Christoffel, Raget - Die Waldenser und ihre Brüder – 9. Rückblick auf die Früchte der Wirksamkeit Beccarias.
Das Gedächtnis des Gerechten bleibt im Segen.
(Sprüche 10, 7.)
Vom friedlichen Heimgange Beccarias müssen wir wieder unsere Blicke auf die von ihm gepflanzten Gemeinden wenden und die Stürme betrachten, welche über sie hereinbrachen. Um die Zerstörung der evangelischen Gemeinden italienischer Zunge, soweit ihm Spielraum gewährt war, ließ der Cardinal Borromeo sich vom Papste 1582 zum Inspector der schweizerischen und bündnerischen Landschaften ernennen. So fiel er wie ein Eroberer, von dem Franziskaner Panigarela und dem Jesuiten Achill Gaillard begleitet in Misocco ein, errichtete hier eine Druckerpresse, um Schriften im Interesse der römisch-katholischen Religion zu veröffentlichen. Auch trug er sich mit dem Plane im Trivulzischen Palaste ein Jesuitenkollegium zu errichten. Nach solcher Vorbereitung schritt er gegen die zahlreich durch das ganze Tal verbreiteten Bekenner der evangelischen Lehre ein. Wie er vormals den Beccaria unter dem Namen eines Banditen aus dem Tale ausweisen ließ, verfolgte er jetzt die Evangelischen als der Hexerei Ergebenen. Durch die Qualen der Tortur und durch andere Schreckmittel zwang er an 130 Personen zur Abschwörung. Andere wurden in furchtbarer Weise zu Tode gemartert. Man knebelte sie auf einen Stuhl fest, zwang sie dann zur Beichte und sodann wurde ein Feuer unter dem Stuhle angezündet und sie langsam zu Tode gequält. Die Hinrichtungen wurden unter großem Volkszulaufe auf der Ebene bei Roveredo vollzogen. Das Jammergeschrei der Zuschauer mischte sich unter dem Knistern der Flammen in das Gewimmer der Brennenden, die nach Gaillards Bericht an seine Obern: mit unzweideutigen Äußerungen der tiefsten Zerknirschung ihren Leib und ihre Seele dem Herrn übergeben. „Jesus,“ schrien sie laut auf als die Flamme emporschlug, und „Jesus“ hörte man mitten durch der Flamme Geprassel die Unglücklichen wiederholen Solches, fügt er hinzu, wolle ich Deiner Hochwürden zu wissen tun, damit Du Gott dankest und ihn lobpreisest für diesen herrlichen Erntesegen. Von diesem Zeitpunkte an hörte man nichts mehr von einer evangelischen Regung in dieser unglücklichen Talschaft; wohl aber um so häufiger von grauenvollen Freveltaten. Auf diese Weise erkämpfte der Cardinal Borromeo, den die römisch-katholische Kirche als Heiligen verehrt, seinen Sieg über die evangelische Gemeinde in Misocco.
In Locarno zeigen sich noch ein Vierteljahrhundert hindurch nach der Auswanderung jener Glaubenvollsten unter den Evangelischen Spuren von einer in der Stille fortbestehenden evangelischen Gemeinschaft. Durch die fortwährenden Quälereien und Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren, ließen sich Viele von ihnen bestimmen, ihren Glaubensbrüdern über die Berge nachzufolgen. Andere versanken in jene dumpfe Gleichgültigkeit gegen Religion und religiöse Gebräuche, in der sie gedanken- und glaubenslos die römisch-katholischen Gebräuche mitmachten. Inzwischen fielen Land und Leute jener Verwilderung anheim, die stets der Unterdrückung der evangelischen Wahrheit nachfolgt. So klagte ein Landvogt in seinem Jahresberichte: „Zu Locarno sind viele Diebstähle geschehen, und auch den biderben Leuten, so Nachts wandeln, das Geld und Anderes genommen wird, und daneben viele Personen sind, die nichts haben und nichts tun, und aber stets in den Wirtshäusern und im Spielen liegen, und wohl bekleidet gehen.“
Von den düsteren Bildern der Zerstörung und Verwilderung wenden wir unsere Blicke wieder ab und hin auf friedlichere und freundlichere Erscheinungen. Zwei Greise, Taddeo Duno und Lodovico Ronco, die einst zu Beccarias Füßen gesessen und von ihm in die Erkenntnis der evangelischen Wahrheit eingeleitet worden, bewahren in dankbarer Seele das Andenken ihres treuen Giovanni Beccaria, heimgegangenen Lehrers. In seiner Widmung der medizinischen Briefe an Ronco hat Taddeo ihrer Freundschaft und dem teuren Andenken Beccarias ein schönes Denkmal gesetzt: „Unter Ungleichgesinnten, mein teurer Lodovico, mag keine Gemeinschaft bestehen; aber wo gleichgestimmte Herzen zusammentreffen, da wird die Vereinigung nicht nur eine feste und dauernde, sondern sie verleiht auch dem Leben einen unbeschreiblichen Reiz. Durch gegenseitiges Wohlwollen, durch gegenseitige Freundesdienste wird das Band immer enger geknüpft, durch die Übereinstimmung der Gefühle und Bestrebungen die Zuneigung stets wieder aufgefrischt. Und nun, mein Teurer, hat dieselbe Heimat geboren; unsere Väter schon waren Freunde; ein Lehrer hat uns unterrichtet. Gemeinsam haben wir uns gefreut an den heiligen Schriften, gemeinsam des Glaubens wegen die Verbannung erlitten, gemeinsam manches häusliche Ungemach, manchen schweren Kummer getragen. Mit Rat und Hilfe sind wir einander treulich beigestanden; fünfzig schicksalsvolle Jahre sahen unsere Freundschaft immer. stärker und inniger werden. Was wir einander gewesen sind in dieser Zeit durch traulichen Umgang, durch Trost und Ermunterung da ja stets ein Jeder von uns seine Sorgen in des Andern Schoß auszuschütten pflegte: wer kann das aussprechen? An ihren Wirkungen lässt sich der Liebe Kraft erkennen; mit Worten lässt sie sich nicht ausdrücken. So lange es uns noch weiter vergönnt ist zu leben, wollen wir, teuerster Bruder, den Herrn unablässig bitten, uns nach seiner Huld und Barmherzigkeit in unserer Bekümmernis seinen Trost nicht zu versagen und es gnädig so zu fügen, dass wir in diesem kurzen Reste unseres irdischen Daseins und besonders dann im letzten Augenblicke nicht unter der Last erliegen; auf dass wir, die so viele Jahre hindurch so manches und so Schweres tapfer bestanden haben, durch seine Gnade auch fröhlich aus diesem Leben scheiden, und in Jesu Christo, unserem Erlöser selig werden mögen! Amen.“ So segneten die Freunde das Andenken des teuren Lehrers, der sie auf den Weg des Heils geleitet, so dass sie mit freudiger Zuversicht ihrer Auflösung entgegen gehen durften, getragen von der Hoffnung auf ein seliges ewiges Leben nach dem Grabe. Aber auch der neuen Heimat, die so gastfreundlich die von Beccaria gepflanzte Locarner Gemeinde aufgenommen, ward dieselbe zum Segen. Das Seidengewerbe, das jetzt die Grundlage des blühenden Wohlstandes Zürichs bildet, wurde durch sie dahin verpflanzt und so war Beccaria der mittelbare Begründer der Blüte dieses Kantons. Die große Reihe ausgezeichneter Männer, welche sich um Staat, Kirche und Schule hohe Verdienste erworben und die ebenfalls dieser eingewanderten evangelischen Gemeinde entstammten, gereichten zum weiteren Segen für ihre neue Heimat. Bis auf unsere Tage bilden Glieder der eingewanderten Familien von Orelli und von Muralt eine Zierde unter den hervorragenden Männern Zürichs. Auch dieser Segen ist eine mittelbare Folge der treuen Wirksamkeit Beccarias, obgleich sein Name jetzt noch Wenigen bekannt und das Bild seines Lebens und Wirkens zum ersten Mal in obigen Blättern entrollt wird. Wir segnen daher dankerfüllt das Andenken des treuen Arbeiters im Weinberge des Herrn und beten mit Bezug auf die noch nicht erfüllten Wünsche, welche auf seiner Seele brannten für die Verbreitung des Evangeliums in Italien in unsern Tagen: „Zu uns komme Dein Reich!“