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Calvin, Jean - Psalm 145.

Calvin, Jean - Psalm 145.

Inhaltsangabe: Der Prophet betrachtet bei sich selbst die wunderbare Weisheit, Güte und Gerechtigkeit, mit der Gott zunächst die Welt insgesamt regiert, besonders aber das menschliche Geschlecht schützt, pflegt und leitet, und erhebt so sein Gemüt zum Lobpreis Gottes. Dabei zählt er zuerst die Dinge auf, die zur Verherrlichung der Vorsehung im Allgemeinen dienen, und geht schließlich zu der besonderen Gnade über, deren Gott seine Gläubigen würdigt.

V. 1 bis 3. Ich will dich erheben. David erzählt nicht bloß, was er tun werde, sondern reizt und ermahnt sich und andere zu solch frommem Dienst, damit alle zumal dem Herrn das schuldige Lobopfer darbringen. Denn darum erinnert er daran, wie Gott dem Menschengeschlecht so wohltut, damit man ihm mit frommer Dankbarkeit diene. Dazu empfiehlt er, dass man im Eifer nicht nachlasse. Denn wenn Gott in seinen Wohltaten fortfährt, so ist es sehr ungerecht, wenn wir in seinem Lobe ermüden. Wie also Gott seinen Gläubigen immer neuen Grund zum Loben gibt, so treibt er sie zur Dankbarkeit an, in der sie ihr ganzes Leben hindurch sich üben sollen. Denn „täglich“ will hier so viel sagen wie „unablässig“. Ja, wenn er auch – fügt David bei – Jahrhunderte leben sollte, so will er immer und ewiglich rühmen. Die Wiederholung dieser Aussage lässt uns so recht seinen inständigen Eifer erkennen. Da nun wahrscheinlich der Psalm zu einer Zeit verfasst wurde, wo Davids Königtum blühte, so ist es bemerkenswert, dass er Gott seinen König nennt und damit sich und alle Großen der Erde in die richtigen Schranken weist, damit keine irdische Größe Gottes Ruhm verdunkle.

Das bekräftigt er noch mehr im folgenden (3.) Vers, wo er ausruft, dass Gottes Größe unermesslich ist, und so daran erinnert, dass Gott erst dann nach Gebühr von uns gepriesen wird, wenn wir ob der Unendlichkeit seiner Macht erstaunen oder von Entzücken hingerissen werden. Solche Bewunderung ist dann ein Quell, aus welchem die rechten Lobgesänge entspringen, soweit dies bei unsern geringen Kräften möglich ist.

V. 4 bis 6. Kindeskinder werden deine Werke preisen. Hier wird allgemein erinnert, dass alle Sterblichen mit der Bestimmung erschaffen und am Leben erhalten werden, dass sie sich dem Lobe Gottes hingeben. Dabei lesen wir zwischen den Zeilen einen Gegensatz zwischen dem ewigen Namen Gottes und dem unsterblichen Ruhm, den große Männer durch herrliche Taten zu erlangen scheinen. Wenn nämlich durch die Geschichte auch menschliche Tugenden gefeiert werden, so liegt in Bezug auf Gott die Sache doch noch bei weitem anders. Er erneuert das Gedächtnis seiner Werke alle Tage, ja er lässt es, indem er uns dieselben in der Gegenwart zu genießen gibt, zunehmen und in unseren Seelen kräftig und unvergänglich werden.

In diesem Sinne redet David auch von der herrlichen, schönen Pracht Gottes. Zu deren Bewunderung will er sich und andere immer mehr begeistern. Unter den Wundern verstehe ich die unbegreifliche Art der Werke Gottes, die alle unsere Sinne gefangen nimmt. Und daraus ergibt sich für uns, dass Gottes Größe nicht von seinem unsichtbaren Wesen verhüllt ist, von welchem gewisse Wortklauber nur fades, wertloses Zeug schwatzen, weil sie an Gottes sichtbaren Werken vorübergehen, während es dem wahrhaft religiösen Sinn nicht um spekulative, sondern um praktische Kenntnis zu tun ist. Nachdem David nun gesagt hat: Ich will reden oder: „Ich will nachdenken“ (das hebräische Zeitwort kann, wie wir schon zu Ps. 143, 5 gesehen, beides bedeuten), wendet er sich mit seiner Rede an andere. Er deutet damit an, dass es auf Erden immer einige gibt, die Gottes Gerechtigkeit und Güte kundmachen, - und zugleich, dass Gottes Tugenden es verdienen, dass ihr Ruhm von aller Menschen Zungen einmütig erschalle. Mag es übrigens auch andere geben, die dem Herrn seine schuldige Ehre rauben, so zeigt David, dass er an seinem Teil es sich nichtsdestoweniger will angelegen sein lassen, unverdrossen Gottes Lob zu besingen, ob auch andere schweigen.

Die furchtbaren Taten fassen einige bloß als neuen Ausdruck auf für das im 5. Vers Gesagte. Doch scheint mir, es werden damit speziell die Gerichte bezeichnet, die Gott gegen seine Verächter ausübt.

V. 7. Man wird deine große Güte preisen, buchstäblich: „sprudeln“. Auf die Rede angewendet, bedeutet das Wort dann nicht bloß ein einfaches Aussprechen, sondern ein Ausrufen mit vollem Munde, wie etwa Wasser aus einer Quelle in reicher Menge hervorsprudelt. Dem entspricht auch im folgenden Vers das Wort „rühmen“, das im Hebräischen die Bedeutung von ausrufen, mit lautem Schall verkündigen, hat. Gottes große Güte, wie sie durch unsere eigenen Sinne und Erfahrung uns bekannt ist, sollen wir uns gegenwärtig halten und preisen. Denn wenn wir auch bekennen müssen, dass Gott in allen seinen Tugenden des Lobes würdig ist, so macht doch nichts tieferen Eindruck auf uns als seine Güte, mit der er zu uns herabsteigt und sich uns als Vater erzeigt. Auf Grund dieser süßen Erfahrung lockt uns also David, dass wir gern und freudig uns zum Lobe Gottes mitreißen lassen, ja selbst damit hervorbrechen, wie das Bild von der Quelle im ersten Teil des Verses andeutet.

V. 8. Gnädig und barmherzig ist der Herr. Mit mehreren Worten schildert David nun jene Güte, vermöge deren Gott zur Gnade geneigt ist, wie gleich das erste Wort besagt. Sodann kommt uns der Herr gern zu Hilfe, indem er unser Ungemach gleichsam mitfühlt. Es ist aber zu bemerken, dass David diesen Lobspruch aus jener berühmten Stelle 2. Mo. 34, 6 entnommen hat. Da die Propheten ihre Lehre aus dem Wahrheitsquell des Gesetzes schöpften, schätzten sie begreiflicherweise das an jener Stelle erzählte Gesicht sehr hoch; denn nirgends wird Gottes Art klarer und trauter ausgedrückt. Um also kurz zu bezeichnen, was wir von Gott am notwendigsten wissen müssen, entlehnt er seine Worte von dort. Es ist aber auch mitnichten das geringste Stück der Gnade Gottes, dass er mit solch gewinnenden Worten uns zu sich lockt. Denn wenn er seine Macht in den Vordergrund stellte, so würde uns deren Anblick eher schrecken und niederwerfen als erheben, wie etwa die Papisten ihn als einen Gott des Schreckens schildern, der jeden durch seinen Anblick zu Boden schlägt, während doch eine richtige Erkenntnis uns ermutigt, ihn zu suchen. Je näher daher ein Mensch mit Gott verbunden ist, desto weiter ist er in seiner Erkenntnis fortgeschritten. Wenn nun Gott nicht nur, dass ich so sage, sich uns gefällig zeigen will, sondern sich unser Elend zu Herzen gehen lässt und uns umso freundlicher nahetritt, je elender wir sind, wer möchte da so stumpfen Sinnes sein und nicht unverweilt ihm zueilen? Weil wir aber mit unsern Sünden seine Güte von uns fernhalten und uns den Zugang zu ihm verriegeln, so würden die Propheten vergeblich von seiner Huld und Barmherzigkeit reden, wenn Gottes Güte nicht das Hindernis überwände. Es war also notwendig die Worte beizufügen: von großer Güte. Er vergibt Sünden, duldet die Fehler der Menschen und ist auch über Unwürdige gnädig. Da aber die Gottlosen trotz der Geduld, mit der Gott auch sie erträgt, für seine Vergebung unempfänglich sind, so richtet sich diese Lehre ausschließlich an die Gläubigen, die mit lebendig gläubigem Sinne Gottes Güte in sich aufnehmen. Denn zu den Abtrünnigen heißt es (Am. 5, 18): „Was soll er (der Tag des Herrn) euch? Denn des Herrn Tag ist eine Finsternis und nicht ein Licht“, d. h. er wird euch Trübsal und nicht Freude bringen. Und wir sehen, wie heftig Nahum gleich am Anfang (1, 3) gegen sie seine Blitze schleudert. Er führt zwar den Lobspruch aus Mose an; aber damit sie dadurch nicht übermütig werden, bezeugt er ihnen anderseits, dass Gott ein harter, strenger, furchtbarer und unerbittlicher Richter ist. Es bleibt also für Menschen, die Gottes Zorn durch ihre Sünden herausgefordert haben, nur übrig, sich durch Glauben seine Gunst wieder zu gewinnen.

V. 9. Der Herr ist allen gütig. Dieser Satz hat einen umfassenderen Sinn als der vorhergehende. Denn hier erinnert David daran, dass Gott nicht nur mit väterlicher Langmut die Vergehungen freundlich verzeiht, sondern dass er allen ohne Unterschied wohltut, wie er denn die Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute (Matth. 5, 45). Obschon also die Sündenvergebung für die Abtrünnigen ein verschlossener Schatz ist, so hindert ihr böser und verderbter Sinn den Herrn doch nicht, seine Güte auch über sie auszugießen, nur dass sie dieselbe ohne dankbare Empfindung hinnehmen. Die Gläubigen dagegen erkennen allein, was es heißt, sich eines gnädigen Gottes zu erfreuen, wie es anderswo (Ps. 34, 6. 9) heißt: „Welche auf ihn sehen, die werden erquicket, und ihr Angesicht wird nicht zuschanden. Schmeckt und seht, wie freundlich der Herr ist!“ Wenn es nun weiter von Gott heißt: Er erbarmt sich aller seiner Werke, - so brauchen wir das nicht für sinnlos übertrieben zu halten. Denn da unsere Sünden den göttlichen Fluch über die ganze Welt gebracht haben, so ist auch überall für Gottes Barmherzigkeit Anlass gegeben: sie kommt also auch den unvernünftigen Tieren zugute.

V. 10 bis 13. Es werden dir danken alle deine Werke. Gottes Lob wird zwar von vielen mit ungläubigem Schweigen unterdrückt; dennoch erglänzt es überall und schallt uns gewissermaßen auch aus der stummen Kreatur ungesucht entgegen. Hierauf macht David insbesondere die Heiligen oder Gläubigen zu Herolden, da sie erstlich mit offenen Augen für Gottes Werke begabt sind und sodann wissen, dass sie nichts Wichtigeres tun können, als sich im Verkündigen seiner Wohltaten zu üben.

Das Folgende: und die Ehre deines Königreichs rühmen beziehe ich nur auf die Gläubigen. Wenn jemand es lieber auf alle Geschöpfe Gottes ausdehnt, so verwehre ich ihm das zwar nicht. Doch passt die klare, lehrhafte Redeweise, wie David sie hier erwähnt, nur auf die Heiligen. Deshalb halte ich auch an der Zukunftsform des Zeitworts fest, an deren Stelle andere die Wunschform setzen. Mit dem Ausdruck: „deines Königreichs“ deutet übrigens David an, dass die Offenbarung der Werke Gottes dahin zielt, dass der ganze Weltkreis in Schranken gehalten werde und sich seiner Herrschaft unterwerfe. Und die „Ehre“ oder Herrlichkeit seines Königreichs wird hervorgehoben, damit die Menschen wissen, dass alles verkehrt und in Unordnung ist, wo nicht der einige Gott die Oberherrschaft hat.

Hierauf ruft David aus, dass dieses Königreich nicht im Geringsten hinfällig ist wie alle irdischen Königreiche, sondern ewig fest dasteht. Und damit diesen ewigen Bestand desto aufmerksamer beachte, wendet er sich an Gott selbst mit einem Ausruf der Bewunderung.

V. 14. Der Herr erhält alle. Der Dichter zählt einige Beispiele der Güte und Milde Gottes auf, aus denen hervorgeht, dass der Herr seine Herrschaft nur zum allgemeinen Wohl des Menschengeschlechts ausübt. Unter denen, die niederfallen und die niedergeschlagen sind, versteht er alle diejenigen, die unter dem Druck widriger Verhältnisse bald unterliegen würden, wenn nicht Gott seine Hand ausstreckte, sie aufrecht zu erhalten. Kurz, Gott nimmt Rücksicht auf die Sorgen der Menschen und kommt ihnen in ihren Mühsalen zu Hilfe. Er verdient demnach nicht nur, dass alle Sterblichen voll Ehrfurcht zu ihm, dem vom Himmel herab Regierenden, emporblicken, sondern dass sie gern und mit Verlangen sich seiner Leitung überlassen. Dabei erinnert David daran, dass Leute, die im Elend ihren Trost bei Gott suchen, nicht im Geringsten zuschanden werden.

V. 15. Aller Augen usw. David trägt einen weiteren Beweis der Güte Gottes vor, der darin besteht, dass er allen Lebewesen Nahrungsmittel spendet und sich ihnen so als ein Familienvater erweist. Manche Ausleger meinen unter den Geschöpfen, die warten, d. h. hoffen, nur Menschen verstehen zu dürfen, weil nur sie als mit Vernunft und Einsicht begabte Wesen ihre Nahrung vom himmlischen Vater begehren können, während die unvernünftigen Tiere nur mittelst ihres Gesichts- und Geruchssinnes ihre Speise suchen. Es ist ihnen freilich nicht die Vernunft angeboren, die erforderlich ist, um sich von Gottes Vorsehung abhängig zu wissen; aber da die Not selbst sie durch einen geheimen Naturtrieb dazu drängt, Speise zu suchen, so heißt es auch von ihnen nicht unpassend, dass sie auf Gott warten. So heißt es an anderer Stelle auch von den jungen Raben, dass sie ihn anrufen (Ps. 147, 9). Für die, welche die Worte nur auf Menschen beziehen sollen, bleibt in unserem Vers auch so noch ein unmöglicher Sinn, indem ja die Gottlosen so wenig wie Ochsen und Esel auf die väterliche Fürsorge Gottes warten. Da es also von Natur nun einmal so eingerichtet ist, dass es alle Lebewesen zu ihrem Schöpfer zieht, so wird es nicht unpassend sein, statt des eigentlichen Sachverhalts von einem inneren Trieb zu reden. Im nächsten Vers fällt sodann jede Zweideutigkeit weg, indem es dort heißt, dass alles, was lebt, gesättigt wird. David sagt nun von den Geschöpfen, dass ihnen ihre Speise gegeben wird, und das zu seiner Zeit. Die Vorsehung Gottes wird nämlich in ein noch helleres Licht gestellt eben durch die Mannigfaltigkeit, mit welcher die einzelnen Geschöpfe sich auf verschiedene Weise nähren und vielerlei Arten von Nahrungsmitteln für die verschiedenen Bedürfnisse bestimmt und ihnen angepasst sind. Das meint David mit dem Ausdruck „ihre Speise“. Dann heißt es aber weiter nicht „zu ihrer“, sondern „zu seiner Zeit“. Das Fürwort kann sich also hier nicht auf die Lebewesen beziehen. Es ist Gottes Zeit gemeint. Gott lässt uns auch in diesem Stück erkennen, wie wunderbar er die Dinge einteilt, indem er der Heuernte, der Getreide- und Weinernte ihre bestimmte Zeit zugewiesen und den jährlichen Wechsel so geordnet hat, dass das Vieh jetzt mit Gras, dann mit Heu oder Spreu oder auch mit Eicheln und anderen Früchten genährt wird. Denn wenn er alle Vorräte auf einmal ausschüttete, so wäre das Einholen derselben eine recht beschwerliche Sache. So verdient denn die günstige Einrichtung im jährlichen Ertrag von Früchten und anderen Nahrungsmitteln nicht geringes Lob.

V. 16. Du tust deine Hand auf. Der Gedanke stimmt mit dem Vorhergehenden überein. An der wundervollen Güte Gottes, die aus der herrlichen Naturordnung sichtbar hervorleuchtet, gehen die meisten mit geschlossenen Augen vorüber. Deshalb führt David und vor Augen, wie Gott mit ausgereckter Hand den lebenden Wesen ihre Speise austeilt. Es ist verkehrt, wenn wir mit unseren Gedanken bei der Erde, aus der unser Lebensunterhalt hervorgeht, und bei den natürlichen Lebensmitteln stehen bleiben. Um diesen Irrtum zu beseitigen, malt David uns die geöffnete Hand Gottes vor Augen, wie wenn sie uns die Speise in den Mund gäbe.

Im zweiten Teil des Verses lesen manche statt Wohlgefallen „Begehren“. David würde dann sagen, Gott gewähre den einzelnen Gattungen der lebenden Geschöpfe ihren Lebensunterhalt nach ihrem Begehren. Und bald nachher (V. 19) ist das Wort wirklich in diesem Sinne zu nehmen. Andere aber ziehen vor, es hier auf Gott zu beziehen in der Bedeutung, dass Gott aus lauter Gnade und Freundlichkeit die lebenden Wesen ernährt. Denn es genügt nicht, das festzuhalten, dass unser Lebensunterhalt uns von Gott dargereicht wird; es muss das andere hinzukommen, dass Gott seine Gaben aus Gnaden mitteilt und nicht durch irgendetwas von außen her bewogen wird, so gütig für alles, was lebt, zu sorgen. So wird also hier die Ursache statt der Wirkung gesetzt sein. Die Nahrungsmittel nämlich sind die Wirkungen seines Beschlusses, wie die Gnadengaben die Wirkungen der Gnade sind. Dass aber oft sowohl Menschen als Tiere Hunger leiden, das ist der Verderbnis der Natur zuzuschreiben. Denn seit Adams Fall gerät durch unsere Schuld oft jene anfänglich von Gott eingesetzte, treffliche Naturordnung ins Schwanken; und doch ist auch in dem Stückwerk, das übriggeblieben ist, noch immer jene Freigebigkeit Gottes erkennbar, die David verkündigt. Ist doch selbst beim ärgsten Misswachs kein Jahr so mager und unfruchtbar, dass nicht Gott seine Hand noch auftut.

V. 17. Der Herr ist gerecht. David redet nicht mehr bloß von den Wohltaten Gottes im täglichen Versorgen seiner Geschöpfe, sondern verbreitet sich auch über andere Seiten der Vorsehung, z. B. dass Gott die Sünden der Menschen straft, die Übeltäter im Zaum hält, auch die Geduld der Seinen durch Kreuz prüft, endlich dass er mit Gerichten, die wir oft nicht durchschauen, den Weltlauf regiert. Wenn solches Lob Gottes nun auch in aller Munde ist, so ist doch die Weisheit selten zu finden, die dabei die Hauptsache festhält, nämlich dass Gott in allen seinen Werken gerecht ist. Dieses Lob sollte ihm ja immer ungetrübt aus unserm Herzen entgegenfließen, selbst wenn sonst alles drunter und drüber geht. Aber das eine Mal bekennen alle, dass Gott gerecht ist, - und dann, wenn die Trübsal da ist, erhebt der größere Teil Einspruch gegen ihn wegen seiner übertriebenen Strenge; und wenn er nicht sofort ihren Wünschen entspricht, so murren sie. Kurz, es ist nichts häufiger, als dass man der Gerechtigkeit Gottes widerspricht. Nicht ohne Grund wird also die so allgemein und doch zu Unrecht geschmähte Gerechtigkeit Gottes gegen all den Undank fest behauptet. David will sagen: die Welt mag Gottes Gerechtigkeit mit lautem Widerspruch verdunkeln, so viel sie will, die letztere steht doch fest und wird allezeit unverletzt bleiben. Und ausdrücklich heißt es: in allen seinen Wegen, … in allen seinen Werken; denn wir rauben Gott das schuldige Lob, wenn wir nicht anerkennen, dass seine Gerechtigkeit bei all seinem Tun sich immer gleichbleibt. Es fällt uns aber nichts schwerer, als in widrigen Zeiten, wo es scheint, als ob Gott uns im Stiche lasse oder ungerecht verfolge, die Leidenschaften unserer Fleischesnatur zu bezähmen, dass sie nicht gegen Gottes Gerichte ausbrechen. Vom Kaiser Mauritius1) wird eine denkwürdige Begebenheit erzählt. Als vor seinen Augen seine Söhne vom treulosen und verruchten Verräter Phokas umgebracht wurden und er selbst bald zum gewaltsamen Tode fortgeschleppt werden sollte, soll er wiederholt ausgerufen haben: „Du bist gerecht, o Herr, und gerecht sind deine Gerichte.“ Wie also der treffliche Mann den schrecklichsten Anfechtungen diesen Schild entgegenhielt, so wollen auch wir lernen, unseren Gefühlen Zügel anzulegen, damit Gottes Gerechtigkeit stets das ihr gebührende Lob erhalte. David geht freilich noch weiter und sagt, dass Gott auch da, wo er überaus hart erscheint, doch von Grausamkeit so weit entfernt ist, dass er auch die furchtbarsten Gerichte mit Unparteilichkeit und Milde mäßigt.

V. 18 u. 19. Der ist nahe allen, die ihn anrufen. Diese Lehre ist in hohem Grade Sonderbesitz der Gläubigen, welche Gott durch einzigartiges Vorrecht zu sich einlädt, und denen er verheißt, dass er ihren Bitten geneigt sein will. Der Glaube würde auch sicherlich müßig, ja leblos darniederliegen, wenn er sich nicht in der Anrufung Gottes betätigte. In dieser kommt der Geist der Kindschaft zum Vorschein. Durch sie bezeugen wir auch, dass Gottes Verheißungen uns gültig und gewiss sind. In Summa: Gottes unschätzbare Gnade über den Gläubigen offenbart sich darin, dass er sich ihnen als Vater erzeigt. Weil aber, so oft wir Gott anrufen sollen, vielerlei Zweifelsgedanken uns beschleichen und wir infolgedessen nur schüchtern vor ihn treten oder gebrochenen, kraftlosen Mutes im Gebet nachlassen, oder unser Glaube vor Furcht ermattet, so verkündigt David, dass Gott ohne Ausnahme alle, die ihn anrufen, erhören will. Weil übrigens die Welt mit ihren Einbildungen die Anrufung Gottes meist verderbt und entweiht, so wird uns im zweiten Versgliede die richtige Weise vorgezeichnet, nämlich das Beten mit Ernst oder in der Wahrheit. Trotzdem die Leute ihre Zuflucht bei Gott nur kaltherzig oder mit aufgeblähtem Stolz oder mit Unwillen suchen und unter dem Beten mit ihm rechten, so beklagen sie sich doch, sie würden nicht erhört, als ob kein Unterschied wäre zwischen Bitten und Streiten, zwischen Erweis des Glaubens und Heuchelei. Der größte Teil denkt vor geheimem Unglauben kaum, dass ein Gott im Himmel ist, andere würden ihn gern von dort entfernen, andere möchten, dass er ihnen zu Dienst verpflichtet wäre, andere suchen oberflächlich nach irgendeinem Mittel, ihn zu begütigen. So ist die landläufige Art zu Beten nichts anders als eine leichtfertige, leere Zeremonie. Und während so ziemlich alle Welt in ihrer Not zu Gott läuft, so bringt doch unter zehn kaum einer etwas von Glauben und Buße mit. Es wäre aber besser, Gottes Namen zu begraben als ihn solch spöttischer Behandlung auszusetzen. Nicht umsonst werden also beim Beten Ernst und Wahrheit gefordert, d. h. es soll aus aufrichtigem Herzen kommen. Die Lüge nun, das Gegenteil dieser Aufrichtigkeit, tritt in beinahe zahllosen, verschiedenen Gestalten auf: Unglaube, Zweifelsucht, Ungeduld, Unzufriedenheit, eingebildete Demut, lasterhafte Begierden; das sind lauter Lügen.

Da nun diese Lehre nicht von geringem Gewicht ist, so bekräftigt David sie im nächsten Vers nochmals mit erklärenden Worten. Und diese Wiederholung wird ernstlich beachtet sein, da unser Gemüt so sehr zum Unglauben geneigt ist und in den wenigsten die bestimmte Überzeugung lebt, dass sie nicht umsonst bitten, weil ja Gott sie dazu beruft. Daher kommt es, dass eine verkehrte Geschäftigkeit haltlose Geister bald dahin, bald dorthin treibt; wie z. B. im Papsttum die Menschen sich Schutzheilige ohne Zahl erdacht haben, weil sie fast keinen Wert darauf legten, mit zweifelsfreiem Glauben sich die Verheißungen anzueignen, mit denen Gott uns zu sich einlädt. Um uns also den Zugang recht weit zu öffnen, schärft der heilige Geist uns durch den Mund Davids hier ein, dass Gott tut, was die Gottesfürchtigen begehren. Es ist nicht zu sagen, wie kräftig dieser Ausspruch uns zum Herzen dringen sollte. Denn was ist der Mensch, dass Gott sich ihm willfährig erweist? An uns ist es ja, zu seiner Höhe emporzublicken und seiner Herrschaft in tiefer Demut zu gehorchen. Stattdessen lässt er sich aus freien Stücken herab und richtet sich nach unseren Wünschen. Doch müssen wir diese uns eingeräumte Freiheit etwas zügeln und mäßigen. Denn es ist uns nicht die Erlaubnis gegeben, jedes beliebige Ding zu begehren, so dass die Frommen alles, wonach es sie gelüstet, dreist von Gott fordern dürften; sondern ehe Gott ihnen die Erhörung ihrer Bitten zusagt, legt er ihren Wünschen das Gesetz des Gehorsams und der Bescheidenheit auf, wie Johannes lehrt (1. Joh. 5, 14): „So wir etwas bitten nach seinem Willen, so hört er uns“. Deshalb hat uns auch Christus die Bitte in den Mund gelegt (Mt. 6, 10): „Dein Wille geschehe.“ Er wollte uns damit Schranken setzen, damit wir nicht aus verkehrtem Sinne unserm Willen den Vorzug geben vor Gottes Willen oder um alles, was uns nur eben einfällt, bitten, ohne zuvor unsere Wünsche zu sichten. David spricht nun ausdrücklich von den „Gottesfürchtigen“ und legt damit den Hilfesuchenden zuerst die Pflicht der Furcht, der Ehrerbietung und des Gehorsams ans Herz, ehe er ihnen Gottes Gütigkeit in Aussicht stellt. Sie sollen sich nicht für befugt halten, mehr zu bitten, als Gott in seinem Worte ihnen einräumt und gutheißt. Was weiter von ihrem Schreien gesagt wird, ist eine Art Einschränkung. Gott lässt sich nicht immer so schnell bereitfinden, dass er die Bitte gleich im selben Augenblick gewährt. In solcher Glaubensprobe ist eben beharrliches Rufen vonnöten, wodurch die Bitten bekräftigt werden. Auch das letzte Sätzchen: und rettet sie – hat die Bedeutung einer Einschränkung. Wir sollen wissen, wie weit und zu welchem Zweck Gott die Bitten der Seinen erfüllt, nämlich nicht zu unnötiger Hilfeleistung, sondern damit durch den Erfolg offenkundig werde, dass er ein treuer Hüter ihres Heils ist.

V. 20 u. 21. Der Herr behütet alle usw. David fährt fort in der Lehre, dass Gott seinen Knechten nahe ist und ihnen in der Not Hilfe bringt. Denn das ist die bestimmte Frucht, die sie aus der Gegenwart Gottes empfangen, dass sie aus jeglicher Gefahr, die ihnen begegnen mag, zu jeder Zeit durch seine Gnade heil und unversehrt hervorgehen. Statt von „Gottesfürchtigen“ redet er nun von solchen, die ihn lieben. Und das ist wohl zu beachten. Denn indem er die Gläubigen als Gottliebende kennzeichnet, zeigt er, dass die Wurzel wahrer Frömmigkeit in freier, herzlicher Unterordnung unter Gott besteht, die ihrerseits aus dem Glauben geboren wird. So lange nämlich Gott uns nicht durch die süße Empfindung seiner Gnade zu sich zieht, erfolgt solche willige Unterwerfung nie. Vielleicht ist aber jenes Lieben, von dem David redet, in weiterem Sinne zu fassen. Indem nämlich die Gläubigen nicht nur sich dem Herrn zum Gehorsam hingeben, sondern auch wissen, dass es nichts Wünschenswerteres gibt als mit ihm verbunden zu sein, trachten sie von ganzem Gemüt nach dieser Glückseligkeit. Auf jeden Fall aber wird hier das Hauptstück wahrer Heiligkeit und Gerechtigkeit bezeichnet, wie auch bei Mose (5. Mo. 10, 12): „Nun, Israel, was fordert der Herr, dein Gott, von dir, denn dass du den Herrn, deinen Gott, fürchtest … und liebest ihn“ usw. Diesen Gewinn nun, den die Gottesfurcht einträgt, nämlich dass wir unter Gottes Obhut wohl erhalten bleiben, hebt David durch das Gegenstück hervor, indem er verkündigt, dass alle Gottlosen durch Gottes gerechte Vergeltung übel umkommen werden.

Endlich bringt er den Schluss des Psalms in Einklang mit dessen Anfang und wiederholt: Mein Mund soll des Herrn Lob sagen. Er stellt damit ein Vorbild für alle auf und ermuntert sie zu selben Pflicht. Die von anderen gewählte Übersetzung des folgenden Satzes: „Alles, was lebt, lobe den Herrn“, leuchtet mir nicht ein. Zwar wenn Mose beim Sintflutbericht sagt, dass alles Fleisch, das einen lebendigen Odem hatte, unterging, so gebe ich zu, dass darin auch die unvernünftigen Tiere einbegriffen sind; aber wo immer vom Fleisch, ohne nähere Bezeichnung, die Rede ist, bezieht es sich nur auf die Menschen. David sagt aber hier nicht aus, was sie tun werden, sondern sie tun sollen, mit anderen Worten: aus der unermesslichen, unerschöpflichen Güte Gottes erwächst allen Sterblichen die Verpflichtung, ihn fleißig und unablässig zu loben.

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Oströmischer Kaiser gest. 602
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