Calvin, Jean - Psalm 27.
Inhaltsangabe: In diesem Psalm gibt uns David Wünsche und Gedanken wieder, die ihn in den größten Gefahren bewegt haben. Denn die Danksagung, die er hier hinzusetzt, weist darauf hin, dass er ihn nach seiner Errettung gedichtet hat. Es kann aber auch sein, dass er hier Bitten zusammenstellt, die bei verschiedenen Betrachtungen bei ihm aufgestiegen waren. Man kann hier sehen, welch eine unbesiegbare Seelengröße dieser Mann besaß, dass er auch die schwersten Beleidigungen der Feinde überwand. Seine wunderbare Frömmigkeit zeigt sich auch darin, dass er nur zu dem Zweck zu leben wünscht, um Gott zu ehren, und dass er durch keine Angst und keine Sorge von diesem Vorhaben abgebracht werden konnte.
V. 1. Der Herr ist mein Licht usw. Dieser Anfang könnte dahin verstanden werden, dass David, weil er Gottes Erbarmen schon erfahren hat, hier seinen Dank bezeugt. Ich neige mich jedoch mehr zu der entgegengesetzten Ansicht, dass er im Hinblick auf den Kampf mit bevorstehenden schweren Prüfungen sich stärkt und Grund zur guten Zuversicht sucht. Denn die Heiligen haben sehr harte innere Kämpfe durchzumachen, um die Zweifel, zu denen das Fleisch nur zu sehr geneigt ist, zurückzudrängen und zu überwinden, damit sie die rechte Freudigkeit zum Beten bekommen. In David hatte ein wilder Sturm getobt, aber endlich war er zur Ruhe gekommen. Nun bricht er über die Sorgen, die ihn gequält, in den Segensruf aus, dass wir nichts zu fürchten haben, wenn Gott uns geneigt und günstig ist. Daraus erklärt sich auch die Häufung der Wörter. Er nennt den Herrn nicht nur sein Licht, sondern auch sein Heil, ferner die Kraft, genauer den Fels oder die Schutzwehr seines Lebens. Er hält den verschiedenen Ängsten diesen dreifältigen Schild entgegen, der imstande ist, sie abzuhalten. Als „Licht“ wird bekanntlich der Inbegriff eines innerlich fröhlichen und glücklichen Lebens bezeichnet. Die beiden anderen Ausdrücke werden zur Erklärung hinzugefügt: denn allein Gottes Hilfe reicht aus, um uns zu sichern und unser Leben vor den Schrecken des Todes zu behüten. Und wir werden finden, dass alle Furcht nur daher kommt, dass wir unser Leben gar zu lieb haben und dabei doch nicht Gott als dessen Hüter hinreichend kennen. Ruhe des Gemüts kann sich allein auf die Überzeugung gründen, dass unser Leben wohl bewahrt ist, weil Gott es mit seiner Hand und Kraft schützt. Die Frageform lässt erkennen, wie zuversichtlich David auf Gottes Schutz traut und wie kühnlich er aller Feinde und Gefahren spottet: vor wem sollte ich mich fürchten!? Und gewiss gibt man dem Herrn nur dann die rechte Ehre, wenn man im Vertrauen auf seine Hilfe sich seines gewissen Heils zu rühmen wagt. Es ist als hätte David eine Wage in der Hand und legte in dessen eine Schale alle Macht der Welt und der Unterwelt, - und das alles erweist sich leichter als eine Feder, weil der einige Gott es mehr als aufwiegt. Daraus wollen wir lernen, wie hoch wir Gottes schützende Macht einschätzen müssen: sie darf alle Furcht in uns überwinden. Freilich kann das Gemüt der Gläubigen bei der Schwachheit des Fleisches nicht immer von aller Bangigkeit unberührt bleiben: aber wir können doch alsbald wieder Mut fassen und aus unserer erhabenen Burg zuversichtlichen Glaubens auf alle Gefahren herabsehen. Leute, die niemals Gottes Gnade geschmeckt haben, müssen dagegen zittern, weil sie auf einen Gott, den sie als feindlich oder wenigstens weit entfernt empfinden, sich nicht stützen können. Wenn jedoch Gottes Verheißungen vor unseren Augen stehen und uns seine Gnade vergegenwärtigen, so wäre es hässlicher Unglaube und schwarzer Undank, wollten wir nicht wagen, mit unerschrockenem Mut den Herrn wider alle unsere Feinde zu stellen. Da uns nun Gott so freundlich zu sich einlädt und sich als Hort unseres Heils anbietet, so sollen wir seine Verheißungen ernstlich in fester Zuversicht zu ihrer Wahrheit erfassen und sodann seine Macht so hoch erheben, dass unsere Seele zur Bewunderung fortgerissen wird. Denn wir haben uns immer den Vergleich zu vergegenwärtigen: was sind alle Kreaturen gegen Gott? Diese Zuversicht dürfen wir dann auch noch weiter ausdehnen, um alle Angst unseres Gewissens zu zerstreuen, - wie Paulus dies tut, wenn er im Blick auf das ewige Heil ausruft (Röm. 8, 31): „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“
V. 2. So die Bösen an mich wollen usw. Diese Aussagen beziehen viele Ausleger auf die Zukunft: aber im Grundtext stehen Vergangenheitsformen. Halten wir uns daran, so ist noch immer ein doppeltes Verständnis möglich. Entweder berichtet David jetzt rühmend, wie schon früher durch Gottes Hilfe seine Feinde zu Fall kamen. Oder – und dies leuchtet mir am meisten ein – er erzählt uns, wie er inmitten seiner Anfechtungen sich durch die Erinnerung an die früheren Wohltaten Gottes zu fröhlicher Hoffnung ermuntert habe. In jedem Falle will David sagen, dass kein Grund vorliege, für die Zukunft an der Hilfe Gottes, die er früher erfahren hat, zu zweifeln. Denn nichts vermag den Glauben mehr zu stärken als die Erinnerung an Ereignisse, bei denen Gott einen deutlichen Beweis sowohl seiner Gnade als auch seiner Wahrheit und Macht gegeben hat. Ich verbinde daher diesen Vers mit dem folgenden. In diesem ersten Verse vergegenwärtigt David sich die Siege, die er früher unter Gottes Leitung gewonnen hat. Daraus zieht er dann im folgenden Verse den Schluss, dass er, wenn auch noch so viele Heere auf ihn eindringen und die Feinde das Äußerste versuchen, doch unerschütterlich bleiben werde. Er nennt seine Feinde „die Bösen“, um damit seine Unschuld zu bezeugen. Und ihre unmenschliche Rohheit kennzeichnet er mit dem Ausdruck, dass sie an ihn wollen, um sein Fleisch zu fressen.
V. 3. Wenn sich schon ein Heer wider mich legt usw. Auf Grund seiner Erfahrung spricht David, wie gesagt, die Meinung aus, dass man in jedem erdenklichen Unglück guter Hoffnung sein müsse und dass man an der Macht Gottes, die man früher schon aus Erfahren kennen gelernt hat, nicht zweifeln dürfe. Dies hat er ja auch schon im ersten Verse bezeugt. Aber nachdem er die Beweise hierfür angeführt hat, wiederholt er es noch einmal. Unter den Worten „Heer“ und „Krieg“ begreift er überhaupt alles Schreckliche, was es auf Erden gibt. Er will etwa sagen: Wenn alle Sterblichen sich auch zu meinem Untergange verbinden, so blicke ich doch mit Geringschätzung auf sie herab, weil Gottes Kraft ihnen über ist, und weil ich weiß, dass diese mir zur Seite steht. Die Betonung: so fürchtet sich dennoch mein Herz nicht – will freilich nicht besagen, dass ihn nie eine Furcht anwandelt: das würde mehr ein Zeichen von Stumpfsinn als von Tapferkeit sein. Aber er hält ihr den Glauben als Schild entgegen, damit sein Herz bei all dem Schrecklichen, das auf ihn eindrängt, nicht unterliege.
So verlasse ich mich darauf. Manche Ausleger verknüpfen dies mit dem folgenden Verse: David setze darauf sein Vertrauen, dass er im Hause des Herrn bleiben werde. Aber es ist vielmehr der Anschluss an das Vorhergehende zu suchen. Denn der Glaube bringt dann seine Frucht zu seiner Zeit, wenn wir mitten in den Gefahren tapfer und unverzagt aushalten. David meinte also, dass darum seine Hoffnung im entscheidenden Augenblick unbesiegt bleiben werde, weil er sich auf Gottes Schutz verlässt.
V. 4. Eins bitte ich vom Herrn usw. Bei diesem Gebet denken manche Ausleger an die Weissagung von einem beständigen glücklichen Stande des Königreichs, auf welche sich nicht bloß Davids persönliches Glück, sondern auch das Wohlergehen des ganzen Volkes gründete. Dann würden die Worte etwa bezeugen, dass David sich mit diesem unvergleichlichen Zeugnis der Gnade zufrieden geben und Tag und Nacht an nichts anderes denken wolle. Mir scheint jedoch, dass der Sinn einfacher ist. David war aus seinem Vaterlande verbannt, seiner Gattin beraubt, von seinen Verwandten getrennt, ja aller Mittel entblößt. Aber das Verlangen hiernach war es nicht, was ihn vor allem quälte. Das Kreuz, das ihn vornehmlich drückte, war, dass er von dem Heiligtum Gottes abgeschnitten war und an dem Gottesdienste nicht teilnehmen konnte. Das Wort „Eins“ steht im Gegensatz zu allem anderen. Er sieht von allen Annehmlichkeiten ab und denkt nur an den Gottesdienst. Dass er von Hause vertrieben war, war für ihn nicht so bitter, als dass er von dem Heiligtum getrennt war. Die Worte: „Eins bitte ich“, und „das hätte ich gerne“, gehören also zusammen. Denn es ist nicht anzunehmen, dass er mit dem ersten Satz irgendeinen verborgenen Wunsch andeutet, den er unterdrückte. Er spricht ja ganz klar aus, welche Sorge ihn am meisten quält. Dann bezeugt er die Beständigkeit seines Vorsatzes. Er sagt, dass er Tag und Nacht nicht aufhöre, diese Bitten zu wiederholten. Wir sehen ja sonst, dass bei vielen, die mit großem Eifer beginnen, derselbe nicht nur im Laufe der Zeit ablässt, sondern oft fast im Augenblick aufhört. Durch die Versicherung, dass er während seines ganzen Lebens bei seinem Gebetsanliegen verharren wolle, unterscheidet sich David also von den Heuchlern. Aber aus welchem Grunde trug er hiernach ein so großes Verlangen? David konnte doch gewiss auch außerhalb des Tempels Gott anbeten; und wohin er auch als Flüchtling verschlagen ward, überall nahm er die herrliche Verheißung mit sich, so dass er des Anblicks des äußeren Gebäudes nicht bedurfte. Es scheint fast, als habe er in irgendwelcher Weise eine zu grobe Vorstellung von Gott gehabt, so dass er ihn sozusagen in Holz und Stein einschloss. Doch wenn wir die Bedeutung dieser Worte verständig erwägen, so werden wir leicht finden, dass er etwas anderes im Sinne hatte als den Anblick des herrlichen Gebäudes oder irgendeines prächtigen Schmuckes desselben. Er redet allerdings von der Schönheit des Tempels, aber er denkt dabei nicht so sehr an das, was den Augen sich darbietet, als vielmehr an das himmlische Urbild, das dem Mose gezeigt wurde, wie es heißt (2. Mo. 25, 40): „Siehe, dass du es machest nach dem Bilde, das du auf dem Berge gesehen hast.“ Weil die Form des Tempels nicht willkürlich von Menschen bestimmt, sondern derselbe ein Bild geistlicher Dinge war, deshalb sind die Augen und alle Sinne des Propheten auf diesen Zweck des Tempels gerichtet. Daher ist es eine abscheuliche Verrücktheit, wenn einige sich auf diese Stelle berufen, um die Bilder und Götzen zu verteidigen. Diese sind durchaus kein Schmuck des Tempels, sondern vielmehr ein hässlicher Unrat, durch den die ganze Reinheit des Heiligtums zerstört wird. Jetzt müssen wir noch untersuchen, ob bei denen, die an Christum glauben, ähnliche Gefühle berechtigt sind. Ich gestehe, dass zwischen uns und den Vätern ein großer Unterschied ist. Da Gott jedoch die Seinen noch jetzt unter einer gewissen äußeren Ordnung hält und sie durch die irdischen Hilfsmittel zu sich zieht, so haben auch noch jetzt die Tempel ihren Schmuck, und es ist recht, wenn die Gläubigen sie lieben und sich nach ihnen sehnen. Die Verwerfung des Wortes Gottes, der Sakramente, der öffentlichen Gebete und anderer derartigen Hilfsmittel ist eine gemeine Verachtung Gottes: denn durch diese gibt er sich uns wie in einem Spiegel oder Abbild zu erkennen.
V. 5 u. 6. Denn er deckt mich usw. Hier verspricht David sich, dass sein Gebet nicht umsonst sein werde. Musste er auch für eine Zeit lang auf das sichtbare Heiligtum verzichten, so zweifelt er doch nicht, dass Gottes Hand ihn überall, wo er auch sein werde, schützen wolle. Dass er von einem Schutz in Gottes Hütte redet, ist eine Anspielung auf den Tempel, der für die Gläubigen ein Zeichen der Gegenwart Gottes war. Er will damit sagen, dass sein Wunsch, den er ausgesprochen, nicht unerfüllt geblieben sei, da ein jeder, der Gott in Wahrheit und mit reinem Herzen sucht, wohl geborgen sein wird unter dem Schatten seines Schutzes. So bezeugt er, dass der Tempel kein inhaltloses Bild ist, weil Gott dort gleichsam seine Flügel ausbreite, um die Gläubigen unter seinen Schutz zu nehmen. Daraus zieht er dann den Schluss, dass für ihn, weil es sein Hauptwunsch war, unter diesen Flügeln Zuflucht zu finden, in bösen Zeiten Gottes Schirm immer ein Bergungsort sein werde. Auf die uneinnehmbare Festigkeit dieses Zufluchtsortes deutet er, wenn er ihn einen Felsen nennt. Denn die Burgen wurden früher, um besser geschützt zu sein, auf hohen Plätzen errichtet. Mochte David zurzeit auf allen Seiten von Feinden umringt sein, so rühmt er sich doch, dass er Sieger sein werde. Dass Gott ihn auf diesen Felsen erhöht, sowie (V. 6) dass er sein Haupt erhöhen werde über seine Feinde, will nicht nach dem bekannten biblischen Sprachgebrauch verstanden sein, wonach ein Betrübter als ein Gebeugter bezeichnet wird, wogegen sein Haupt wieder erhöht oder erhoben scheint, wenn er Trost empfängt (Ps. 3, 4). Vielmehr haben wir anschaulich an das Bild einer Belagerung zu denken, der gegenüber sich David auf jenem erhöhten Bergungsort so sicher fühlt, dass er die Geschosse der Feinde verachtet, die ihn sonst durchbohrt hätten. Dass er aber in solcher äußersten Not und Todesgefahr mit Sicherheit auf seinen Sieg vertraut, ist ein ausgezeichneter Beweis seines Glaubens. Wir entnehmen daraus die Lehre, dass man Gottes Hilfe nicht nach dem äußeren Schein und der gegenwärtigen Lage beurteilen darf, sondern dass man mitten im Tode Rettung durch seine siegreiche Hand erwarten muss.
So will ich in seiner Hütte Lob opfern. Mit diesem Gelübde, dass er nach der Rettung aus der Gefahr Dank darbringen wolle, stärkt David noch einmal seine Zuversicht auf Befreiung. Es ist ja bekannt, dass die Gläubigen unter dem Gesetze, wenn sie eine besondere Wohltat Gottes erfahren hatten, Gelübde bezahlten. Hier rühmt David sich nun in seiner Verbannung, durch die er verhindert war, den Tempel zu besuchen, dass er zu dem Altar herantreten werde, um Gott das Lobopfer darzubringen. Es scheint jedoch, dass dieser heilige Jubel und die Lieder, mit denen er Gott danken will, in stillschweigendem Gegensatze stehen zu den unheiligen Triumphliedern der Welt.
V. 7. Herr, höre meine Stimme. Aufs Neue wendet David sich dem Gebet zu. Er berichtet, mit welchen Waffen er die Versuchungen überwunden hat. Dass er „ruft“, ist ein Zeichen der Inbrunst, wie wir schon früher gesagt haben. Hierdurch will er Gott bestimmen, ihm umso rascher zu helfen. Aus demselben Grunde erwähnt er etwas später seine traurige Lage. Denn wenn die Gläubigen hart bedrängt werden, so treibt ihre Not den Herrn dazu, ihnen durch seine Gnade zu helfen.
V. 8. Mein Herz hält dir vor dein Wort. Es ist uns nicht erlaubt, leichtsinnig zu Gott durchzubrechen, sondern wir müssen warten, bis er uns zuerst einlädt. Deshalb berichtet David zunächst, dass er sich vorgehalten habe, wie milde und freundlich Gott den Seinen zuvorkommt, da er sie aus freien Stücken ermahnt, sein Antlitz zu suchen. Dann spricht er aus, dass er dadurch Freudigkeit bekommen habe, diesem Ruf Gottes zu folgen. Die Ausdrucksweise ist im Hebräischen allerdings schwierig: sachlich kann aber kein Zweifel sein, dass wir es mit einer Art Zwiegespräch zwischen Gott und dem Sänger zu tun haben. Denn niemand kann, wie ich schon sagte, im Glauben aufsteigen, um Gott zu suchen, es hätte ihm denn eine Einladung den Zugang erschlossen. Dies lässt sich auch aus einem anderen prophetischen Zeugnis ersehen (Sach. 13, 9), wo Gott spricht: „Ich will sagen: Es ist mein Volk: und sie werden sagen: Herr, mein Gott!“ So zeigt uns David den Schlüssel, welcher die Tür zu Gott erschließt: er stimmt einfach in des Herrn Wort ein und hält ihm seine Verheißung vor, - wie denn ohne solchen Zusammenklang niemand wagen wird, sich an die Spitze eines Chors von Betern zu stellen. Sobald wir jedoch hören, dass Gott uns willkommen heißt, müssen wir alsbald mit Amen antworten. Denn wir müssen seine Verheißungen so ansehen, als wenn ein vertrauter Freund mit uns spräche. Die Gläubigen haben also keine ängstlichen Kunststücke und weiten Umschweife nötig, um sich in Gottes Gnade einzuschmeicheln. Der Weg zu Gott wird ihnen leicht sein, wenn sie nur also bei sich sprechen: Herr, wenn wir auch nicht würdig sind, dass du uns aufnimmst, so gibt uns doch dein Gebot, durch das du uns befiehlst, zu dir zu kommen, Mut genug. Die Stimme Gottes muss also wie ein Echo in unseren Herzen Widerhall finden; aus solchem Zusammenklang wird die Zuversicht zu getroster Anrufung erwachsen. Dass wir Gottes Antlitz suchen sollen, wird meist dahin erklärt, dass wir uns nach seiner Hilfe ausstrecken sollen, als hieße es einfach: „Ihr sollt mich suchen.“ Doch zweifle ich nicht, dass David auch hier auf das Heiligtum anspielt und an die Weise der Offenbarung denkt, durch die Gott sich in gewisser Beziehung sichtbar machte. Wir dürfen uns ja keine groben und fleischlichen Vorstellungen von Gott machen. Da er aber wollte, dass die Bundeslade ein Unterpfand seiner Gegenwart sein sollte, so wird diese nicht unpassend öfters sein Angesicht genannt. Es ist ja freilich wahr, dass wir, so lange wir in dieser Welt leben, von Gott entfernt sind, da dem Glauben das Schauen fehlt. Aber ebenso wahr ist es auch, dass wir den Herrn jetzt im Spiegel und Rätselbild schauen, bis er einst am jüngsten Tage sich uns deutlich offenbaren wird. Ich zweifle also nicht, dass mit diesen Worten die Hilfsmittel bezeichnet werden, durch die Gott uns zu sich erhebt, indem er aus seiner unermesslichen Erhabenheit sich zu uns herablässt und uns auf Erden ein Bild seiner himmlischen Herrlichkeit vorhält. Denn Gott hat allein darüber zu entscheiden, wie wir ihn schauen sollen. Er offenbart sich uns durch das Wort und die Sakramente. An dieser Offenbarung müssen unsere Augen haften bleiben, damit wir nicht auf dieselben Irrwege geraten wie die Papisten, die sich in unheiliger Weise ganz verkehrte Vorstellungen von Gott schaffen, indem sie sich willkürliche, menschlich erdachte Bilder von ihm machen.
V. 9. Verbirg dein Antlitz nicht. In feiner Weise kehrt dieselbe Redewendung wieder. Das Wort „Angesicht“ hat jetzt aber eine etwas andere Bedeutung: denn es bezeichnet die spürbare Wirkung der göttlichen Gnade und Güte. David will etwa sagen: Herr, lass mich tatsächlich erfahren, dass du mir geneigt bist, so dass ich dein kräftiges Wirken in meiner Rettung handgreiflich fassen kann. Zu beachten ist nämlich der Übergang von dem Worte Gottes auf die erfahrungsmäßige Erkenntnis der Gnade. Denn wenn Gott uns wirksam gegenwärtig sein soll, müssen wir ihn zuerst im Worte suchen.
Verstoße nicht im Zorn deinen Knecht. Hier lässt uns David ein Bekenntnis seiner Schuld zwischen den Zeilen lesen. Denn wenn er Gottes Zorn hinwegbeten will, so gesteht er ein, dass der Herr ihn mit Recht verwerfen könnte. Aber er ruft sich die früher erfahrenen Wohltaten ins Gedächtnis zurück: Du bist meine Hilfe. So stärkt er seine Zuversicht auf Erhörung. Indem er den Herrn erinnert, dass er sein Werk nicht unvollendet liegen lassen dürfe, will er ihn bewegen, in seiner Hilfe fortzufahren.
V. 10. Denn mein Vater und meine Mutter verlassen mich. Da aus der heiligen Geschichte deutlich hervorgeht, dass Isai, soweit es in seiner Macht stand, die Pflicht gegen seinen Sohn immer treu erfüllt hat, so verstehen einige diese Stelle bildlich und glauben, dass mit Vater und Mutter die Fürsten und Ratgeber gemeint seien. Das passt aber in keiner Weise. Auch sind ihre Bedenken durchaus unberechtigt. Denn David beklagt sich hier nicht darüber, dass er unmenschlich von seinem Vater und seiner Mutter verraten sei; sondern er gebraucht dieses nur als Vergleich, um Gottes Gnade noch mehr zu verherrlichen. Er will damit sagen, dass er es immer erfahren werde, dass Gottes Gnade ihm zur Seite stehe, auch wenn der Fall eintreten sollte, dass er von aller menschlichen Hilfe verlassen wäre. „Denn“ hat hier also etwa die Bedeutung von „wenn“. David will sagen, dass alles Wohlwollen, alle Liebe, aller Eifer, alle Sorgen und alle treue Pflichterfüllung, die man bei Menschen finden kann, doch bei weitem nicht an das Erbarmen heranreichen, womit Gott der Seinen sich annimmt. Die vollkommenste Liebe findet man gewiss bei den Eltern, die ihre Kinder ebenso zart lieben wie ihr eigenes Herz. Aber Gott zeigt uns noch etwas Höheres, indem er durch Jesaja (49, 15) verkündigt: „Wenn auch ein Weib ihres Kindlein vergäße, so will Ich doch dein nicht vergessen.“ So stellt David den Herrn, der die Quelle aller Güter ist, unvergleichlich hoch über alle Sterblichen, die von Natur übelwollend und karg sind. Seine knappe Redeweise dürfen wir dabei nicht missdeuten. Sie ist ähnlich gemeint, wie die Rede des Volkes bei Jesaja (63, 16): „Abraham weiß von nichts und Israel kennt uns nicht. Du aber, Herr, bist unser Vater und unser Erlöser.“ Der Sinn dieser Stelle ist folgender: Wenn auch die irdischen Väter von Natur geneigt sind, ihren Nachkommen zu helfen, ja sich eifrig ihrer annehmen, um für sie zu sorgen, so werde doch Gott, falls einmal jedes Pflichtgefühl auf Erden geschwunden sein sollte, bei seinen treuen Anhängern zugleich Vater- und Mutterstelle vertreten. Daraus folgt, dass wir Gottes Gnade nur dann richtig einschätzen, wenn unser Glaube sich über alle fleischlichen Gefühle erhebt. Denn eher könnte hundertmal die Ordnung der Natur verkehrt werden, als dass Gott die Hand von den Seinen abzieht.
V. 11. Herr, weise mir deinen Weg. Nach Ansicht vieler Ausleger erbittet David hier von Gott, dass er ihn durch seinen Geist regiere, damit er nicht in Übel- und Schandtaten mit seinen Feinden wetteifere. Das ist eine sehr nützliche Lehre. Aber in vorliegender Stelle scheint sie doch nicht ausgesprochen zu sein. Nach meiner Ansicht ist es einfach Davids Wunsch, dass Gott ihm die Hand reichen und ihn sicher zu einem glücklichen Ausgang führen möge, damit er den Nachstellungen und der Macht seiner Feinde entgehe. Die richtige Bahn ist als Gegensatz zu Schwierigkeiten, Hindernissen, schlüpfrigen Stellen und Klippen gemeint, zu deren Überwindung David selbst nicht imstande war, wenn Gott nicht sein Führer wurde und ihn lenkte. Übrigens muss ein jeder, der den Wunsch hegt, sich in dieser Weise Gott zu überlassen, sich zunächst von Verschlagenheiten und schlechten Künsten fernhalten. Denn man darf nicht hoffen, dass Gott schlechte Ratschläge segne, da er nur den Einfältigen und denen, die sich in seinen Schutz begeben, einen glücklichen Ausgang verspricht.
V. 12. Gib mich nicht in den Willen d. h. die Willkür und Laune meiner Feinde. Wir sehen daraus, dass sie begierig danach lechzen, David zu verderben. Gott pflegt die Seinen in zwiefacher Weise zu erretten. Entweder bändigt er die Wildheit der Feinde und macht sie milder, oder wenn er zulässt, dass sie in Wut entbrennen, so bindet er doch ihre Hände und schlägt ihr Ungestüm darnieder, so dass ihr Wunsch und ihr Versuch, zu schaden, vereitelt wird. Weiter spricht David aus, dass man ihn sowohl durch Verleumdungen und falsche Anklagen als durch offene Gewalt bekämpfe. Denn die Leute, die Unrecht tun ohne Scheu, sind solche, die sich nur auf Waffen und Mord stützen. Wir sehen also, dass der heilige Mann von allen Seiten jämmerlich bedrängt wurde, und selbst seine Unbescholtenheit, die, wie wir wissen, einzig in ihrer Art war, konnte ihn nicht vor giftigen Schmähungen bewahren. Zu gleicher Zeit stürmte man auch mit Macht und Gewalt auf ihn ein. Wenn daher die Gottlosen uns nicht allein drohen und sich mit grausamer Wut gegen uns erheben, sondern uns auch mit Lügen schmähen, um ihren Angriffen einen Schein des Rechts zu geben, so müssen wir an David denken, der auch von zwei Seiten zugleich angegriffen wurde. Vor allem muss aber unser Trost sein, dass Christus, der Sohn Gottes, ebenso sehr unter den falschen Zungen als unter den Schwertern gelitten hat. Übrigens ist diese Bitte, dass Gott für unsere Unschuld eintrete, und dass er der Rohheit der Feinde den Schild seiner Verteidigung entgegenhalte, für uns aufgezeichnet, um uns zu trösten.
V. 13. Wenn ich nicht geglaubt hätte usw. Die Erklärer sind darüber einig, dass hier ein abgebrochener Satz vorliegt. Einige ergänzen: „Wehe mir, wenn ich nicht geglaubt hätte“, - fassen also den Satz als eine Art Verwünschung. Sie meisten nehmen dagegen an, dass David aussprechen wollte, wie er sich allein durch den Glauben aufrecht gehalten habe und ohne denselben hundertmal zu Grunde gegangen wäre. Sie bringen also diesen Sinn heraus: „Wenn ich nicht, gestützt auf Gottes Verheißungen, fest überzeugt gewesen wäre, dass ich unversehrt bleiben werde und hieran im Glauben mich gehalten hätte, so wäre ich verloren gewesen und es würde sich mir keine Hilfe gezeigt haben.“
Unter dem Lande der Lebendigen verstehen manche Ausleger das himmlische Erbe. Das ist aber gesucht und entspricht auch nicht dem Schriftgebrauch. Denn wenn Hiskia in seinem Klageliede klagt (Jesaja 38, 11), dass die Hoffnung ihm abgeschnitten sei, Gott im Lande der Lebendigen zu sehen, so meint er damit ohne Zweifel das gegenwärtige Leben. Denn er sagt alsbald: „Nun werde ich nicht mehr schauen die Menschen bei denen, die ihre Zeit leben.“ Und ähnliche Redewendungen begegnen uns auch an anderen Stellen. David glaubt, dass er Gottes Güte noch in diesem Leben genießen werde, obgleich er im Augenblick von der Gnade Gottes nichts schmeckt und auch nicht einen Funken des Lichts erblicken kann. Er verspricht sich also den Anblick der göttlichen Gnade aus der Finsternis des Todes heraus, und durch diesen Glauben erhält er sein Leben, mochte es auch dem fleischlichen Sinn rettungslos verloren erscheinen. Hier ist jedoch zu beachten, dass David nicht leichtfertig über das hinausgeht, was Gott ihm verheißen hat. Denn wenn auch die Gottseligkeit die Verheißung nicht allein des zukünftigen, sondern auch des gegenwärtigen Lebens hat, so würde er es doch nie gewagt haben, diese Behauptung aufzustellen, wenn er hierzu nicht durch irgendeine besondere Weissagung veranlasst worden wäre. Es war ihm nämlich bestimmt verheißen (2. Sam. 7, 12 – 16), dass er einen Nachfolger haben sollte, der immer auf seinem Thron sitzen werde. Mit Recht hoffte er daher, dass er nicht eher sterben könne, bis diese Verheißung in Erfüllung gegangen ist. Damit nun keiner in verkehrter Weise Davids Beispiel nachahme und über die Grenzen des Glaubens hinausgehe, muss man wohl beachten, was er Besonderes hatte und worin er sich von uns unterscheidet. Im Allgemeinen müssen wir jedoch alle hoffen, dass wenn Gott uns auch nicht augenblicklich befreit und seine Gunst uns sichtbar offenbart, er uns doch auch in diesem Leben immer geneigt sein werde.
V. 14. Harre des Herrn. Man könnte zweifeln, ob David nicht jetzt in seiner Rede von sich auf andere übergeht, um sie durch sein Beispiel zur Tapferkeit und Standhaftigkeit in der Geduld zu ermahnen, - wie er auch am Schluss des 31. Psalms (V. 24 f.) sich an alle Frommen wendet. Da er hier jedoch in der Einzahl spricht und sich kein Anhalt dafür finden lässt, dass er zu andern rede, so scheint mir, dass er sich selbst zum Vertrauen aufmuntert, damit er nie in seinem Herzen wankend werde. Denn da er sich seiner Schwäche bewusst war und auch wusste, dass sein Heil unter dem Schutze des Glaubens geborgen war, so war es wohl am Platze, dass er sich für die Zukunft stärkte. Durch das Wort „Harre!“ stellt er sich neue Prüfungen vor, die kommen werden, und sagt sich, dass er das Kreuz werde tragen müssen. Denn dass wir auf Gott harren müssen, kann dann gesagt werden, wenn er uns seine Gnade entzogen hat und es zulässt, dass wir unter Sorgen dahinsiechen. David bereitet sich also, nachdem er einen Kampf bestanden hat, darauf vor, dass er andere, neue aufnehmen muss. Da es aber nichts Schwereres gibt, als dem Herrn diese Ehre zu erweisen, dass wir in Abhängigkeit von ihm verharren, wenn er sich vor uns verbirgt oder mit seiner Hilfe wartet, so treibt David sich dazu an, neue Kräfte zu sammeln. Es ist, als sagte er zu sich selbst: Wenn dich Zittern befällt, wenn die Versuchung deinen Glauben erschüttert, wenn dein fleischlicher Sinn schwankend wird, so hüte dich, dass du nicht unterliegst, sondern ermanne dich in unermüdlicher Kraft deines Geistes. Übrigens lernen wir hieraus, dass die Kinder Gottes nicht durch Hartnäckigkeit stark sind, sondern durch die Geduld, wenn sie mit ruhigem Gemüt ihre Seelen Gott empfehlen, wie Jesaja (30, 15) sagt: „Durch Stillesein und Hoffen werdet ihr stark sein.“ Ja, da er sich solch schweren Aufgaben nicht gewachsen glaubt, so holt er sich im Gebet Kraft von Gott. Hätte er allein gesagt: Sei getrost, so könnte es den Anschein haben, als stellte er die Regungen seines freien Willens in den Vordergrund. Da er aber sofort, gewissermaßen um sich zu verbessern, hinzusetzt: „und Er wird dein Herz stärken“, so zeigt er damit deutlich, dass die Heiligen, wenn sie tapfer ringen, in einer fremden Kraft kämpfen. Es ist nicht so, wie die Papisten sagen, dass David seinen Versuch in die erste Schlachtreihe stellt und später Gottes Hilfstruppen herbeiruft, sondern nachdem er sich zur Erfüllung seiner Pflicht ermahnt hat, sucht er in der Erkenntnis, dass er sich auf seine Kraft nicht verlassen kann, für das, was ihm fehlt, Ersatz im Gnadenwirken des Geistes. Ja, weil er weiß, dass er sein ganzes Leben lang zu streiten haben wird, dass immer neue Kämpfe an ihn herantreten werden, und dass die Mühsale der Heiligen oft lange Zeit anhalten, so wiederholt er noch einmal: „Harre des Herrn!“.