt, eine solche Ähnlichkeit hervorzubringen? Die ihr aber jenen heiligen Zug fühlt: könnt ihr ihm widerstehen? Und wenn ihr ihm widerstehen nicht könnt: wird er sich bloß aussprechen durch den frommen Wunsch, dass der himmlische Freund noch jetzt persönlich auf Erden wandeln möchte? Wird ein Beisammensein dem Leibe nach euch erforderlich scheinen zu des Heilandes Besitze? Auf dergleichen kann die Liebe verzichten. Ein Wissen aber von einander, ein gegenseitiges Klar, Vertraut und Sichersein: das kann sie nicht aufgeben; darauf ruht sie.
So macht Liebe zu Christo die Erkenntnis Christi nötig. Darum sucht sie ihn und sehnt sich in ihn hinein mit allen Sinnen. Sie „sucht in der Schrift, die von ihm zeugt“; sie sucht in den Tempeln, da seines Namens Ehre wohnt; sie sucht an den Festen, die seine Verdienste um die Menschheit feiern. Sie lässt nicht ab, zu suchen, weil das Wissen von Christo und seiner seligen Gemeinschaft im Reich Gottes, dies höchste Wissen die unumgängliche Bedingung ihrer höchsten Zwecke ist.
2. Christum lieb haben macht sodann, dass wir Christum finden.
Das geht schon daraus hervor, weil die Liebe sich nicht abweisen lässt. Sie sucht, bis sie finde. Sie bittet, bis sie nehme. Sie klopft an, bis ihr aufgetan werde.
Überdies, wie Gleiches zu Gleichem sich gerne gesellt: so mag man auch sagen: Gleich und Gleich versteht sich leicht. Die Liebe setzt eine Verwandtschaft der Naturen voraus, und sie befördert dieselbe. Sie kann nicht entstehen, dafern es nicht Seiten gibt, von welchen sich die Herzen berühren: so kann sie nicht bestehen, ohne die Berührungen zu vermehren. Die Wirkung davon ist unausbleiblich ein vollkommneres gegenseitiges Verständnis, ein allmähliges Einswerden aus Zweien. Dies auf euern Bund mit dem Herrn angewandt: was ergibt sich, meine Zuhörer? Habt Christum lieb: die Liebe lehrt euch, ihn erkennen; das heißt, seine Ansprüche, Gebote, Verheißungen. in seinem Geiste, also richtig, auslegen. Das ist das Erste. Habt Christum lieb: die Liebe lehrt euch ihn erforschen; das heißt, in das dunkle Wort Licht bringen, dem tiefen Gedanken auf den Grund kommen und aus den einzelnen Reden ein Ganzes machen. Das ist das Zweite. Habt Christum lieb: die Liebe lehrt euch ihn erraten; das heißt, auch an Winken genug haben. Ihr denkt weiter, als das Wort reicht. Ihr wisst, was kommen wird, schon beim Anfang. Ihr lest in Mienen und Tränen, folgt seinem Geist auf allen Spuren und schwebt mit ihm auf jedem Hauche des Gefühls. Das ist das Dritte. Habt Christum lieb: die Liebe lehrt euch ihn erlauschen; das heißt, ihr erfahrt durch sie, auch was euch nicht berichtet ward, noch werden konnte. Ihr wisst, wie er handeln würde in Lagen, darin ihr ihn nie saht; wie er urteilen würde über Fälle, die ihm nicht vorkamen; wie er entscheiden würde über euer Tun und Lassen, wenn er euch, wie vormals den Jüngern, auf dem Lebenspfad zur Seite ginge. Das ist das Vierte.
Freilich nur allgemach führt in diese Heiligtümer des Verständnisses, ich möchte sagen: in diese „Tiefen der Gottheit,“ die Liebe ein; aber gewiss! gewiss! Es geht auch im Leben also. Bevor eine Seelengemeinschaft gereift ist, da heißt es: Sage mir, Vater, Mutter, Freund, deinen Willen. Den empfangenen Buchstaben deutet dann die Liebe nach des Geliebten Sinn. hat sie es damit eine Zeit lang glücklich versucht, so lernt sie auch das verhüllte Wort durchdringen, was Andern Geheimnis bleibt. Bald bedarf sie keines Wortes mehr; ein Blick sagt ihr, was sie zu wissen wünscht. Zulegt kann sie des Zeichens völlig entbehren; sie hat sich so in den Freund hineingefühlt, dass sie seine Gedanken weiß, auch wenn kein Zeichen sie verkörpert; auch wenn es gar kein Zeichen für sie gibt.
So macht Liebe zu Christo die Erkenntnis Christi möglich. Wer ihn nicht liebt, begreift ihn nicht. Er redet für einen solchen in unverständlichen Zungen. Ohne Liebe bleibt seine Gemeinschaft eine Torheit. Liebe allein findet den Weg in den Geist durch das Herz. Sie fördert die Erkenntnis des Menschensohnes von Stufe zu Stufe. Sie trägt das Wissen von Christo und seiner seligen Gemeinschaft im Reich Gottes, dies höchste Wissen, in eine Höhe, zu welcher kein Verstand der Verständigen den Pfad weiß.
3. Christum lieb haben macht ferner, dass wir Christo folgen.
Das ist die Natur der Liebe. Der Unlenksamste wird lenksam und der Störrigste geschmeidig, wenn er liebt. Wem das Herz sich ergeben hat, dem untergibt es sich gern. Es ist uns Bedürfnis, zu wollen, wie der Freund will, und zu sein, wie der Freund ist. Es ist ein um so dringenderes Bedürfnis, wenn andere Zeichen der Liebe den Freund nicht mehr erreichen, oder wenn er über Geschenke und Dienste auf immer erhaben steht.
Befinden wir uns nicht vorzugsweise mit dem Sohne Gottes in diesem Fall? Eben darum aber: Wer mich liebt, der wird mein Wort halten.“ An seinem Worte misset die Liebe, was sie fühlt und denkt, wählt und beschließt, sagt und vollbringt. Sie lebt sich in ihren Christum hinein. Und wie nahe muss sie ihm dadurch kommen! Wie fähig muss sie werden, in seine Tiefen sich zu versenken! Wie muss sie die Wahrheit seiner Lehren, wie muss sie die Heiligkeit seiner Vorschriften, wie muss sie die Vortrefflichkeit seines Beispiels, wie muss sie die Herrlichkeit der Blicke, die er seine Auserwählten in die Zukunft tun lässt, nun erst an sich selber erfahren und „inne werden, dass er, dem sie folgt, von Gott sei!“
So macht Liebe zu Christo die Erkenntnis Christi lebendig. Wer sich in das Evangelium nicht hinein handelt; wer davon nur lesen und hören, reden und schwatzen will: der wird nicht hineindringen; den kann keine Ahnung ergreifen, welche da sei die Länge und die Breite, die Tiefe und die Höhe.“ Lasst uns wandeln in der Liebe, gleichwie Christus uns hat geliebt.“ Dann tritt unser Wissen von ihm und seiner seligen Gemeinschaft im Reich Gottes, dies höchste Wissen, aus dem Gebiete des kalten Denkens in das Gebiet des warmen Lebens. Unsere Begriffe und Erwartungen von dem himmlischen Freunde nehmen Gestalt an; und weil das Wissen ein Leben geworden ist, wird das Leben ein Wissen; eine Reihe von Zeugnissen des höchsten Geistes an unserem Geiste, „dass wir Gottes Kinder sind.“
4. Christum lieb haben macht endlich, dass wir Christo trauen.
Liebe und Zuversicht sind unzertrennliche Gefährten. Die Liebe glaubet Alles.“ Sie braucht nicht zu sehen und ist dessen ungeachtet gewiss. Der Augenschein kann mit ihren Überzeugungen sogar streiten, sie lässt gleichwohl diese nicht fahren und hält sich lieber von jenem getäuscht. Je höher der steht, dem sie angehört: desto demütiger, folglich unbedingter, rechnet sie auf ihn. Nun mag sie immerhin nicht begreifen, was er fordert: sie leistet es dennoch ohne Bedenken. Nun mag sie immerhin nicht umfassen, was er verheißt: sie ergreift es dennoch mit entzückender Hoffnung.
Diese Züge, Christen, schildern eure Liebe zu Jesu. „Habt eure Lust am Herrn; dann fehlt euch auch die Gewissheit nicht: Er wird mir geben, was mein Herz wünscht.“ Die Liebe glaubt sich hinein in Christum, den Nimmertrügenden. Nichts ist argwöhnischer gegen fremdes Wort als Selbstsucht; diese trauet Niemandem. Nichts ist abgeneigter gegen fremde Leitung, als Eigendünkel; dieser wähnt sich über Jedermann erhaben.
Habt eure Lust am Herrn: von solchen Regungen werdet ihr nicht wissen. Liebe zu Christo macht die Erkenntnis Christi sicher, zuverlässig, unwidersprechlich. „Es ist, wie er sagt; es soll sein, wie er gebietet; es wird werden, wie er verheißen“: darauf lebt und stirbt die Liebe zum Erlöser der Menschheit. So wird das Wissen von ihm und seiner seligen Gemeinschaft im Reich Gottes, dieses höchste Wissen, gereinigt von allen Beimischungen menschlichen Wahns, gestärkt bei allen Erschütterungen menschlichen Unglaubens, geschützt gegen alle Anfechtungen menschlichen Zweifelmutes. Und sieht man sie dastehen, Gläubige dieser Art, mit ihrem Wissen um das Höchste, wie es offenbar geworden ist in Christo: da erscheinen sie wie eine Felswand, an welcher zerscheitern müssen alle Ränke und alle Gewalten der Finsternis.
Durchwandert nun die Geschichte der Apostel, da findet ihr Alles bestätigt.
Da seht ihr offen und in heiligen Strömen rauschend die Quelle des höchsten Wissens: denn da seht ihr Menschen, die Christum lieb haben, die Christum über Alles lieb haben, die Christum ohne Wanken und in Not und Tod lieb haben. Diese Liebe treibt sie, ihn zu suchen; und in Allem, was sie wünschen, begehren sie seine Gemeinschaft. Diese Liebe lehrt, ihn zu finden; und in Allem, was sie vornehmen, erstreben sie sein Reich. Diese Liebe stärkt sie, ihm zu trauen; und in Allem, was ihnen gewiss ist, bestimmt sie sein Wort. Solche Menschen musste sie überströmen, die Quelle des höchsten Wissens. Es musste kommen, wohin es kam, dass vor ihrer Schwachheit zurückwich die Macht der Erde und vor ihrer Torheit zu Schanden wurde die Weisheit der Welt. Aus dem Grunde musste es so kommen, weil es bei ihnen hieß:
II.
Wir haben nun noch mit Wenigem darzutun, wie Christum lieb haben als Quelle zugleich des vielseitigsten Wissens erscheint.
Betrachtet auch von dieser Seite die Apostel.
Ihre Geschichte zwar gibt uns kein Recht, anzunehmen, dass sie jemals eine ausgebreitete Gelehrsamkeit gewonnen hätten; oder dass sie am Pfingstfest auf einmal in Stand gesetzt wären, Alles zu wissen. Verwandelt aber, das liegt am Tage, hatte sie der Geist. Zu Gegenständen des allgemeinen Erstaunens hatte er sie gemacht. Blicke in die Gottheit und in die Menschheit hatte er sie tun lassen, die ihnen bis dahin fremd gewesen. Mut für die Predigt vom Gekreuzigten hatte er ihnen erweckt, desgleichen sie früher nie gefühlt. Die Gabe, sich mitzuteilen über das Höchste, und selbst in fremden Sprachdialekten vor allerlei Volk zu reden, hatte er ihnen verliehen, davon sie keinen Begriff gehabt. Eine Geschicklichkeit, Menschen von dem verschiedensten Stand und Wesen, Gelehrte und Einfältige, Heilsbegierige und Verstockte, mit Erfolg zu behandeln und vor Fürsten und Knechten sich gleich gut an ihrem Platz zu fühlen, hatte er ihnen entfaltet, die sie vormals so wenig gekannt, dass ihre Unbehilflichkeit und Schwerfälligkeit ihnen gar oft zum Vorwurf geworden war. Genug, in bewundernswürdigem Maße geschah ihnen, was Paulus nachher seinem Timotheus wünschte: „Der Herr wird dir in allen Dingen Verstand geben.“ (II. 2,7.) Mehr und weniger konnten sie insgesamt, mit dem Vielseitigsten unter ihnen, mit Paulus rühmen: „Ich bin in allen Dingen und bei allen Dingen geschickt; ich vermag Alles durch den, der mich mächtig machet, Christus.“
Wir sind nicht Apostel, meine Zuhörer, und so bedürfen wir nicht in unserer Lage und für unsere Zeit, was Jenen der Herr gab. Aber verleugnen seine Natur kann es nicht, das segensreiche: Christum lieb haben
Schließt sich uns mit der Liebe zu Christo des höchsten Wissens Quelle auf: so beginnt durch diese Liebe die Quelle auch eines vielseitigen Wissens für uns zu fließen. Die Liebe zu Christo öffnet uns das große Reich des Wissenswürdigen dadurch: dass sie
Unsere Lust erhöht;
Unsere Kraft entwickelt;
Unsere Ausdauer stärkt und
Unsere Hilfsmittel vermehrt.
1. Haben wir Christum lieb: dann wünschen wir zuvörderst nichts sehnlicher, als zu seiner Verherrlichung beizutragen.
Dazu aber tragen wir an uns selbst bei, wenn wir, auch durch Kenntnisse uns ausbilden und durch Nachdenken und Unterricht alle die Vorzüge erwerben, deren wir fähig sind. Dazu tragen wir bei unter den Menschen, wenn wir durch mannigfaltiges Wissen ihre Achtung und ihr Zutrauen gewinnen und immer tüchtiger uns machen, für die Zwecke des Gottesreichs von dem Heilande gebraucht zu werden. - Wie der natürliche Mensch einzig darum lernt und viel lernt, dass er das irdische Brot und die vergängliche Ehre finde: so will der Gottesmensch hauptsächlich darum viel Nützliches wissen und verstehen, dass es diene zum Preise seines erhabenen Meisters. Diesem zu gefallen, für diesen sich zu bereiten zu einem Werkzeuge, das Wachstum an diesem, der das Haupt ist, auf allen Seiten zu fördern: deshalb lernt er und glaubt nie genug lernen zu können.
Christum lieb haben, erhöht zu allem Wissenswerten unsre Lust.
2. Haben wir Christum lieb: dann werden wir zugleich fähiger, viel Kenntnisse aufzunehmen.
Indem wir durch Christum in die Tiefen unseres eigenen Wesens geleitet werden, ergründen wir die Anlagen, welche Gott uns gegeben hat. Wir fühlen inniger unsere Würde. Wir beurteilen richtiger die Zwecke unseres Daseins. Wir lernen uns Größeres zutrauen. Wir gewöhnen uns, Alles genau zu nehmen. Wir haben an den höchsten Angelegenheiten der Menschen unsern Sinn geübt, geschärft, geweiht. Wir sind jener Trägheit entwachsen, die sich nicht regt, ohne für Güter des Augenblicks. So fehlt uns weder die Selbsterkenntnis, noch die Selbstschätzung, weder die Klarheit, noch die Ruhe, weder der Mut, noch die Demut, weder die Uneigennützigkeit, noch die Lebendigkeit, die erforderlich sind, wenn man Vieles mit dem Geiste umfassen lernen will.
Christum lieb haben, entwickelt zur Einsammlung reicher Kenntnisse unsre Kraft.
3. Haben wir Christum lieb: dann zeigen wir uns überdies beharrlicher, das zu verfolgen, was in der Wissenschaft weiter führen kann.
Nicht Allen macht die Natur leicht, viel zu lernen. Unstreitig ist keiner, dem sie Alles leicht machte. Hindernisse der äußeren Lage, des Ortes, des Standes, des Vermögens, des Berufsgeschäfts, kommen hinzu, der Wissbegier Fesseln anzulegen und ihre Fortschritte zu erschweren. Für schlaffe Naturen ist also dergleichen durchaus nicht. Drang muss da sein, wenn für ein ungewöhnliches Wissen und Geschicktsein das Herz aufglühen und bei Allem, was von Außen erkältend einwirkt, lebenslang glühend bleiben soll. Diesen Drang können nun zwar Eitelkeit, Ruhmbegier, Habsucht und Herrschlust geben. Er kann aber auch aus Liebe zu Christo hervorgehen: dann erst ist er recht zuverlässig, weil er dann erst recht lauter ist. Was will den ermüden, der von Christo begeistert; was will den niederhalten, der von Christo emporgehalten; was will den zurückschrecken, der von Christo ermutigt wird.
Christum lieb haben, stärkt zur Vollendung dessen, was dem Geiste zum Schmuck gereichen mag, unsere Ausdauer.
4. Haben wir Christum lieb: dann finden wir endlich allenthalben begünstigende Schulen unserer Bildung.
Bei der Aufmerksamkeit auf alles Schöne, welche Christus in uns weckt, verschmähen wir nicht nur gar nichts Lehrreiches und Forthelfendes. Wir entdecken auch Quellen des Unterrichts, die für Andere nicht da sind. Wir lernen beim Greise und beim Kinde. Wir lernen vom Freunde und vom Feinde. Wir lernen aus den Schriften der Toten und aus dem Umgang mit den Lebenden. Wir lernen in der Natur und in der Kirche; in Hörsälen und in Kunsttempeln; in Trauerhäusern und auf Lustgelagen. Ein Herz voll heiliger Christusliebe könnte Felsen der Wüste in Springbrunnen der Weisheit verwandeln. Fürwahr, Christen! das ganze Leben von einem Ende zum andern, es lehrt; Alles lehret, was uns umgibt. Nur Augen zum Sehen und Ohren zum Hören sind nötig, und jener Sinn, der die Stunde auskauft und die Gelegenheit nutzt. Christusliebe öffnet Augen und Ohren, Vernunft und alle Sinne. Durch sie erfahren wir mehr und immer mehr, was der Mensch lernen kann und wie tiefe Bedeutung in dem alten Wort liegt, welches die Kunst lang und das Leben kurz nennt.
Christum lieb haben, vermehrt, zur Verherrlichung des Lebens durch die Kunst, unsere Hilfsmittel.
Dürfen nun Menschen, die Christum nicht lieb haben, die ihn nicht lieb haben „von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und aus allen Kräften“: dürfen solche sich wundern, wenn das Licht ihnen nicht aufgehen will? Licht ist nur in der Liebe. Oder, wenn die Tat ihnen nicht gelingen will? Kraft ist nur in der Liebe. Oder, wenn der Glaube bei ihnen nicht Wurzel schlagen will? Überzeugung ist nur in der Liebe. Oder, wenn das Herz in ihnen nicht seines Wissens froh werden will? Freudigkeit ist nur in der Liebe. „Herr! was ist es, dass du uns dich willst offenbaren und nicht der Welt?“ sprach ein Jünger. Jesus erwiderte: „Wer mich liebt, der wird mein Wort halten und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen.“ (Joh. 14,23.)
Christum lieb haben: das ist es. Das war am ersten Pfingstfest die Quelle alles Wissens; es gibt auch an diesem Pfingstfest keine andere, noch bessere.
O! dass ich sie wecken könnte in jeder Brust, die heilige Christusliebe! Dass ich sie anhauchen könnte bei euch und bei mir zu lichter Lohe! Dass ich besonders jene Alle, die in diesem Jahre den heiligen Geist empfangen haben, gleichwie wir, dass ich sie abreichen könnte und ihnen zurufen: Kindlein! Bleibt in der Liebe, auf dass ihr erfüllt werdet mit allerlei Gottesfülle. Dass ich das könnte, Christen! Denn auch wir bedürfen Gottesfülle, einer reichströmenden und nie versiegenden Gottesfülle.
Es erwarten uns wohl keine Proben, dergleichen die ersten Zeugen abzulegen hatten. Aber Anfechtungen, die da versuchen unsere Liebe, ob sie echt; und unsern Glauben, ob er wohlbegründet; und unsern Eifer, ob er uneigennützig; und unsere Freudigkeit, ob sie unbeweglich sei: solche kommen auch uns. D, dass wir sie beständen durch die heilige Christusliebe und ihre unaussprechlichen Gaben!
Zu Dir, der uns den Sohn gesandt, erhebt sich betend unser Herz.
Wecke, Vater! die Liebe, welche in ihm uns mit Dir vereinigen, welche aufs Neue für seine Gemeinschaft uns heute taufen soll.
Walte in Allen, die durch Christum Dich Vater nennen. Lass Deinen Geist sich regen in unserem Volke. Lass ihn sich regen in dieser Stadt. Lass ihn sich regen in unseren Oberen, in unseren Bürgern, in unseren Kirchen, in unseren Schulen, in unserem häuslichen Stillleben, in unserer öffentlichen Tätigkeit.
Weihe mit Deinem heiligen Geiste die Liebe der Gatten und die Erziehung der Kinder und die Bande der Verwandtschaft in allen Familien unseres Staates. Segne mit dem Geiste der Freude das Ehepaar dieser Gemeinde, dem Du ein teures Pfand ihrer Zärtlichkeit anvertrauet hast, und lass Mutter und Kind von uns empfohlen sein Deinem gnädigen Schutze. Begünstige, was in Hoffnung Deiner Gnade für unsere Wohlfahrt unternommen wird. Erweise Dich am Künstler, der Dich verherrlicht und am Kaufmanne, der Dich nicht versucht, am Landwirt, der auf Dich wartend sein Feld baut und am Seefahrer, der, Dir vertrauend, über Abgründen schwebt. Begleite, Du treuer Hort, alle von hier gegangenen Schiffe und ihre Mannschaft, dass ihre Reise Deine schirmende Huld erfahre und ihre Rückkehr Deinem anbetungswürdigen Namen lobsinge.
Erbarme Dich, Vater, unser Aller.
Und dass Du mit Deinen köstlichen Geschenken uns überströmen könnest, hilf uns, o wir bitten Dich, hilf uns „Christum lieb haben.“ Amen.