Calvin, Jean - Der Brief an Titus - Kapitel 3.
V. 1. Erinnere sie. Aus verschiedenen Stellen in den apostolischen Briefen geht hervor, dass die Apostel viel Mühe damit hatten, dass sie das Volk im Gehorsam gegen ihre Fürsten und die Obrigkeit hielten. Denn wir sind allzusamt von Natur herrschsüchtig, und niemand fügt sich gern dem andern. Überdies waren damals fast alle Machthaber der Welt Christo feindlich, und deshalb hielt man sie irgendwelcher Ehre für unwürdig. Insbesondere hörten die Juden, wie sie ja überhaupt ein unbändiges Volk waren, nicht auf, unzufrieden und unruhig zu sein. Deshalb trägt Paulus, nachdem er an die besonderen Pflichten verschiedener Stände erinnert hat, jetzt dem Titus auf, alle kretischen Christen insgesamt zu ermahnen, dass sie die staatliche Ordnung ruhig achten, der Obrigkeit und den Gesetzen gehorchen. Mit dieser Ermahnung können auch die nachfolgenden Worte in Beziehung gebracht werden, gleich als wenn Paulus sagen wollte: wer zu allem guten Werk bereit, d. h. entschlossen ist, gut und ehrenhaft zu leben, wird gern der Obrigkeit gehorchen. Denn da diese zur Erhaltung des menschlichen Geschlechts verordnet ist, so ist ein jeder, der sie abzuschaffen sucht oder ihr Joch abschüttelt, ein Feind von Recht und Billigkeit und so aller Menschlichkeit bar. Doch können die Worte auch ohne diese Beziehung auf das Vorhergehende für sich genommen werden: dann würden sie einfach ein christliches Verhalten gegen den Nächsten während des ganzen Lebens empfehlen.
V. 2. Niemand lästern. Jetzt wird die Art und Weise vorgeschrieben, wie man mit allen Menschen Frieden und Freundschaft hält. Zu nichts neigt ja der Geist des Menschen mehr, als dass er alle anderen im Vergleich zu sich gering achtet. So sind viele stolz auf die von Gott ihnen geschenkten Gaben und verachten die Brüder; der Verachtung aber folgt bald das Lästern. Deshalb sollen Christen, auch wenn sie über andere hervorragen, die Sucht bekämpfen, sich über diese zu überheben und sie zu tadeln. Nicht hadern sollen sie in irgendwelcher Weise, vielmehr gegen jedermann sich gelinde und sanftmütig zeigen. Gelindigkeit sollen wir beweisen und nicht darauf aus sein, dass wir durchaus zu unserm Rechte kommen; ebenso Sanftmütigkeit und nicht Heftigkeit. Wir sollen es lernen, durch unsere Gelindigkeit vieles zu mildern, auch vieles zu verzeihen. Denn wer allzu sehr auf sein Recht bedacht ist und allzu eigenwillig, trägt stets das Feuer bei sich, mit dem er Streit entzündet. Und zwar gilt es, gegen alle Menschen gelinde zu sein, auch gegen die niedrigsten und verworfensten. Da die Gläubigen die Ungläubigen verachteten, so hielten sie dieselben keiner Milde wert. Von solcher Härte, die allein dem Stolze entspringt, will Paulus sie abbringen.
V. 3. Denn wir waren auch usw. Nichts ist mehr geeignet, unsern Stolz und damit zugleich unsere Härte zu mildern, als wenn uns gezeigt wird, wie alle Vorwürfe, die wir gegen andere schleudern, auf uns selbst zurückfallen können. Denn der ist leicht zum Verzeihen bereit, der genötigt wird, selbst darum zu bitten. Und sicherlich zeigen wir uns nur deshalb unerbittlich gegen die Brüder, weil wir unsere eigenen Fehler nicht kennen. Wohl sind Menschen, die einen wahren Eifer für Gott im Herzen tragen, streng gegen die Sünder; aber weil sie damit bei sich selbst anfangen, ist ihre Strenge stets mit Mitleid gepaart. Damit also die Gläubigen nicht stolz und unmenschlich auf die anderen herabsehen, die noch in Unwissenheit und Blindheit stecken, bringt ihnen Paulus in Erinnerung, wie sie selbst einst gewesen sind. Er will ihnen damit sagen: wenn man wirklich Leute, die Gott noch nicht des Lichtes des Glaubens gewürdigt hat, so hart anlassen muss, so hättet auch ihr einst dieselbe Behandlung verdient, und doch hätte sie euch gewiss wenig zugesagt. Deshalb übt jetzt die gleiche Mäßigung gegen die anderen! Dazu sollen die kretischen Christen sich auch durch die Erwägung bestimmen lassen, dass ihr Beispiel die, die jetzt noch der Gemeinde fernstehen, bald derselben zuführen, sie damit von ihren Fehlern befreien und ihnen die Gaben Gottes zuführen könnte, von denen sie jetzt ausgeschlossen sind. Diese beiden Gesichtspunkte müssen das Verhalten der Gläubigen bestimmen, die einst Finsternis waren, nun aber angefangen haben, ein Licht zu sein in dem Herrn. – Die Schilderung, welche der Apostel hier in aller Kürze von der Geistesverfassung der noch nicht durch Christi Geist wiedergeborenen Menschen gibt, lässt übrigens deutlich ersehen, wie jämmerlich es ohne die Gemeinschaft Christi mit uns steht. Der Apostel bezeichnet die Ungläubigen als unweise, weil alle Weisheit der Menschen leerer Schein ist, solange sie Gott nicht kennen. Weiter heißen sie ungehorsam : denn wie allein der Glaube sich in wahrhaftem Gehorsam dem Herrn unterwirft, so ist der Unglaube stets ungehorsam und rebellisch. Weiter waren wir verirret: denn wenn allein Christus der Weg und das Licht der Welt ist, so müssen alle, die ohne Gemeinschaft mit ihm sind, fehlgehen und irren. Nachdem Paulus so die Art des Unglaubens im Allgemeinen geschildert hat, fügt er jetzt die Früchte desselben hinzu, indem er an die Begierden und mancherlei Wollüste erinnert, ferner an Bosheit, Neid und dergleichen Dinge. Wohl leiden die einzelnen Menschen nicht an allen diesen Fehlern in gleicher Weise; aber da sie alle bösen Begierden dienen, die einen diesen, die anderen jenen, so fasst Paulus die Früchte des Unglaubens alle zusammen, wie er über ebendieselben im Römerbriefe am Ende des ersten Kapitels spricht. Die Kinder Gottes müssen sich von den Ungläubigen so unterscheiden, dass ihr Herz von allem Neid und aller Bosheit rein wird, dass sie lieben und gegenseitig sich liebenswert zeigen, dass die Herrschaft der Begierden in ihnen gebrochen wird. Von „mancherlei“ Lüsten ist aber die Rede, weil dieselben wie miteinander kämpfende Wogen sind, die den Menschen hierhin und dorthin treiben, und zwar fast in jedem Augenblick nach einer andern Seite. In solcher Unruhe sind fürwahr alle, die sich den Begierden des Fleisches hingeben; denn allein in der Furcht Gottes ist Beständigkeit.
V. 4. Nach dem genauen griechischen Wortlaut ist die Satzverbindung folgendermaßen herzustellen: „Als aber erschien die Freundlichkeit Gottes, machte er uns nicht um der Werke willen, sondern nach seiner Barmherzigkeit selig.“ Dabei bleibt der Satz nicht unvollständig, sondern erscheint vollkommen abgerundet. Der Apostel will demgemäß sagen, dass nur Gott selbst jenen Umschwung in den Christen herbeiführen konnte, der sie jetzt von den anderen unterscheidet. Dabei schließt er sich selbst mit ein, um seiner Rede desto größeren Nachdruck zu geben.
Da aber erschien usw. Zunächst könnte man fragen, ob Gott seine Güte der Welt erst anfing kund zu geben, als Christus im Fleische dargestellt wurde. Haben doch die Väter von Anfang seine Freundlichkeit, Milde und Gnade erkannt, sodass man die erste Offenbarung der Güte und väterlichen Liebe Gottes schwerlich erst in Christo finden darf. Die Antwort ist leicht: Nicht anders haben die Väter unter dem Gesetz Gottes Freundlichkeit geschmeckt, als im Hinblick auf Christum, auf dessen Erscheinung ihr ganzer Glaube beruhte. So meint also Paulus, dass Gottes Freundlichkeit erschien, als er das Unterpfand derselben gab und eben damit die früheren Verheißungen einlöste, dass sein Heil zu allen Menschen kommen sollte. In diesem Sinne schreibt Johannes (Joh. 3, 16): „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab.“ Und Paulus sagt (Röm. 5, 8): Dadurch erweist Gott seine Liebe gegen uns, dass er seinen Sohn gesandt hat, da wir noch Sünder waren usw. So ist es eine geläufige Ausdrucksweise in der Bibel, dass Gott der Welt durch den Tod Christi versöhnt werde, - während wir doch anderseits wissen, dass er schon seit Urzeiten sich als ein gnädiger Vater bewies. Weil aber wir nur in Christo der göttlichen Liebe und unseres Heils gewiss werden können, heißt es mit Recht, dass der Vater seine Güte erst in Christo offenbar. Übrigens hat es mit unserer Stelle noch eine etwas andere Bewandtnis: hier denkt ja Paulus weniger an die allgemeine Erscheinung Christi in der Welt bei seiner Menschwerdung, als vielmehr an die besondere Erscheinung und Offenbarung, in welcher er sich vermittelst des Evangeliums seinen Auserwählten anbietet und erschließt. Denn nicht durch jene allgemeine Erscheinung Christi kam Paulus zum neuen Leben; vielmehr war Christus bereits zu seiner Herrlichkeit auferstanden, und war das Heil in seinem Namen schon sehr vielen Menschen nicht nur in Judäa, sondern auch in den benachbarten Ländern aufgegangen, als Paulus in der Blindheit seines Unglaubens diese Gnade noch auf alle Weise zu vernichten suchte. Danach meint also der Apostel, dass ihm und anderen Gottes Gnade damals erschien, als das Licht des Evangeliums in ihren Herzen aufging. Nur auf diese Weise lässt sich der Satz auf die tatsächlichen Verhältnisse anwenden: es schweben ihm ja nicht unterschiedslos alle Menschen der damaligen Zeit vor, sondern nur die kleine Zahl, die sich durch ihren Glauben von der großen Masse abhob. Sie erinnert den Apostel daran, dass sie dereinst den Ungläubigen geglichen haben, die noch bis auf die Stunde in Finsternis versunken sind; jetzt aber hat nicht ihr eigenes Verdienst, sondern Gottes Gnade eine Scheidung herbeigeführt. Ganz ebenso wird auch 1. Kor. 4, 7 jegliche Anmaßung des Fleisches niederschlagen: „Wer hat dich vorgezogen? Was hast du, das du nicht empfangen hast?“
Die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes. Die Freundlichkeit, welche den Herrn zu leutseliger Liebe bewegt, steht mit Recht an erster Stelle. In uns findet er ja nichts, was ihn zur Liebe nötigte; vielmehr liebt er uns deshalb, weil er freundlich ist und barmherzig. Indes wenn Gott auch allen Menschen seine Güte und Liebe noch so sehr bezeugt, so erkennen wir dieselbe doch nur im Glauben, dadurch, dass er sich in Christo als Vater offenbart. So genoss Paulus, bevor er zum Glauben an Christum berufen wurde, von Gott unzählige Wohltaten, die ihm eine Empfindung von dessen väterlicher Güte hätten geben können, wie er ja von Kind auf in der Lehre des Gesetzes unterrichtet war. Und doch irrte er im Dunkeln, ohne der Güte Gottes inne zu werden, bis der Geist seinen Sinn erleuchtete, und Christus ihm als Zeuge und Bürge der Gnade des Vaters begegnete, von der wir ohne ihn alle fern bleiben.
V. 5. Nicht um der Werke willen. Wir erinnern uns, dass Paulus hier zu gläubigen Christen redet und die Art und Weise beschreibt, wie sie in das Reich Gottes eingetreten sind. Er betont, dass sie es sich keineswegs durch Werke verdient haben, dass sie des Heiles teilhaftig wurden: nicht ihr eigner Glaube war der Grund ihrer Versöhnung mit Gott, sondern allein Gottes Erbarmen. Demnach können wir nichts vor Gott bringen, vielmehr kommt Gott uns mit seiner Gnade allein zuvor, ohne auf unsere Werke zu sehen. Alle Werke, die wir getan haben, bevor wir von Gott wiedergeboren wurden, sind sündige Werke, wie sie in V. 3 aufgeführt worden sind. Es ist also eine Tollheit zu behaupten, dass der Mensch durch sein Vermögen zu Gott komme. Denn während der ganzen Zeit seines Lebens kommt er immer weiter von Gott ab, bis dieser ihn mit seiner Hand von dem Irrtum zum Leben zurückbringt. Weder bereits geleistete, noch auch in Zukunft zu leistende Werke, welche Gott vorausgesehen hätte, erschließen uns den Zugang zu ihm, sondern allein seine freie Gnade.
Machte er uns selig. Vom Glauben spricht Paulus, und dass wir das Heil bereits erlangt hätten. Wenn wir also auch den Leib des durch die Sünde gewirkten Todes mit uns herumtragen, so sind wir doch unseres Heils gewiss, wenn anders wir durch den Glauben Christo eingepflanzt sind, wie Johannes (5, 24) schreibt: „Wer an den Sohn Gottes glaubt, der ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.“ Haben wir nun auch das Heil als gegenwärtigen Besitz, so werden wir doch alsbald (V. 7) hören, dass sein völliger Genuss sich erst am Ende unserer Laufbahn erschließen wird. Darum sagt Paulus (Röm. 8, 24): „Wir sind wohl selig, doch in der Hoffnung.“
Durch das Bad der Wiedergeburt. Ohne Zweifel spielt Paulus wenigstens auf die Taufe an. Ja es steht auch nichts im Wege, diese Stelle geradezu von der Taufe auszulegen – nicht als ob in dem äußerlichen Zeichen des Wassers das Heil beschlossen läge, sondern, weil die Taufe uns das von Christo erworbene Heil versiegelt. Der Apostel handelt von der Mitteilung der Gnade Gottes, die, wie wir sahen, im Glauben erfolgt. Da aber ein Teil der Offenbarung in der Taufe besteht, sofern diese ein Zeichen unserer Einpflanzung in Christum und dazu bestimmt ist, unsern Glauben zu bestätigen, so zieht er sie in passender Weise hier bei. Gott hat uns nach seiner Barmherzigkeit selig gemacht und uns ein Zeichen und Unterpfand des Heiles in der Taufe gegeben, indem er uns durch sie in seine Kirche aufnimmt und uns in den Leib seines Sohnes einpflanzt. Bei der Darstellung des Heiles pflegen die Apostel die Sakramente mit herbeizuziehen, weil es ja unter den Gläubigen eine feststehende Sache ist, dass Gott nicht in leeren Zeichen mit uns spielt, sondern, dass durch seine Kraft das zur Auswirkung kommt, was er durch das äußerliche Zeichen vor Augen stellt. Die richtige Bedeutung und den rechten Gebrauch der Sakramente finden wir, wenn wir Sache und Zeichen so miteinander verbinden, dass wir einerseits dem Zeichen nicht seinen Inhalt und seine Wirkung und anderseits zu dessen Verherrlichung nicht dem heiligen Geist das nehmen, was ihm zukommt. Darnach werden Leute, die Gottes Gnade verschmähen, auch wenn sie getauft sind, durch ihre Taufe weder von den Sünden gereinigt, noch erneuert, noch mit der Kraft beschenkt, die von Gott selbst kommt. Hier aber wendet sich Paulus an gläubige Christen, in denen die Taufe wirksam war, sodass die Rede ihre Wahrheit und Wirkung zugleich mit umfassen darf. So enthält diese Redeweise freilich eine Mahnung, dass wir, wenn wir nicht der heiligen Taufe ihre Bedeutung nehmen wollen, die Kraft derselben durch ein neues Leben bewähren müssen.
Hat nun Paulus von dem Zeichen gesprochen, welches uns die Gnade Gottes anschaulich vor Augen stellen soll, so will er doch nicht, dass unsere Gedanken an diesem Zeichen hängen bleiben. Darum erinnert er nun weiter, dass die Erneuerung ein Werk des heiligen Geistes ist, also nicht des bloßen Wassers. So hat auch Hesekiel im Namen Gottes geweissagt (36, 25): „Ich will rein Wasser über euch sprengen,“ nämlich meinen Geist. Und gewiss stimmen mit den Worten des Propheten die Worte Pauli dermaßen überein, dass wir sehen, wie beide über die nämliche Sache sprechen. Darum sagte ich oben: während Paulus eigentlich an den heiligen Geist denkt, spielt er zugleich auf die Taufe an. Also der Geist Gottes ist es, der uns erneuert und zu neuen Kreaturen macht; aber weil seine Gnade unsichtbar und verborgen ist, so schauen wir ein sichtbares Zeichen derselben in der Taufe.
V. 6. Welchen er ausgegossen hat reichlich. Also je reicher die Gaben sind, die ein Christ empfangen hat, desto tiefer muss er sich der Barmherzigkeit Gottes verpflichtet fühlen, die allein uns reich macht, da wir von uns selbst durchaus an allen Gütern arm und leer sind. Wollte man hingegen einwenden, dass doch nicht alle Kinder Gottes an einem so großen Reichtum teil haben, sondern Gottes Gnade auf viele nur leise niederträufelt, so antworten wir, dass niemandem ein so geringes Maß zugeteilt wurde, dass er nicht in Wahrheit für reich gehalten werden könnte: denn der geringste Tropfen des Geistes, dass ich so sage, ist wie eine ewige Quelle, die nimmer versiegt. Also zum Reichtum genügt es, dass wir niemals wirklichen Mangel haben, welches Maß uns auch gegeben wird.
Durch Jesum Christi. Denn in ihm allein werden wir zu Kindern Gottes angenommen. Also werden wir auch durch ihn des Geistes teilhaftig, der unserer Kindschaft Unterpfand und Zeuge ist. Nur wenn wir Christi Glieder sind, wird uns der Geist der Wiedergeburt geschenkt.
V. 7. Auf dass wir gerecht seien. Wenn wir die Wiedergeburt im eigentlichen und gebräuchlichen Sinne fassen, so könnte es scheinen, als wenn das Wort „gerecht“ hier im Sinne von „wiedergeboren“ stände; wie es ja so zuweilen, aber doch seltener gebraucht wird. Indes nötigt uns nichts, von der eigentlichen und unverfälschten Bedeutung des Wortes abzugehen. Paulus will zeigen, dass wir alles, was wir sind und haben, der Gnade Gottes verdanken, damit wir uns nicht stolz über die anderen erheben. Er preist also die Barmherzigkeit Gottes und rühmt sie als die ausschließliche Ursache unseres Heiles. Weil dabei aber von den Fehlern der Ungläubigen die Rede ist, so durfte die Gnadengabe der Wiedergeburt nicht übergangen werden, die das Mittel für deren Heilung ist. Das hindert jedoch nicht, dass die Rede alsbald zum Preis der Barmherzigkeit zurückkehrt. So flicht Paulus dies beides ineinander, die Vergebung der Sünden aus Gnaden und die Erneuerung zum Gehorsam gegen Gott.
Durch desselbigen Gnade. Das kommt sowohl Christo als dem Vater zu: denn allezeit wird es dabei bleiben, dass wir aus Gottes Gnade durch Christum die Gerechtigkeit erlangen.
Erben nach der Hoffnung. Gott hat uns nach seiner Barmherzigkeit selig gemacht, doch ist unser Heil jetzt noch verborgen: und wir sind Erben des Lebens, nicht, sofern wir dessen Besitz schon gegenwärtig angetreten haben, sondern, weil die Hoffnung uns die völlige feste Gewissheit desselben gibt. Wenn wir gestorben sind, wird uns das Leben zugeteilt; doch beruht die Erlangung des Lebens auf dem göttlichen Geiste, den uns der Vater geschenkt hat, und durch dessen Wirkung wir gereinigt und erneuert worden sind; aber solange wir noch hier in dieser Welt unsern Wandel führen, genießen wir das ewige Leben noch nicht und besitzen es nur in der Hoffnung.
V. 8. Das ist gewisslich wahr. Diese Redewendung gebraucht Paulus, wenn er etwas besonders nachdrücklich hervorheben will (vgl. zu 2. Tim. 2, 11). Solches will ich, dass du fest lehrest. Titus soll diese über allen Zweifel gewisse Lehre nachdrücklich und anhaltend vor die Kreter bringen, im Gegensatz zu der törichten Lehre der anderen. Hieraus ersehen wir, dass es des Bischofs Pflicht ist, nicht leichthin irgendetwas vorzutragen, sondern mutig und eifrig davon zu zeugen und das zu verteidigen, was sichere Wahrheit ist und zur wahren Erbauung dient.
In einem Stand guter Werke. In diesen Worten fasst Paulus zusammen, was er oben über die Pflichten der einzelnen Stände und über das Trachten nach einem frommen und heiligen Leben ausgeführt hat, und stellt auch hier die Furcht Gottes und den wahrhaft frommen Wandel den müßigen Grübeleien gegenüber. Er verlangt also, dass die Christen sich in guten Werken üben, aber er übersieht nicht über der Frucht, die er fordert, die Wurzel derselben, nämlich den Glauben. Beides zieht er in Rechnung und weist auch dem Glauben, wie es billig ist, die erste Stelle zu. Denn er will, dass wer an Gott gläubig geworden ist, auch auf gute Werke bedacht sei. Demnach muss der Glaube vorangehen, damit die Werke nachfolgen.
Solches ist gut und nütz den Menschen, dass sie nämlich in dieser Lehre unterwiesen werden.
V. 9. Der törichten Fragen aber usw. Töricht nennt der Apostel diese Fragen, nicht weil sie auf den ersten Blick als solche erscheinen – vielmehr täuschen sie oft durch einen leeren Schein der Weisheit -, sondern weil sie nicht zur wahren Frömmigkeit dienen. Zu diesen Fragen gehören z. B. auch die Geschlechtsregister , - wenn neugierige Menschen, während sie es versäumen, aus den heiligen Geschichten den rechten Nutzen zu ziehen, sich mit dem Ursprung der Geschlechter und ähnlichen Possen befassen und sich damit nutzlos abmühen (vgl. auch zu 1. Tim. 1, 4). Bei alledem muss es notwendig zu allerlei Zank kommen, weil bei diesen törichten Fragen das Streben nach eigner Ehre vorherrscht, und ein jeder die Oberhand zu gewinnen sucht.
Streit über dem Gesetz wird von den Juden unter falscher Berufung auf dasselbe verursacht; nicht als ob das Gesetz solche Streitereien aus sich selbst hervorbrächte, sondern, weil jene unter dem Vorwand, das Gesetz zu verteidigen, durch ihre verkehrten Streitigkeiten über die Beobachtung der Ritualgebote, die Wahl der Speisen und dgl. den Frieden der Kirche störten.
Denn sie sind unnütz. Bei der Lehre ist stets darauf zu achten, was die wahre Frömmigkeit fördert; alles andere ist unstatthaft. Zwar hielten wohl jene Sophisten ihr eitles Geschwätz für besonders wertvolle und nützliche Erkenntnisse; aber Paulus erkennt nur das als nützlich an, was zur Förderung des Glaubens und der Heiligung gereicht.
V. 10. Einen ketzerischen Menschen meide. Nachdem Paulus dem Titus vorgeschrieben hat, was für eine Lehre er vortragen solle, verbietet er ihm jetzt, im Disputieren mit ketzerischen Menschen viel Zeit zu vergeuden. Denn es ist des Satans List, dass er in das ruchlose Geschwätz solcher Leute die guten und treuen Pastoren verwickelt, um sie von dem rechten Eifer im Lehren abzuziehen. Es ist vergeblich, durch solches Disputieren die Hartnäckigen überzeugen zu wollen; es führt nur zu endlosem Zank und Streit und hält uns von der rechten Arbeit an der Gemeinde Gottes ab. Deshalb ist es die Pflicht eines Dieners Christi, jede Gelegenheit dazu abzuschneiden. Es ist dies eine sehr notwendige Ermahnung. Denn selbst solche, die sich sonst gern von Wortkämpfen fernhalten, werden mitunter durch die Scham auf den Kampfplatz gezogen, indem sie es für schimpfliche Feigheit halten, zu schweigen, und meinen, dass man die Beleidigung der Wahrheit nicht ungestraft lassen dürfe. Auch fehlt es nicht an heftigen und hitzigen Leuten, die zum Disputieren antreiben. Unter ketzerischen Menschen, die gemieden werden sollen, versteht der Apostel nicht nur solche, die eine einzelne Irrlehre pflegen und begünstigen, sondern auch solche, die sich mit der von ihm oben ausgeführten heilsamen Lehre nicht zufrieden geben. Die letzteren sind die Leute, die in selbstgefälligem und hartnäckigem Eifer einen Riss in der Gemeinde verursachen, etliche Glieder von derselben lostrennen und so den Lauf der heilsamen Lehre hemmen, die also den Frieden der Kirche verwirren und ihre Einheit zerstören. Irrlehre und Sekte aber, und Einheit der Kirche, das sind einander entgegengesetzte Dinge. Da aber Gott auf diese Einheit Wert legt, und so auch wir sie hoch achten müssen, so haben wir ketzerische Menschen durchaus zu verabscheuen. Jedoch müssen wir hierbei Mäßigung üben, damit wir nicht einen jeden, der unserer Ansicht nicht zustimmt, alsbald zum Ketzer machen. Denn es gibt Lehrsätze, über welche die Christen untereinander verschiedener Meinung sein können, wobei doch kein Grund zur Spaltung vorliegt. Im Hinblick auf solche Stücke verlangt Paulus von den Philippern (3, 15), dass sie die Einigkeit wahren und auf die Offenbarung Gottes warten sollen. Auch sollen die ketzerischen Menschen erst einmal und abermals ermahnt werden. Weder dürfen wir darüber entscheiden, ob ein Mensch ein Ketzer ist, noch ihn von uns stoßen, bevor wir nicht versucht haben, seinen Sinn zu ändern. Diese Ermahnung hat aber nicht in beliebiger Weise oder durch einen beliebigen Menschen, sondern durch den Diener Gottes, die öffentliche Autorität der Kirche, zu erfolgen. Denn sie muss in einer nachdrücklichen und ernstlichen Zurechtweisung bestehen. Es wäre aber unrichtig, aus dieser Stelle schließen zu wollen, dass man die Irrlehrer nur durch Ausschließung aus der Gemeinde im Zaume halten und nicht noch schärfer gegen sie vorgehen dürfe. Des Bischofs Amt ist ein anderes, als das der weltlichen Behörde. Hier, wo Paulus an Titus schreibt, handelt er nicht von dem weltlichen Amte, sondern von dem des Bischofs. Gleichwohl ist ein mäßiges Verfahren in jedem Falle geboten, und soll man, wenn es irgend möglich ist, die ketzerischen Menschen nicht sowohl mit Gewalt und bewaffneter Hand strafen, als vielmehr durch die Zucht der Kirche zu bessern suchen.
V. 11. Und wisse, dass ein solcher von Grund aus verkehret, d. h. hoffnungslos verstockt ist. Bestünde noch Aussicht, dass unsere Mühe einen solchen Menschen wieder zurechtbringen könnte, so dürfte man ihn ja nicht lassen. Das Bild ist von einem Hause genommen, das nicht nur zum Teil, sondern von Grund aus baufällig ist, sodass es nicht wiederhergestellt werden kann. Ein Zeichen solchen verkehrten Sinnes ist bei dem Ketzer das böse Gewissen, welches der Apostel mit der Wendung beschreibt, dass solcher Mensch sich selbst verurteilt hat, d. h. er spricht sich selbst das Urteil, indem er auf die Ermahnungen nicht hört. Denn wenn er hartnäckig die Wahrheit verschmäht, so ist es klar, dass er mit vollem Bewusstsein sündigt. Und deshalb wäre alles weitere Ermahnen fruchtlos.
V. 13. Zenas, den Schriftgelehrten. Es ist fraglich, ob das betreffende Wort einen Rechtsgelehrten oder einen Schriftkundigen bezeichnet. Da aber die hier gegebene Vorschrift den Zenas als einen Mann in ziemlich dürftiger Lage erscheinen lässt, stelle ich ihn mir lieber als einen Schriftgelehrten vor, wie auch Apollos ein solcher war. Schriftgelehrte pflegen ja leichter dem Hunger nahe zu kommen als Advokaten. Dass aber Zenas in der Tat bedürftig war, geht doch daraus hervor, dass ihn Titus mit Reisezehrung unterstützen musste. Dabei sollten offenbar auch die Kreter das Ihre tun, ohne solche Pflicht als eine Last zu empfinden. Denn der Apostel hält die Erinnerung für nötig (V. 14), dass Christen sich im Stand guter Werke und nicht unfruchtbar sollen finden lassen. Sie sollen jede Gelegenheit zur Wohltätigkeit ergreifen und sich nicht hinter den Vorwand verstecken, dass die Gelegenheit fehle, oder dass ihre Hilfe gar nicht so nötig sei. – Die letzten Worte haben schon bei ähnlichen Briefschlüssen ihre Erklärung gefunden.