Christoffel, Raget - Die Waldenser und ihre Brüder – 5. Beccarias gesegnete Wirksamkeit in Misocco und seine innige Beziehung zu der evangelischen Gemeinde in Locarno.
Nachdem Beccaria aus seiner Heimat sich verbannt sah, wählte er das graubündnerische Tal Misocco zu seinem Aufenthalte und zum Felde seiner weiteren evangelischen Wirksamkeit.
Die Bewohner dieses Tales pflegten, wie wir es oben gesehen, die Märkte von Locarno zu besuchen, bei welchen Anlässen Beccaria wohl einzelne derselben persönlich kennen lernen und lieb gewinnen konnte. Welche Gefühle und Hoffnungen ihn bei der Wahl dieser neuen Wohnstätte beseelten, hat er in seinem Briefe an Bullinger vom 28. Februar 1550 kund getan: „Auf den Ruf des Herrn bin ich hierher gezogen, um, wenn er mir seine Gnade schenkt, einen christlichen Bau hier aufzuführen. Denn viele Hiesige haben sich von den päpstlichen Märchen so völlig losgesagt, dass die Messe kaum je wieder hier aufkommen wird. In doppelter Absicht wollte ich Dir dieses zu wissen tun. Fürs Erste, um Dich aufmerksam zu machen, dass von hier aus für das Evangelium eine Bahn nach Italien geöffnet werden könnte, da diese Gegend gerade am Eingange Italiens liegt. Anderseits siehst Du nun, dass mich der Herr zu einer neuen Verrichtung berufen hat und wirst daher, hoff' ich, bei Euerm trefflichen Bürgermeister Dich nicht länger dafür verwenden, dass für mich auf der nächsten Tagsatzung die Erlaubnis zur Rückkehr in die Heimat ausgewirkt werde, es sei denn, dass ich in Sachen der Religion meine Überzeugung unverfälscht und sicher verfechten dürfe, die Locarner werden, wie ich sehe, nichts unversucht lassen, um mich wieder bei sich zu haben. So wenig nun diese Zuneigung nach menschlicher Ansicht zu tadeln ist, sollten sie doch bedenken, dass auch unser Heiland mehr als in einer Stadt das Evangelium verkündet hat. Wird mir also nicht die volle Freiheit der Religion bewilligt, (was mir in diesem Augenblicke nicht nur unwahrscheinlich, sondern undenkbar ist) so wünschte ich, dass Euer hochgeehrter Bürgermeister und die übrigen evangelischen Gesandten nichts mehr zu meinen Gunsten versuchen möchten. Statt der Arznei dürft ich sonst nur Gift erhalten.“ In Misocco fand Beccaria bei Geistlichen und Laien große Unwissenheit in religiösen Dingen, doch gab es auch hier eine Anzahl, die nach der evangelischen Wahrheit und nach den beseligenden Früchten derselben ernstlich verlangten. Bei diesen konnte Beccaria um so zuversichtlicher und freudiger seine Wirksamkeit beginnen, da er sich in derselben durch die diesfallsigen graubündnerischen Landesgesetze geschützt wusste. Dieselben sicherten „jedem Bürger und Einwohner Graubündens die Freiheit zu, sich zu der römisch-katholischen oder zu der evangelischen Religion zu bekennen. Die Mehrheit entschied, ob der öffentliche Gottesdienst in einer Gemeinde durch einen Messpriester oder durch einen evangelischen Geistlichen besorgt werden solle; Privatgottesdienst war beiden Religionsparteien im ganzen Gebiete des Freistaates gesetzlich erlaubt.“
Zunächst hatte Beccaria Roveredo zum Orte seines Aufenthaltes und zu seiner evangelischen Wirksamkeit gewählt. Hier aber sollte er keine bleibende Stätte finden, indem es den Messpriestern daselbst gelang, das Volk gegen ihn aufzustiften, sodass er aus der Gemeinde verwiesen wurde. Bessere Aufnahme dagegen fand dieser Evangelist im Hauptorte des Tales in Misocco selbst, wo Beccaria bald einen solchen Erfolg erzielte, dass die Messe ganz aufhörte und die Mehrzahl der Bewohner sich zum Evangelio bekannte, Mit Freuden vernahm solches die Synode der evangelischen Geistlichen Graubündens und suchte auch ihrerseits, diese neue Pflanzung zu fördern und zu sichern, indem sie bei ihrer Versammlung in Chur im Juni 1550 den Evangelisten, der bisher nur Privatlehrer gewesen, in ihre Mitte aufnahm und ihn zum Pfarrer dieser neuen evangelischen Gemeinde verordnete. Zwar wurde er auch hier in dieser Eigenschaft von den Papisten vielfach angefochten. „Noch immer,“ schrieb er nach einem drei- oder vierjährigen Aufenthalte in Misocco, „bin ich die Zielscheibe Vieler, aber dem Herrn sei es gedankt, eine solche, an der die Pfeile abprallen und stumpf werden.“ Die edlen Brüder Antonio und Giampietro di Sanvico von Soazza (unweit Misocco) und andere einflussreiche Männer waren entschieden Freunde des Evangeliums und entschlossene Beschützer desjenigen, der dasselbe lauter und unverfälscht verkündigte. Darum gelang es den Messpriestern nicht, den Prädikanten aus dem Tale zu vertreiben. - Von Zürich aus wurde Beccaria durch Zusendung von Büchern und Ermunterungsbriefe in seiner Wirksamkeit vielfach unterstützt. Auch an den Predigern von Chur, dem eifrigen und gewandten Gallicius und dem biedern Johannes Fabricius, Montanus, die seinen brieflichen Verkehr mit Bullinger vermittelten, hatte er treue Freunde und Förderer seines evangelischen Werkes gefunden. Bald gesellten sich zu ihm als Gehilfe an seinem Werke die auf Betreiben der päpstlich gesinnten Kantone ebenfalls aus Locarno vertriebenen Castiglione und Antonio Viscardi, genannt Trontano. Wenn Beccarias Lage und Wirken auf diese Weise freundlich und hoffnungsvoll sich zu gestalten schien, so drohte ihm von einer andern Seite her wieder eine große Gefahr. Die katholischen Orte, welche seine Verbannung aus Locarno durchgesetzt hatten, verloren ihn niemals aus den Augen. Namentlich sahen die drei Kantone1), welche die Oberherrschaft über Bellinzona besaßen, sehr ungerne, dass Beccaria fortwährend an der Pforte der italienischen Vogteien seine Wirksamkeit betätigte. Auf der Jahresrechnung zu Locarno 1553 ward daher geklagt, dass etliche Locarner ihm ihre Kinder in die Schule und an die Kost gegeben haben. Man nahm daran um so mehr Anstoß, als er, ein Priester, jetzt auch sich ein Weib genommen hatte. Demnach ward dem Landvogte Befehl erteilt, Allen, die ihre Kinder bei dem Schulmeister zu Misocco haben, „bei Verlust unserer Herrn und Oberen Gunst und Gnade“ zu bedeuten, binnen Monatsfrist die Kinder zurück zu nehmen. Dennoch hatte Beccaria später wieder solche Knaben bei sich.
Aber die Erziehung dieser Knaben bildete nicht das einzige Band, welches Beccaria mit der von ihm gepflanzten evangelischen Gemeinde in Locarno verband, sondern er stand mit derselben in ununterbrochenem Verkehr und nahm den innigsten Anteil an ihren weiteren Schicksalen, sowie an denjenigen der einzelnen Glieder derselben. Bisweilen scheint er auch sich heimlich nach seinem Geburtsorte verfügt zu haben, trotz der Gefahren, denen er sich dadurch aussetzte. Zwischen ihm und seinen Schülern Duno und Ronco wurde ein lebhafter Briefwechsel unterhalten. Dringend ermahnte Beccaria seinen Taddeo, auch seine Gattin, die damals noch dem alten Glauben anhing, auf den Weg des Herrn zu leiten. In Roveredo mögen sie etwa einander gesprochen haben; denn dort hielt sich auch Castiglione nach seiner Verweisung auf. Bei seinen heimlichen Besuchen in Locarno stärkte Beccaria seine Glaubensgenossen und ermunterte sie zur standhaften Ausdauer und zur geduldigen Ergebung in den göttlichen Willen. Auch in häuslichen Unglücksfällen erwies er sich als ihr treuer Berater und Tröster. So stand er einer Witwe mit Rat und Tat bei, der früh und gewaltsamer Weise ihr Gatte entrissen worden und deren unmündige Waisen den Ernährer und Beschützer beweinten. Er erklärte sich bereit, wenn es nötig sein sollte, seinen Zufluchtsort zu verlassen, um ihnen zum dürftigen Lebensunterhalt irgendwie behilflich zu sein. Nur sollten sie ihr ganzes Vertrauen auf Gott setzen, allem abergläubischen und abgöttischen Wesen, wodurch sie den Herrn bis anhin erzürnt, den Abschied geben, nicht aus Menschenfurcht und Sorge für zeitliche Güter, deren Hinfälligkeit sie jetzt erfahren, seinen heiligen Namen verleugnen, die Mutter ins Besondere nicht der Kinder Brot weggeben an Priester und Mönche. Dem Übeltäter mögen sie doch aufrichtig verzeihen und die Rache dem überlassen, der da richte nach Jedermanns Verdienen. Die Locarner hinwieder gaben ihm manche Beweise von Zuneigung. Als er einst am dreitägigen Fieber krank lag, stand ihm Duno, der Entfernung ungeachtet, mit ärztlichem Rate bei, und Roncos Gattin, Marina, sandte ihm junge Hühner zum Geschenk. Nie verlor er den Mut. „Wahrlich, ich versichere euch,“ schrieb er seinen geliebten Schülern, „der Herr wird seine Sache kräftig schirmen; er wird die Herzen unserer gnädigen Herrn dahin lenken, dass sie nicht so böse handeln, wie jene Pharisäer es wünschen, die sie aufstiften zur Zerstörung seiner heiligen Kirche. Ihr wisst ja, dass sie so milde sind gegen Schuldige; wie viel mehr gegen Unschuldige. Nicht unser ist ja die Sache, sondern des Herrn; er hat uns seine Macht schon dadurch bewiesen, dass er uns aus der Finsternis befreite, und uns bis dahin immer noch beschützt hat gegen unsere übelwollenden Nachbaren. Auf ihn wollen wir nun jetzt unser Vertrauen setzen.“