Dräseke, Johann Heinrich Bernhard - In uns, neben uns, über uns erhalten wir die Lehre: Wir sind unsterblich.
Am ersten Ostertage 1803 gehalten.
Heilig sei uns und deiner ganzen glücklichen Gemeine dein Triumphtag, auferstandener Heiland! Er ist das Fest unserer Unsterblichkeit, er ist das Siegel unserer seligsten Hoffnungen, er ist das Vorbild der wonnevollen Zukunft, die auch für uns einst erscheinen wird.
O dass Alle, die sich die Deinigen nennen, den Trost empfinden mögen, der in diesem Tage liegt! Dass Keiner den Dank dir schuldig bleibe, den du verdienst, Herold des ewigen und bessern Lebens! Dass es aus allen Herzen und von allen Lippen wie Siegesgesang erschalle: „Tod, wo ist dein Stachel? Wo sind deine Grauen, Verwesung? Gelobt aber sei Gott, der uns den Sieg gegeben hat durch Jesum Christum!“
Es gibt Wahrheiten, meine Geliebten, die man auf der Stelle einsieht, deren Gründe man fühlt, so wie man sie hört, und die man denn auch weiter nicht in Zweifel zieht, weil man mit ihnen ein für allemal fertig ist. Es gibt aber auch solche, die, weil sie im Kreise sinnlicher Wahrnehmung nicht liegen, und durch Erfahrung dem Staubbewohner nicht geliefert werden, immer eine dunkle Seite behalten; Wahrheiten, die nur geglaubt, nicht aber in ein ganz und Jedermann befriedigendes Licht gesetzt, nicht völlig erwiesen, und über alle Einwendungen erhoben werden können; Wahrheiten, mit denen man niemals ans Ende kommt, und zu denen man folglich, wie oft man sie auch schon geprüft habe, doch mit immer neuer Teilnahme zurückkehrt.
Eine der vorzüglichsten unter diesen ist die Wahrheit: wir sind unsterblich! Ihr wollen wir diese Stunde weihen. Sie lasst uns mit hoher Wonne hervorrufen. Alles, was sie für unser gläubiges Gemüt bestätigen kann, sei uns teuer und willkommen! In uns, neben uns, über uns werden wir dann Gründe für sie, Erinnerungen an sie, Vorbilder von ihr erblicken.
Halten wir so Ostern, dann freuest du dich unser, verherrlichter Sohn Gottes; dann ist es dein Geist, der sich unter uns wirksam zeigt; dann weilst du mit Wohlgefallen in unserer Mitte; dann hörst du es gern, wenn wir im Vorgefühl unsers himmlischen Erbteils jetzt einmütig jauchzen:
Jesus lebt, mit ihm auch ich rc.
Mark. 16, 1-8. (Als der Sabbat rc).
Hätten die Freundinnen Jesu, die hier nach seinem Grabe wandern, das, was wir jetzt wissen, gewusst, und unsere glücklichen Überzeugungen von der Fortdauer des menschlichen Geistes gehabt: sie wären nicht in Bestürzung geraten, als sie den Stein vom Eingange der Gruft abgewälzt erblickten. Eine freudige Ahnung des Geschehenen würde sie durchzittert; sie würden mit ungeduldiger Eile der Ursache nachgeforscht; sie würden vor dem Jünglinge in der Felsengrotte und vor seiner Nachricht sich nicht entsetzt; sie würden jedes Wort mit namenloser Wonne aufgefasst; nichts anders erwartet1), im höchsten Ungestüm der überraschten Liebe um das Nähere ihn befragt, und der ganzen Gewalt ihrer wunderseligen Empfindungen sich dann überlassen haben. Aber wir sehen es, Furcht ist ihr herrschendes Gefühl. Schon als sie der Stätte sich nur nähern, wandelt ein geheimes Grauen sie an. Der Fremdling setzt sie vollends in Schrecken. Zwar muntert er freundlich sie auf; aber selbst mit der frohen Versicherung, die er ihnen zu geben hat, gelingt es ihm nicht, ihre Stimmung zu verändern. Sie eilen hinweg, und nicht einmal zu einem Worte für die, welche ihnen begegnen, lässt die Furcht ihnen Zeit. wohl uns, Geliebte! wir sind vertrauter, als sie es sein konnten, mit den Gefilden der Ewigkeit. Wir fühlen, dass wir dem Grabe nicht angehören, wie könnten wir vor seiner Nähe zittern! Wir ahnen das herrliche Los, das bei der Auflösung dieser Hülle uns bevorsteht; denn in uns, neben uns, über uns erhalten wir die Lehre: wir sind unsterblich.
Diesen Gedanken habe ich ergriffen, um ihn uns heute vorzulegen. Möge er den Weg zu eurem Herzen finden, und über alle eure künftigen Tage Frieden und Freude verbreiten! In uns, neben uns, über nns erhalten wir die Lehre: Wir sind unsterblich.
- In uns, durch das redende Gewissen;
- Neben uns, durch den erwachenden Frühling;
- Über uns, durch den gestirnten Himmel.
Dies ist es, was ich behaupte, und nun weiter entwickeln will. In der sinnlichen Welt besteht eine feste Ordnung, nach welcher alle ihre Erscheinungen bestimmt und unwandelbar erfolgen. Auch unser Körper fügt sich, als ein dem Irdischen verwandtes Wesen, dieser ewigen Regel der Natur. Nur den Geist bindet ihre Gewalt nicht; er ist frei. Zwar beugt auch er sich vor einem Gesetze; aber es ist ein anderes. Es heißt das Gewissen, oder, nach Paulus, das Gesetz im Gemüte2).
Dies empfingen alle Menschen. Auch die es nicht gehörig erkennen, verstehen, befragen, besitzen es gleichwohl. Selbst in den Herzen derer, die durch keine göttliche Offenbarung näher belehrt wurden, steht es da, eine lebendige Tafel3). Es ist mithin Grundgesetz im großen Staate der Menschheit, weil ohne Unterschied Jeder es anerkennen muss. Es ist ein unvertilgbares Gesetz, weil durch alle Betäubung gegen seinen Ausspruch doch Niemand bewirken kann, dass es ewig schwiege, oder nach langer Stille nicht irgend einmal wieder seine Stimme erhöbe. Es ist dabei ein höchst ehrwürdiges Gesetz durch seinen Ursprung; denn es wird nicht erst durch fremden Unterricht in uns hineingetragen, es wächst, eine heimische Pflanze, im stillen Herzen; es reift am Strahle ernster Betrachtung; es entwickelt sich mit der Vernunft, und gibt sich kund, so wie diese erwacht. Es ist die Stimme des heiligen Unsichtbaren, der uns, lehrend und liebend, begleitet.
Was er von uns verlangt, wissen wir. Abscheu am Unrecht, Liebe zum Guten, Erfüllung der Pflicht, Tätigkeit fürs Gemeinbeste, Fleiß in der Heiligung, Kampf gegen alle Hindernisse der Tugend, und Fortschreiten zum Besseren, zum Vollkommenen, zu Gott; - und weil dies große Ziel erreicht nimmer werden kann, weil wir dem Erhabensten uns nur zu nähern vermögen, weil eine solche Annäherung an ihn ohne Ende sich fortsetzen lässt, weil wir, auch nach Jahrhunderten, nach Jahrtausenden nie dahin kommen, von uns selbst mit Recht zu behaupten: jetzt umfasse ich alle Wahrheit, jetzt besitze ich die höchste Tugend, jetzt habe ich der Summe dessen, was ich Gutes gewirkt, durchaus nichts mehr beizufügen, ein unaufhörliches Wachsen in der Ausbildung unseres Geistes und Herzens, ein ewiges Ringen weiser und besser zu werden, dies fordert es, das heilige Gesetz, von dem ich rede.
Dass in unsern gegenwärtigen Verhältnissen, wo all' unser Beginnen Stückwerk ist, diesem Verlangen noch nicht genügt wird, sagt die Erfahrung. Dass ihm hier nicht und nirgends, jetzt nicht und niemals, bis zu dem Grade hinauf, wo nun nichts weiter zu lernen und zu üben wäre, Genüge geschehen kann, lehrt die Vernunft. Für Bestrebungen, die ihrer Natur nach unaufhörlich stattfinden müssen, reicht keine Zeit hin. Auch fühlt Niemand inniger, als wer seine Veredlung so recht mit der ganzen Kraft des guten Willens betreibt, dass er mit dieser Arbeit nie an sein eigentliches Ende gelange. So wie man mehr lernt, wird man lernbegieriger. So wie man Größeres leistet, macht man an seine Werke auch größere Ansprüche. So wie man durch vielseitigen Gebrauch das Maß seiner Kräfte erweitert, dehnt man zugleich den Kreis seiner Entwürfe und seiner Tätigkeit aus. So wie man endlich höhere Stufen des Trefflichen erklimmt, so gewinnt man überhaupt würdigere Begriffe von Vollendung und ein erhabeneres Urbild des Strebens und der Liebe. Darum bleibt das Gesetz, das solche Anwendung des Daseins gebietet. Es wird nicht aufgelöst, weil es niemals erfüllt wird. Immer wiederholt es seine Forderungen. Ewig dringt es auf Gehorsam. Und in dem Maße, als wir sorgfältiger, pünktlicher, vollständiger seinen Willen beachten, wird es strenger und gebietet es mehr. Was bleibt also übrig, wenn in der Zeit seine Ansprüche nicht befriedigt werden können, als der Glaube an ein Dasein, das über die Zeit hinausreicht? Wer unaufhörlich wirken soll, der muss auch unaufhörlich leben. Wer die Aufgabe erhielt: Du sollst heilig sein, wie Gott heilig ist4), der empfing auch zugleich die Versicherung: „Du hast hier keine bleibende Stätte, dein Wandel ist im Himmel“5). Ohne das Letzte ist das Erste nicht gedenkbar. Vollkommen werden, ohne unsterblich sein, ist der abenteuerlichste Widerspruch in sich selber.
Oder kann der Allweise das Eine fordern, indem er das Andere verbietet? Kann er die zur Erfüllung seines Wortes notwendige Frist uns vorenthalten? Kann er uns zumuten, dass eine auf die Ewigkeit angelegte Unternehmung wie im Umsehen von uns abgetan werde? Oder liegt ihm vielleicht an der Befolgung des Gesetzes nichts? Und glaubte er es nur so zum Zeitvertreib geben zu müssen??
In einen Irrgarten der entsetzlichsten und frevelhaftesten Ungereimtheiten geraten wir, meine Brüder, wenn wir den Trost des ewigen Lebens fahren lassen. Es scheint dann nur schöne Ordnung und planvoller Einklang der Kräfte und Wesen in der uns umgebenden Natur zu sein; im Grunde spielt überall, bald mehr, bald weniger glücklich, der blinde Zufall. Es gibt nirgend eine zweckmäßige Anlage, weil der Mensch, der höchste aller Zwecke in der sichtbaren Welt, ein Inbegriff von Zwecklosigkeit ist. Wir stehen im Widerspruch mit uns selbst, und bemühen uns umsonst das verworrene Leben zu entziffern. Täuschung, Blendwerk, Gaukelspiel sind die kühnsten Gedanken und die edelsten Gefühle. Es lebt Keiner ein fröhlich Leben, als wer über den Wahn von Recht und Unrecht sich hinwegsetzt. Die dennoch, um ihres vorgeblichen Gewissens willen, etwas aufopfern, sind eitel Toren. Mit all' ihrer Frömmigkeit und oft sogar durch dieselbe werden sie elend; und kann dann ein Gott sein?
Doch, wohl uns! Nie kommt es mit uns zu solchen Zweifeln, geliebte Brüder, wenn wir nur des Gesetzes uns bewusst bleiben, das eine unaufhörliche Veredelung unseres Wesens von uns verlangt. Es kommt noch weniger dahin, wenn wir diesem Gesetze wirklich folgen. Je mehr dann die Summe unserer Kenntnisse zunimmt; je leichter die betrachtende Seele sich auf höhere Gefilde versetzt; je reiner von unedlen Leidenschaften unser Herz, je würdiger unsere Gesinnung; je lautrer bei allem Tun und Lassen unsre Absicht, je pflichtmäßiger von jeder Seite und in allen seinen Äußerungen unser ganzes Betragen wird; um so tiefer fühlen wir, dass wir unsterblich sind. Die Tugend gibt uns hier jenen Glauben, der, wie ein Strahl von oben herab, das dunkle Leben beleuchtet. Aus „gutem Lande“, aus einem Herzen, das sie gereinigt und befruchtet hat, keimt eine Überzeugung von unserer ewigen Fortdauer auf, für die wir von außenher keine Beweise erhielten und keine gebrauchen, deren Wahrheit uns jeder Tag unter heiligen Schauern verkündigt, und die uns eben darum durch keine Gewalt der Erde und durch kein Zusammentreffen von Schicksalen entrissen werden kann. Erben Gottes und Miterben Jesu! Was bedürfen wir mehr? Nur, was solche Gegenwart ahnen lässt, kann die Zukunft uns bringen, und nur, wie das Verdienst war, kann der Lohn sein. Unsere Kräfte deuten auf unsern Beruf. Unser Beruf zeugt von unserer Würde. Unsere Würde glänzt in unsern Werken. Unsere Werke bürgen für unsere herrliche Erhebung. Und wie Manches wir auch noch nicht wissen von dem, was wir sein werden: das wissen wir:“ Wir werden ihm gleich sein, denn wir werden ihn sehen, wie er ist“6) Nein, so sagen wir nun mit edlem Stolze: „Nein, sie genügt mir nicht, diese kleine Erde; ich fühle mich für sie zu groß. Ich soll ihre Freuden und Güter um des Gewissens willen verschmähen lernen; ich vermag dies, sobald ich will; ich kenne etwas Höheres und Besseres als sie; so kann ich von Erde nicht sein. Ich habe den Weg, den das Gesetz in meinem Gemüte mir als den einzig rechten anweist, betreten: ich gehe ihn mit Freuden; ich bin fest entschlossen, ihn fortzuwandeln unter dem Beistand meines Gottes; wie? und er selbst sollte mir dies verweigern wollen? Kräfte, die ich so glücklich zu üben begann und so gern noch vollkommener ausbilden möchte, sollten auf ewig ungenutzt verloren gehen? Anstrengungen, die mir so manchen Kampf kosteten, sollte ich umsonst versucht haben, und nun, da sie mir leichter und lieber werden, sie abbrechen für immer! In unermesslicher Weite hätte ich das Ziel meines Strebens nur erblickt; ihm mich zu nähern, ihm mich ewig und mit heiliger Sehnsucht zu nähern, benähme der Tod mir jedes Mittel?
Nein, mich kannst du nicht vertilgen, ewige Weisheit! Ich bin schon zu viel geworden, um wieder nichts zu werden. Modere, was Staub ist! Gehe unter im Strom der Zeit, was in der Zeit seinen Zweck erreicht! Falle zusammen, du befreundete Hütte, die ich hier meinen Körper nannte; und ihr Denkmäler der Vergänglichkeit alle, die ihr mich umringt, werdet aufgelöst und verschwindet! Ich teile euer Los nicht. Mir blüht eine ewige Jugend. Ich finde, wenn ich diesen Schauplatz meines Wirkens verlasse, einen andern, wo ich den Faden des Lebens, der mir hier entfiel, froh wieder aufgreifen, wo ich das begonnene Werk fortsetzen, wo ich dem großen Zwecke meines Daseins mich glücklicher und freier und dann ganz und ewig widmen mag.“
Und so ist es, teure Brüder! Wer ewig Gutes wirken soll, der muss auch ewig leben; Bestimmung zur Tugend, ist zugleich Bestimmung zur Unsterblichkeit. Wer fleißig Gutes gewirkt hat, der verdient ewig zu leben;. Kämpfer um Tugend kann nur die Krone der Unsterblichkeit belohnen. Als Menschen sind wir alle berufen, als veredelte Menschen sind wir außerdem auch noch würdig, unsterblich zu sein.
Darf uns nun, wenn die Sache an sich so gewiss ist, das Wie beunruhigen? Ich denke, dies können wir dem, der Alles vermag, getrost überlassen. „Er spricht, so geschieht es; er gebeut, so steht es da.“ Wir können ja auch von dem, was täglich um uns her in der allwirksamen Natur vorgeht, sobald es auf das Wie ankommt, so wenig begreifen. Wir müssen da ebenfalls vor der Weisheit des Unerforschlichen unendlich oft verstummen, und in Demut fühlen: Wer hat „des Herrn Sinn jemals erkannt?“7)) Warum sollten wir hier denn alles zu ergründen verlangen? Es8) ist kein größeres Wunder, dass wir noch nach dem Tode da sein werden, als dass wir jetzt aus dem Nichts hervorgerufen da sind. Der die Menschen, als ihrer Tage noch keiner da war, allmächtig schuf, der kann auch, wenn sie für diese Erde länger nicht leben sollen, allmächtig sprechen: „Kommt wieder, Menschenkinder!“9) Wie er's tun möge, liegt außer dem Kreise unsres Sorgens und Begreifens.
Gleichwohl lässt er auch hier, der freundliche Vater, zur Schwachheit seiner Kinder sich herab, und erläutert uns dies wie alljährlich vor unsern Augen. Nicht in uns allein, durch das redende Gewissen, auch neben uns, durch den erwachenden Frühling erhalten wir die Lehre: Wir sind unsterblich.
Die Totenstille des Winters ist gewichen, und ein neues Leben regt und bewegt sich durch alle Pulse der verjüngten Schöpfung. Wo das Ganze erstorben zu sein schien, da vereinigen sich jetzt tausend Kräfte zu rascherer Tätigkeit. Wo eine kalte Hülle von Schnee, wie ein trauriges Leichengewand, die einsamen Fluren deckte, da wallen jetzt grüne Saaten, da sprießen duftige Kräuter, da entfalten sich fröhliche Blumen, da knospet die werdende Frucht, da keimt unter vielgeschäftigem Fleiße die Pracht des Sommers, und des Herbstes belohnende Hoffnung. In der lebendigen Flut spiegelt sich reiner die hohe Sonne; in dem erwärmten Boden wimmeln munterer zahllose neue Geschöpfe; in der mildern Luft ertönt lieblicher der Vögel frohes Lied; auf der ganzen wunderschönen Erde fühlt alles, was lebt, sich glücklicher als zuvor.
O wahrlich, für das Auferstehungsfest des Weltheilandes, für Erinnerungen an unsre Unsterblichkeit haben wir im ganzen Jahre keine passendere Zeit als diese. Er erwachte aus dem Schlummer des Todes; auch hier ist Erwachen zu neuem Leben, zu neuem Schmucke, zu neuer Freude, zu neuer Tätigkeit.
Und wir, die wir viel mehr sind, als Alles, was uns hienieden umgibt10), wir, denen kein Gegenstand der ganzen sinnlichen Schöpfung gleichkommt, wie glänzend und groß er sei, wir allein entschlummerten sterbend, um nie wieder zu erwachen?
Was das Allmachtswort des höchsten Welturhebers zwar unbegreiflich, aber doch unwidersprechlich und vor Aller Augen an der leblosen Natur tut, das sollte er an uns nicht tun wollen oder nicht können? Die Erde hat der Frühlinge so viele, und wir hätten einen nur, unsere goldene Jugendzeit? Wenn nicht alles uns täuscht, wenn wir uns selber verstehen, wenn wir überall etwas wissen, so sind wir in der sichtbaren Ordnung der Dinge die ersten Wesen, und der höchste Zweck unsers Daseins ist zugleich der oberste aller Zwecke in der gesamten Natur; wie, und wir sollten untergehen, indem das Leblose um uns her fortdauert? Diese Erde sollte sich mit jedem Frühjahr erneuern, und wir, ihre verständigen Bewohner! sollten auf ewig in ihrem Schoße schlummern!?
Nein, hochbeglückte Brüder, ein Vorbild, ein lehrreiches, bedeutsames Vorbild unsres Schicksals ist die im Lenz erwachende Natur. Eilt denn, ihr Stunden. Beflügle dich, Zeit! Schwinde, kurzer Lebenstag! Mache dich auf, rauer Herbstwind des Todes und entblättere den alternden Stamm! Aus seiner Wurzel grünt ein unverwelkliches Reis auf; in bessere Gefilde verpflanzt es die sorgsame Hand des Vaters, und seiner Schönheit himmlische Blüte umhaucht der Odem eines ewigen Frühlings.
In besseren Gefilden!!
Aber wo sind sie? Wo mag es liegen, das selige Land, wo dem Schmerze keine Träne mehr fließen, ein festeres Band alle Guten vereinigen, und die trauernde Liebe sich wieder freuen, auf ewig freuen soll? Wo in Gottes herrlicher, großer Welt?
O schaut empor, schaut in einer von jenen heitern Nächten, wie wir sie eben in dieser glücklichen Zeit so viele hatten, zu dem Herrn der Sterne auf! Wie das Tugendgesetz in uns und die Frühlingsnatur neben uns; So gibt auch der Sternenhimmel über uns den Gläubigen die Lehre: Wir sind unsterblich.
Die finstern Zeiten sind vorüber, wo die rohe Unwissenheit der Menschen die am Himmelsgewölbe gleichsam ausgesäten Sterne für kleine, ohne Zweck und Bedeutung flimmernde Punkte hielt. Längst weiß man es, dass ein jeder derselben eine für sich bestehende Welt, ein großer, bewohnbarer und vermutlich auch bewohnter Körper, wie diese Erde, mancher noch unendlich viel größer als sie, mancher, wie unsre Sonne, wieder der Mittelpunkt von mehreren Welten sei. Längst hat man mit Hilfe künstlicher Fernröhre, die der menschliche Scharfsinn für die Wissbegierde erfand, von einem beträchtlichen Teile jener himmlischen Welten eine bewundernswürdig genaue Kenntnis zu erlangen gewusst. Man hat ihre Größe berechnet, ihre Bahnen gemessen, ihre Verhältnisse zu einander gefunden, ihren Standpunkt, ihre Entfernung, ihren Kreislauf, und die ewigen Gesetze desselben zu bestimmen versucht. Man hat es hierin so weit gebracht, dass man gewisse, Jedermann bekannte Erscheinungen an den mit unserer Erde zunächst verbundenen großen Himmelskörpern, an der Sonne und dem Monde, Jahrhunderte lang vorher, ehe sie eintreten, aufs genaueste ankündigt. Und gewiss werden die Weisen, die der Sternkunde den Fleiß ihres ganzen Lebens widmen, in dieser erhabenen Wissenschaft es immer noch weiter bringen.
Sie verdienen, dass wir uns gern von ihnen belehren lassen, meine Brüder, und mit herzlichem Danke der schönen Aussichten uns freuen, die uns durch ihre Untersuchungen eröffnet werden. Bisher geschah dies aus Vorurteil und Blödsinn von Manchem so ungern; und es kam nur daher, wenn der Anblick des gestirnten Himmels, der ehrwürdigste, den die Schöpfung uns darbietet, wenn das unermessliche All, in dessen mütterlichem Schoße selbst Welten sich, wie Punkte, zu verlieren scheinen, unsern Geist unbeschäftigt, und unser kaltes, stumpfes Herz ungerührt und unerbaut ließ. Feiert dagegen mit der Überzeugung: jeder Stern sei eine Welt, eine stille Stunde der Nacht in Gottes herrlichem, freiem Tempel; schaut von diesem Gedanken erwärmet zum Himmel auf, lasst, von diesem Glauben geleitet, euren trunkenen Blick in jenem unendlichen Gebiete umherirren, und euer Herz sich dann entzückt wiederholen, was Jesus sagt: in meines Vaters Hause find viel Wohnungen11); und alles, was ihr sehet, wird sich in Majestät kleiden, und alles, was ihr denkt, wird Wahrheit und Zusammenhang gewinnen, und alles, was ihr fühlt, wird Gebet sein!
Gott, wie groß bist Du, werdet ihr dann still oder laut ausrufen, heiligstes, erstes aller Wesen, wie musst Du groß sein, da alles, was Dein allmächtiges Werde schuf, so bewundernswürdig ist! Und o! wer bin ich, Dein Geschöpf, dass ich Deine Größe ahnen und empfinden kann! Gleichwohl ist das, was Du mir hier offenbarst, nur ein schwacher Schimmer des hellern Lichts, in welchem ich einst wandeln soll. Wo wird es mir aufgehen? Wo werde ich zuerst seinen freundlichen Strahl begrüßen? Wo es sei! Du bist mit Deinen aus der Fremde zurückkehrenden Kindern nicht verlegen; in Deinem Hause, Allvater, sind viel Wohnungen; ich werde zu ihnen gelangen, und sie nicht umsonst in dämmernder Ferne erblickt haben. Gegenstände zur Erweiterung meines Wissens und zur Übung meiner sittlichen Kraft gibt es auch außer diesem niedern Schauplatze; ich werde sie kennen lernen, wenn ich für sie reif bin. Die Wunder Deiner Weisheit und Liebe sind auf diese Erde nicht eingeschränkt, jede Welt hat ihre eigenen, und größere dann wohl noch als diese, sie werden dem verklärten Geiste sich enthüllen und in ihrem Anschaun wird er ewig selig sein. Und ich sollte mich fürchten, von hier zu gehen? Mich sollte grauen, dich zu verlassen, Land meiner Kindheit? Ich sollte zittern vor der Stunde des Abschiedes?? In meines Vaters Hause sind viel Wohnungen, und in welche er mich führe, meine Stätte ist bereit. Amen.