Calvin, Jean - Psalm 38.
Inhaltsangabe:Da David, wie anzunehmen ist, an einer schweren und heftigen Krankheit litt, so sah er darin eine Heimsuchung Gottes und bat ihn um Abwendung seines Zornes. Um Gott zum Mitleid zu bewegen, hebt er die Umstände hervor, die seine Leiden besonders hart machen. Es ist am besten, wenn wir diese einzeln an ihrem Platze genauer betrachten.
V. 1. Ein Psalm Davids „zum Gedächtnis“. Diese Überschrift bezieht sich auf den Inhalt. Einige halten sie allerdings für den Anfang eines weltlichen Liedes, wie wir derartigen Hinweisen auf die Melodie öfters begegnet sind. Hier ist aber anzunehmen, dass David die erfahrene Züchtigung in der Erinnerung festhalten wollte und darum dieses Lied „zum Gedächtnis“ für sich und andere niederschrieb. Er wusste wohl, wie leicht und wie rasch die göttlichen Strafen unserem Gedächtnis entschwinden, während sie uns doch unser ganzes Leben lang erziehen sollen. Dann war er auch seiner Berufung eingedenk. Denn da er der ganzen Gemeinde als Lehrer verordnet war, so musste er das, was er für sich besonders in der Schule Gottes gelernt hatte, der Gesamtheit nutzbar machen, damit alle davon Vorteil hätten. So werden wir also daran erinnert, dass es eine nützliche Übung ist, wenn wir uns die Strafen, mit denen Gott uns wegen unserer Sünden gezüchtigt hat, oft ins Gedächtnis zurückrufen.
V. 2. Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn. Da der sechste Psalm ebenfalls mit diesem Verse beginnt, so habe ich ihn dort schon erklärt. Deshalb will ich, um den Leser nicht unnötig zu belästigen, mich jetzt kurz fassen. David bittet nicht, dass die Strafe ihm erlassen werde, sondern nur dass Gott die Härte seines Zorns mildere. Daraus schließen wir, dass David nicht seinen fleischlichen Wünschen nachgegeben, sondern in rechter, frommer Gesinnung gebetet hat. Von Natur wünschen nämlich alle, dass ihnen Freiheit gegeben werde, ungestraft zu sündigen. David dagegen nimmt sich zusammen. Er dehnt Gottes Nachsicht nicht ins Maßlose aus. Er ist zufrieden, wenn seine Strafe nur gemildert wird. Was er dem Herrn vorhalten will, ist etwa dieses: Ich verstatte es dir, mich zu strafen, aber siehe zu, dass du mich nicht härter behandelst, als ich es zu tragen vermag, und passe dein Gericht meiner Schwachheit an, damit die Größe der Leiden mich nicht ganz erdrücke. Wie schon gesagt, entspricht dieses Gebet der Frömmigkeit, da es nichts anderes enthält, als was Gott allen seinen Kindern verheißt. Ferner ist zu beachten, dass David sich nicht innerlich zerfleischt, sondern seine Klage vor Gott bringt. Und er tut dies nicht murrend, sondern bittend mit freimütigem Bekenntnis und zugleich mit der Zuversicht auf Vergebung. „Zorn“ und „Grimm“ stehen hier für eine allzu große Härte, welche den Gegensatz zu väterlicher Züchtigung bildet.
V. 3. Denn deine Pfeile stecken in mir. David zeigt, dass die größte Not ihn treibt, Erleichterung in seinen Leiden zu suchen, da er fast der Größe der Last unterliegt. Bei unseren Gebeten haben wir immer die Regel zu beobachten, dass wir Gottes Verheißungen vor Augen haben. Gott verheißt uns, dass er die Seinen nicht so strafen werde, wie sie es verdient haben, sondern nach dem sie es ertragen können. Das ist auch der Grund, weswegen die Heiligen so oft auf ihre Schwäche hinweisen, wenn sie zu hart bedrückt werden. Übrigens redet David sehr zutreffend, wenn er die ihm auferlegte Krankheit als Gottes Pfeile bezeichnet und hinzufügt: Deine Hand drückt mich. Denn wäre er nicht überzeugt gewesen, von Gott gezüchtigt zu werden, so wäre es ihm auch nie in den Sinn gekommen, bei diesem die Heilung seiner Wunden zu suchen. Wir sehen, dass fast alle blind sind in Bezug auf die göttlichen Gerichte und dieselben für etwas Zufälliges halten. Unter hundert sieht darum kaum einer darin Gottes Hand. Dagegen erkennt David in seiner Krankheit und in anderem Unglück Gottes Hand, die gerüstet ist, um die Sünden zu bestrafen. Und fürwahr: wer bei dem Gefühl seines Leidens stehen bleibt, unterscheidet sich in nichts von den Tieren. Weil aber alle Züchtigungen Gottes uns an sein Gericht mahnen, so besteht die wahre Klugheit der Gläubigen darin, auf seine ausgereckte Hand zu sehen, um mit dem Propheten (Jes. 9, 11) zu reden. Das Wort „deine“ hat hier also besonderen Nachdruck. David will damit andeuten, dass er es nicht mit einem sterblichen Menschen zu tun hat, der die Pfeile nur nach dem Maße seiner Kraft wirft, sondern mit Gott, der mit weit größerer Wucht seine Geschosse schleudert.
V. 4 u. 5. Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe … vor meiner Sünde. Damit gibt David dem Herrn das ihm gebührende Lob. Wo man dies nicht tut, würde die Erkenntnis, von Gott geschlagen zu sein, nicht das Mindeste nützen. Ja, bisweilen verbittert solche Erkenntnis die Herzen der Menschen so, dass sie Gottes Zorn noch mehr gegen sich herausfordern, indem sie ihn der Grausamkeit beschuldigen und abscheuliche Lästerungen gegen ihn ausstoßen. Es ist ganz verkehrt, wenn wir uns Gottes Macht so vorstellen, dass wir ihn seiner Gerechtigkeit berauben. Deshalb richtet David, sobald er merkt, dass Gott ihm feind ist, sein Augenmerk auf seine Sünden. Es steht bei ihm von vornherein fest, dass der Herr kein Tyrann ist, der ungerecht gegen ihn wütet, sondern ein billiger Richter, der nur dann zürnt, wenn er beleidigt worden ist. Wollen wir also Gott das rechte Lob zukommen lassen, so lasst uns an Davids Beispiel lernen, seinen Zorn in Verbindung zu setzen mit unseren Sünden.
Im folgenden Verse klagt er, dass er durch die ungeheure Last so gedrückt werde, dass die Kraft ihm ganz und gar ausgehe, doch bestätigt er auch aufs Neue die vorhergehende Lehre, dass Gott sich gegen ihn mit Recht so ernst und furchtbar zeige. Freilich regen sich verführerische Gedanken. Wie hart behandelt Gott dich! Gewiss will er dich verderben und zu Grunde richten, da er gar nicht daran denkt, dir Erleichterung zu verschaffen. Er verachtet nicht nur deine Seufzer, sondern je zerschlagener er dich sieht, umso grimmiger verfolgt er dich. Aber solch unfrommen Gedanken wehrt David den Zugang und hält ihnen als Schild entgegen, dass er nach gerechtem Urteil Gottes gezüchtigt werde. Schon kurz zuvor hat er die ganze Härte des göttlichen Zorns seiner Sünde zugeschrieben, und bald werden wir ihn aufs Neue aussprechen hören, dass er alles, was er erduldet, durch seine Torheit verdient habe. Obgleich es den Anschein hat, als ob er mit Gott streite, indem er sein Unglück beklagt, so bleibt er doch bei dem bescheidenen Bekenntnis, dass Gottes Strafe das Maß nicht überschritten habe, dass also ihm selbst nur übrig bleibe, Abbitte zu tun. Die Gottlosen dagegen lehnen sich, wenn ihr Gewissen sie auch noch so sehr anklagt, gegen Gott auf, - wie die unbändigen Tiere mit ihren Zähnen die Ketten beißen, durch die sie gebunden sind.
V. 6. Meine Wunden stinken. In diesem Verse weist David auf die lange Dauer seiner Leiden hin, um dadurch Erleichterung zu erlangen. Wenn Gott bei Jesaja (40, 2) seinem Volk verkündet, dass sein Knechtsdienst nun beendet sei, weil es Zwiefältiges um seine Sünde empfangen habe, so gibt er zu verstehen, dass er sich zur rechten Zeit besänftigen will, wenn er genug gestraft hat. Ja, wenn die Heimsuchung längere Zeit gedauert hat, so wird er ihrer nach seiner Milde gleichsam überdrüssig, so dass er mit seiner Erlösung eilt, - wie er an einer anderen Stelle (Jes. 48, 10) sagt: „Ich will dich läutern, aber nicht wie das Silber, um dich nicht zu verderben.“ Davids Klage über die lange Dauer seines Leidens zielt also darauf, dass er nach Erduldung der gerechten Strafe nun endlich Erleichterung erfahren möchte. Es war dieses aber für den Knecht Gottes keine leichte Versuchung, so lange krank zu sein und so zu sagen in seinen Leiden zu verfaulen. Umso mehr ist hierbei seine Standhaftigkeit zu bewundern, die weder durch das lange Warten gebrochen wurde, noch der gewaltigen Last der Leiden unterlag. Torheit steht hier für Sünde. Durch diese Bezeichnung will er aber nicht seine Schuld verringern, wie die Heuchler, die, wenn sie ihre Schuld nicht ableugnen können, sie doch zum Teil entschuldigen, indem sie Unwissenheit vorgeben, und sich dadurch zu decken suchen, dass sie aus Versehen oder Unachtsamkeit gefehlt hätten. Mit dem Worte Torheit will David sagen, dass er unsinnig gewesen sei, da er sich durch die Begierde des Fleisches zum Ungehorsam gegen Gott habe verleiten lassen. Sicherlich will der heilige Geist, wenn er bisweilen die schlimmsten Verbrechen mit diesem Worte benennt, dadurch nicht die Schuld der Menschen verkleinern, als hätten sie nur leicht gefehlt. Vielmehr beschuldigt er sie dadurch der wahnsinnigen Wut, dass sie, durch schlechte Begierden verblendet, sich gegen ihren Schöpfer auflehnen. Solche „Torheit“ ist also immer eine schwere Sünde: und so meint es David auch hier.
V. 7. Ich gehe krumm usw. Diese Beschreibung zeigt deutlich, dass der heilige Mann die allerschlimmsten Schmerzen erdulden musste. Daher muss man sich wundern, dass sein Glaube noch kräftig genug war, um den Geist zu erheben. Des Weiteren scheint der Ausdruck, dass er krumm und demütig gehe, im Gegensatz gegen die Hartnäckigkeit vieler andern gewählt, die selbst durch viele Züchtigungen Gottes sich nicht demütigen lassen, sondern in ihrer Verhärtung gegen ihn ankämpfen. Denn wenn es auch nicht ausbleiben kann, dass sie durch ihre Leiden gequält werden, so verhärten sie sich doch gewissermaßen gegen dieselben. David sucht daher seinen himmlischen Richter durch den Umstand zum Mitleid zu bewegen, dass er nicht zu der Zahl der Verstockten gehört, die mit steifem Rücken aufgerichtet gegen Gottes Hand stehen, sondern dass er demütig am Boden liege. Ebenso ermahnt auch der Apostel alle Frommen, sich unter die starke Hand Gottes zu demütigen (1. Petr. 5, 6). Daraus wollen wir lernen, dass es kein anderes Mittel zur Erleichterung unserer Leiden gibt, als alle Hartnäckigkeit abzulegen und sich unter Gottes Züchtigungen zu beugen.
V. 8 u. 9. Denn meine Lenden verdorren usw. Mit den verschiedensten Wendungen beschreibt David, wie unerträglich heftig sein Schmerz ist. Freilich gilt es für unmännlich, zu schreien und zu stöhnen. Wir wissen aber, dass David nicht weichlich und wohl imstande war, Übel zu ertragen. Darum müssen wir auf ganz furchtbare Qualen schließen, wenn er nicht nur weint, sondern sich sogar zum Schreien gezwungen fühlt.
V. 10. Herr, vor dir ist alle meine Begierde. Dies fügt er nicht so sehr in Rücksicht auf Gott hinzu als vielmehr, ums ich in der Hoffnung auf Erhörung zu stärken und sich so zum Beten anzutreiben. Übrigens kann die Stelle doppelt verstanden werden: entweder betont David, dass seine Bitten und Seufzer beim Herrn Erhörung finden, oder er bezeugt, dass er seine Sorgen und Beschwerden in Gottes Hand ausgeschüttet habe. Das letzte Ziel des Gedankens wäre in beiden Fällen das gleiche. Denn so lange die Menschen in Ungewissheit sind, ob ihre Seufzer zu Gott gelangen, zerrt eine traurige Bestürzung sie hin und her und hält ihre Gedanken gefangen, so dass sie sich nicht zu Gott erheben können. Die Freudigkeit zum Beten kommt dann, wenn wir überzeugt sind, dass unsere Seufzer nicht in der Luft verhallen, sondern freundlich von Gott erhört werden. Es musste daher für David ein großer Trost sein, dass er sich nicht mit zweifelndem und ungewissem Herzen zu Gott zu nahen brauchte, sondern, wie schon gesagt, bereits im Voraus versichert sein konnte, dass er erhört werde, - wie er an einer anderen Stelle sagt, dass seine Tränen von Gott in einen Krug gesammelt würden (Ps. 56, 9). Soll der Zugang zu Gott uns offen stehen, so müssen wir glauben, dass er selbst der Vergelter sein wolle, wie der Apostel dies Hebr. 11, 6 ausspricht. Immerhin bevorzuge ich die zweite Auslegung, wonach David berichtet, dass er seine Bekümmernis Gott geklagt habe. Die meisten Menschen haben deshalb keinen Nutzen davon, dass sie in ihren Schmerzen wehklagen, weil sie ihre Bitten und Seufzer nicht an Gott richten. Daher sagt David, um sich mit fruchtloser Sicherheit versprechen zu können, dass Gott sein Erlöser sein werde, dass dieser immer Zeuge seiner Angst gewesen sei und sie wohl kenne. Er habe sich nicht innerlich zerfleischt, habe auch nicht seine Klagen und sein Geheul in die Luft gesandt, wie die Ungläubigen zu tun pflegen, sondern er habe alles, was sein Herz bewegte, vor Gott offengelegt.
V. 11. Mein Herz bebt. Wenn die Menschen in Ungewissheit sind, so wenden sie sich nach allen Seiten hin. Dadurch kommt ihr Herz in Unruhe und bebt. Aber der Glaube hält, wenn er uns zum Gehorsam gegen Gott gebracht hat, unseren Sinn an Gottes Wort gebannt. Daher kann man wohl die Frage aufwerfen: Wie konnte Davids Herz in solche Unruhe kommen? Ich antworte, dass, wenn David auch, gestützt durch die Verheißungen Gottes, auf seinem Standpunkt verharrte, so war er doch nicht frei von menschlicher Schwachheit. Es kann ja nicht ausbleiben, dass unser Fleisch uns, sobald wir in irgendeine Gefahr geraten, auf allerlei Gedanken bringt, und uns, wenn wir uns selbst Rat schaffen wollen, auf viele verkehrte Wege führt. Hierbei kann auch der Festeste schwankend werden, wenn er sich nicht jenen Zügel anlegt, mit dem David sich selbst zügelte und in Schranken hielt, indem er nämlich seine Empfindungen ganz an die Schranken des Wortes Gottes band. Wenn wir in der Stille beten, so erfahren wir zur Genüge, wie sehr unsere Gedanken herumschwärmen, und wie schwer es hält, sie bis zuletzt immer gespannt auf einen Punkt zu richten. Wenn dieses schon ohne ernste Prüfung eintritt, was wird dann erst werden, wenn sich schwere Stürme gegen uns erheben, wenn der Tod von tausend Seiten droht und kein Ausgang sich zeigt? Daher dürfen wir uns nicht wundern, dass Davids Herz bebte und dass er bei den wilden Stürmen hin und her bewegt wurde. Er setzt noch hinzu: meine Kraft hat mich verlassen, womit er sich etwa einem Toten vergleicht. Die folgende Wendung: das Licht meiner Augen ist nicht bei mir, verstehen einige dahin, dass ihm alle Einsicht und Umsicht abhandengekommen wäre, weil völlige Verzweiflung ihn bedrückte. Einfacher werden wir doch daran denken, dass ihm Licht und Kraft des Lebens genommen war, die vornehmlich im Auge sich ausdrückt.
V. 12 u. 13. Meine Lieben und Freunde treten zurück. Der Hinweis auf diese weiteren Umstände, die Davids Leidensdruck noch verstärken, soll Gottes Mitleid erregen. Erstlich hat David zu erinnern, dass er bei Menschen gar keine Hilfe und Trost findet. Wenn er nämlich sagt, dass seine Lieben von ferne stehen, so meint er damit, dass sie alle Pflichten der Nächstenliebe gegen ihn versäumen. Dies konnte entweder aus Hochmut oder aus Furcht geschehen. Wenn sie sich verächtlich von dem unglücklichen Menschen zurückzogen, so waren sie grausam und stolz, wenn sie ihm dagegen aus Furcht vor Missgunst die Hilfe versagten, so war das eine Furchtsamkeit, die durchaus nicht zu entschuldigen ist. Indessen wurde Davids elende Lage dadurch bedeutend vergrößert, dass nicht einmal seine Lieben und Freunde ihm ein Zeichen ihres Mitleids zu geben wagten. Es ist dieses eine sehr schwere Versuchung, wenn jemand viele Freunde hat und dann von allen verlassen wird.
Dazu kommt ein zweiter Umstand (V. 13), dass die Feinde ihm Fallstricke legten, sich besprachen, wie sie ihn verderben könnten, und untereinander Ränke schmiedeten. Während die Freunde untätig sind, sind die Feinde rührig und eifrig bestrebt, ihn zu verderben. Er sagt, dass sie ihm nach dem Leben trachten. Denn da sie seine Todfeinde sind und blutdürstige Menschen, so genügt ihnen ein geringer Schaden nicht, sondern sie brennen vor Begierde, ihn zu verderben. Jedoch beklagt er sich nicht so sehr darüber, dass sie mit Waffengewalt gegen ihn wüten, als vielmehr darüber, dass sie ihre listigen Anschläge machen. Diese bezeichnet er zunächst bildlich als Schlingen, die sie ihm leben, um ihm „nachzustellen“. Dann fügt er ohne Bild hinzu, dass sie reden, wie sie Schaden tun wollen, und dass sie gleichsam im Geheimen flüstern, wie sie ihm Verderben bereiten wollen. Nun ist es gewiss, dass David hier keine schönen Redensarten gebraucht, um Gott sich geneigt zu machen, sondern dass er vielmehr Beweise aus dem Worte Gottes nimmt. Deshalb müssen wir uns die Gedanken, die er hier zusammenstellt, um seinen Glauben zu stärken, nutzbar machen. Wenn uns alle irdische Hilfe im Stiche lässt, wenn die einen ihre Pflicht gegen uns vernachlässigen und die andern auf nichts anderes sinnen, als uns zu ermorden, so müssen wir daran denken, dass hier dies alles dem Herrn nicht umsonst im Gebet vorgetragen wird, da es ja sein eigentliches Amt ist, den Elenden zu Hilfe zu kommen und Menschen, die treulos verlassen sind, in seinen Schutz zu nehmen, die Bösen im Zaume zu halten und nicht nur ihrem Mutwillen entgegen zu treten, sondern auch ihre Ränke zu vereiteln.
V. 14 u. 15. Ich aber muss sein wie ein Tauber. Aus zwei Gründen vergleicht sich David mit einem Stummen und Tauben. Zunächst will er damit sagen, dass er durch falsche und verkehrte Urteile so belastet war, dass es ihm nicht einmal gestattet wurde, ein Wort zu seiner Verteidigung zu reden. Des Weiteren beschreibt er in diesem Bilde vor Gottes Angesicht seine Geduld, um den Herrn noch mehr zum Erbarmen zu bewegen. Denn eine solche Sanftmut setzt unglückliche und unschuldige Menschen nicht nur in Gunst bei den Leuten, sondern ist auch ein Zeichen wahrer Frömmigkeit. Diejenigen nämlich, die von der Welt abhängig sind und sich nur durch die Rücksicht auf die Menschen bestimmen lassen, zeigen dann, wenn sie die Ungerechtigkeiten, die ihnen angetan sind, nicht rächen können, durch ihr Schreien, wie wenig Selbstbeherrschung sie besitzen. Will jemand ruhig und ohne Erregung den Mutwillen der Feinde, ungerechte Angriffe, Schmähungen und Ränke ertragen, so muss er notwendig auf Gott vertrauen. Übrigens wird ein jeder, dem es feststeht, dass Gott sein Rächer ist, in Hoffnung sich stille halten, und indem er den Herrn um Hilfe anfleht, seine Leidenschaften bändigen. Daher sagt auch Paulus (Röm. 12, 19) sehr passend, dass dem Zorne Raum gegeben werde, wenn wir, obgleich von der Welt bedrückt, trotzdem in Gott ruhen. Wohingegen ein jeder, der seinen Leidenschaften die Zügel schießen lässt, der Rache Gottes, soweit dies in seiner Macht steht, vorgreift und seiner Hilfe den Zugang verschließt. Es ist ja sicher, dass David, falls er Gehör gefunden hätte, bereit gewesen wäre, seine Unschuld zu verteidigen; aber da er dadurch nichts erreichen konnte und sah, dass jeder Schutz ihm abgeschnitten und versagt war, so fasste er sich in Geduld und wartete auf den himmlischen Richter. Er sagt also, dass er geschwiegen habe, als wenn er schon überwunden und zum Schweigen gebracht worden wäre. Es ist aber sehr schwer, dass wir dann, wenn wir ein gutes Gewissen haben, geduldig und mit geschlossenem Munde die ungerechte Verurteilung ertragen, als ob alle Gründe uns fehlten und als ob wir keine Entschuldigung mehr hätten.
V. 16. Aber ich harre, Herr, auf dich. Hier zeigt David die Quelle seiner Geduld. Im Vertrauen auf Gottes Gnade hat er alle Versuchungen der Welt überwunden. Und sicherlich wird nur der zur Milde geneigt sein und nur der seine Erregung beherrschen, der gelernt hat, sich auf die Warte der Hoffnung zu stellen. Zugleich setzt er hinzu, dass er durch fortwährende Betrachtung seine Hoffnung genährt habe, um nicht schwach zu werden. Das ist auch das einzige Mittel; denn nur dann sind wir fähig auszuharren, wenn wir uns mit Gottes Verheißungen wappnen und ihn dann mit unseren Gebeten angehen. Ja indem wir seine Treue und seine Beständigkeit in der Aufrechterhaltung seiner Verheißungen uns vor Augen stellen, werden wir Gottes Fürsprecher wider uns selbst. Daher verbindet auch Paulus (Röm. 5, 4) nicht ohne Grund mit der Hoffnung und dem Troste die Geduld. Indem nun David wiederholt: „Herr, … Herr“, erkennen wir, in welch hartem und schwierigem Ringen der heilige Mann stand. Da Gott zögerte, so hätte er leicht aus Verdruss mutlos werden oder in Verzweiflung geraten können, wenn er nicht dieses doppelte Bollwerk aufgeführt und dahinter standhaft und furchtlos gekämpft hätte.
V. 17. Denn ich denke: dass sie sich ja nicht über mich freuen usw. In seinem Glauben und in seinem Gebetseifer wird David noch durch den Umstand gestärkt, dass seine Feinde, falls er verlassen worden wäre, über ihn triumphiert haben würden. Eine solche Schmach ist aber vor Gott von so großer Bedeutung, dass er sich dadurch bestimmen lässt, uns Hilfe zu bringen. Denn wenn die Bösen frech schmähen, so bekriegen sie nicht nur unser Fleisch, sondern sie greifen geradeswegs unseren Glauben an und versuchen alles, was von Frömmigkeit in uns vorhanden ist, zu erschüttern. Welch anderen Zweck haben ihre Spottreden, als uns zu überreden, dass alles, was Gott verheißen hat, eitel und leer sei? David fügt hinzu, dass diese Furcht bei ihm nicht unbegründet sei, da er ihren frechen Stolz schon erfahren habe: da mein Fuß wankte usw. Wir lernen aber aus dieser Stelle, gerade dann auf die nahe Hilfe Gottes zu hoffen, wenn unsere Feinde besonders grausam und frech gegen uns sind und uns in ihrem großen Stolz unter ihre Füße treten.
V. 18. Denn ich bin nahe am Erlahmen. Das deuten viele Ausleger dahin, dass David an einer Wunde gelitten habe, die leicht Erlahmung zur Folge haben konnte. Wir könnten uns aber ebenso gut den Propheten Jeremia als einer Lähmung nahe vorstellen, weil er (20, 10) von seinen Feinden sagt, dass sie nach seinem Erlahmen ausschauen.1) In Wirklichkeit haben wir es mit einer Redeweise zu tun, durch die David anzeigt, dass, wenn Gott ihm nicht rasch zu Hilfe komme, er gar keine Hoffnung mehr habe, seine frühere Stellung wieder zu erlangen, denn er sei so zerschlagen, dass er dann sein ganzes Leben lang verstümmelt und schwach einhergehen müsse. Zur Erklärung dient die folgende Aussage: „mein Schmerz ist immer vor mir.“ David ist also derartig bedrängt, dass er nicht einmal für einen Augenblick Erleichterung erfährt und seinen Schmerz vergessen kann. In beiden Sätzen erklärt er, dass sein Übel unheilbar sei, wenn er von Gott kein Heilmittel erhalte, und dass er dasselbe nicht ertragen könne, wenn er nicht durch Gottes Hand gestützt und aufrechterhalten würde. Aus diesem Grunde richtet er alle seine Gedanken und Bitten allein an Gott. Sobald er sich von diesem abwendet, sieht er den sicheren Untergang vor sich.
V. 19 bis 21. Denn ich zeige meine Missetat an. Durch den Vergleich tritt noch deutlicher heraus, was David soeben von dem Hochmut und den Schmähungen seiner Feinde sagte: während er selbst in Schmutz und Unreinigkeit dalag wie ein Verbrecher, flogen jene frei und fröhlich umher; übermütig erhoben sie ihr Haupt, weil sie mächtig und reich waren. Doch haben wir zunächst zu untersuchen, wie David es meint, dass er seine Missetat anzeige. Schwerlich wird er wie Psalm 32, 5 einfach sagen wollen, dass er seine Sünde vor Gott aufdecke, um Vergebung zu erlangen. Denn im vorliegenden Zusammenhang ist nicht von Buße die Rede, sondern David beklagt seinen traurigen und elenden Zustand. Darum werden hier als „Missetat“ und „Sünde“ jene Heimsuchungen und Sündenstrafen bezeichnet, die ein Zeichen des göttlichen Zorns waren. David will sagen, dass Gott seine Hand widrig und feindlich gegen ihn ausstrecke, - wie denn die Welt gemeinhin aus dem Anblick von Elend zu schließen pflegt, dass der betreffende Mensch verdammt und verworfen sei.
Soll der Sinn ganz deutlich werden, so müssen wir die beiden Verse (19 u. 20) in gegensätzlicher Verbindung lesen: Ich zeige meine Missetat an – aber meine Feinde leben; ich sorge von wegen meiner Sünde – die mich hassen, derer ist viel. Dabei leugne ich jedoch nicht, dass David die Leiden, von denen er spricht und die er erduldet, aus seinen Sünden ableitet. Denn unterscheiden die Frommen sich von den Weltkindern, dass sie durch das Unglück sich auf ihre Schuld hinweisen lassen und nun mit demütiger Abbitte vor Gottes Richterstuhl erscheinen. Indem also David aus den Zeichen und Wirkungen auf die Ursache zurückschließt, fasst er zweierlei zusammen: erstlich, dass er unter einer ungeheuren Last von Leiden zu Boden geworfen wird, und sodann, dass alle diese Leiden gerechte Züchtigungen sind. Dass seine Feinde leben,will besagen, dass sie sich im Glück fröhlich bewegen. In diesem Sinne wird auch hinzugefügt, dass sie mächtig sind. Wenn David betont, dass sie ihn unbillig hassen,so will er damit den Herrn umso günstiger gegen sich stimmen. Und sicherlich: wenn Gott uns mit seiner Gunst beschützen soll, so müssen wir uns immer Mühe geben, dass wir niemanden verletzen und keines Menschen Hass gegen uns erregen.
Gleich darauf folgt dann der Beweis für diese Behauptung (V. 21), indem David seine Feinde beschuldigt, dass sie ihm Arges tun um Gutes. Damit sagt er nicht bloß, dass er sich von jeder Bosheit gegen sie ferngehalten, sondern dass er sich sogar um sie wohl verdient gemacht habe. Umso weniger ist ihre Wut zu entschuldigen, die sie nicht nur ohne Grund treibt, anderen zu schaden, sondern auch durch keine Wohltat besänftigt werden kann. Diese Unwürdigkeit, dass die bösen und verkehrten Menschen eine so unbillige Vergeltung üben, quält edle Geister allerdings sehr. Aber es ist hierbei ein Trost, dass Gott durch diese Undankbarkeit nicht weniger beleidigt wird als diejenigen, die dieses Unrecht erfahren. Deshalb haben sie auch keine Ursache, sich darüber besonders zu erregen. Zur Linderung unseres Schmerzes diene vielmehr die Erkenntnis, dass Gott gewisslich als Richter auftreten wird, wenn gottlose Leute unsere Wohltaten mit Unrecht vergelten. Endlich beschreibt David den höchsten Grad verzweifelter Bosheit: sie setzen sich wider mich, darum dass ich ob dem Guten halte.Wie verkehrt und ganz bösen und verdrehten Geistes müssen Leute sein, die ein rechtschaffenes Wesen derartig hassen, dass sie absichtlich Krieg wider die eröffnen, die ihm nachjagen! Es ist allerdings eine schwere Versuchung, dass die Frommen, je lauterer sie bestrebt sind, Gott zu verehren, sich umso mehr Schwierigkeiten bereiten. Aber der Trost muss ihnen reichlich genügen, dass nicht nur ihr gutes Gewissen für sie spricht, sondern dass sie gerade in solcher Lage Gottes Barmherzigkeit mehr und mehr zu spüren bekommen. Durch diese Zuversicht gestärkt, werden sie es auch wagen, vor Gottes Angesicht hinzutreten und, da ihre Sache auch seine Sache ist, ihn freundlich zu bitten, dass er diese Sache beschütze. Sicherlich schreibt David dieses allen Gläubigen durch sein Beispiel als Regel vor, dass sie lieber allen Hass der ganzen Welt auf sich laden, als im geringsten ihre Pflicht versäumen, und dass sie nicht davor zurückschrecken, diejenigen zu ihren Feinden zu haben, von denen sie sehen, dass sie Gegner alles Guten und aller Gerechtigkeit sind.
V. 22 u. 23. In diesem Schluss fasst David noch einmal kurz seinen Herzenswunsch und den Hauptinhalt seines ganzen Gebets zusammen, nämlich dass Gott ihn, der von allen Menschen verlassen und auf alle Weise elend zerschlagen ist, aufnehme und aufrichte. Er gebraucht drei Redewendungen: Gott möge ihn nicht verlassen, Gott möge nicht ablassen für ihn zu sorgen, und Gott möge nicht ferne von ihm sein, sondern mit seiner Hilfe eilen. David war allerdings überzeugt, dass der Herr seinem Diener immer nahe sei und dass er keinen Augenblick länger warte, als nötig. Aber wie wir schon sonst gesehen haben, ist es nicht zu verwundern, dass die Heiligen, wenn sie ihre Sorgen und Bekümmernisse Gott klagen, ihre Gebete nach den Gefühlen ihres Fleisches formen. Man darf sich nämlich nicht schämen, seine Schwachheit einzugestehen, und es nützt auch nichts, dass man seine Zweifel zu verdecken sucht. Doch wenn diese Verzögerung David auch nach seinem Fleische lästig war, so zeigt er doch durch ein Wort deutlich, dass er nicht zweifelnd betet. Er nennt nämlich Gott seine Hilfe oder den Beschützer seines Heils. So setzt er allem Ansturm wider seinen Glauben die Mauer entgegen, dass seine Hilfe nichts desto weniger unzweifelhaft bei Gott stehe.