Calvin, Jean - Psalm 13.
Inhaltsangabe: Der Inhalt dieses Psalms ist fast derselbe, wie der des vorhergehenden. David ist nicht nur in großer Angst, sondern ganz niedergedrückt infolge der vielen und lang anhaltenden Leiden. Da wendet er das einzige Mittel an, das ihm noch übrig geblieben ist. Er fleht Gott um Schutz und Hilfe an. Dann bekommt er neuen Mut, da er mitten in der Angst des Todes feste Zuversicht aus Gottes Verheißungen gewinnt.
V. 1 u. 2. Herr, wie lang? usw. Nicht ohne Grund lässt sich sagen, dass die allgemein über David ausgestreuten Verleumdungen bei den Leuten den Gedanken erregen mussten, auch der Herr stünde aufseiten Sauls und der übrigen Feinde. Aber davon ist doch hier nicht die Rede: David versetzt sich nicht in fremde Gedanken, sondern klagt aus eigenster Empfindung, dass der Herr sein vergessen habe. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass der Glaube an Gottes Verheißungen in seinem Herzen ganz erloschen war, und dass er sich nicht mehr auf Gottes Gnade verließ. Aber wenn lange Zeit Leiden auf uns lasten und kein Anzeichen göttlicher Huld erscheint, so kann es nicht ausbleiben, dass Gedanken bei uns aufsteigen, als ob Gott uns vergessen habe. Mit unserem menschlichen oder natürlichen Sinne können wir es dann in unserem Elende nicht wahrnehmen, dass Gott für uns sorgt; aber wir müssen im Glauben seine unsichtbare Vorsehung ergreifen. So war es auch bei David der Fall. Sah er auf seine tatsächliche Lage, so musste er sich von Gott verlassen vorkommen. Aber im Lichte des Glaubens drang sein Geistesauge bis zur göttlichen Gnade durch, obgleich diese verborgen war. Da er nirgends eine gute Hoffnung erblickte, wie weit er auch ausschauen und wie sehr er auch alle Kräfte seines Geistes anstrengen mochte, so bricht er von Schmerz getrieben in die Klage aus, dass Gott nicht auf ihn sehe. Aber durch diese Klage bezeugt er zugleich, dass er sich im Glauben emporschwingt und trotz des Widerspruchs des Fleisches daran festhält, dass sein Heil in Gottes Hand steht. Wie hätte er sonst seine Seufzer und Bitten an Gott richten können? Auch wir müssen so gegen unsere Versuchungen ankämpfen, dass wir in diesem Streite auf die Stimme des Glaubens hören, die uns zuruft, dass wir die Leiden, die uns zur Verzweiflung treiben, überwinden müssen. David hat sich durch die Schwachheit seines Geistes nicht davon abhalten lassen, Gott zu suchen: so vereinigte er scheinbar widerstreitende Gefühle aufs Beste miteinander. Die Klage, dass der Herr ihn „so gar“ vergessen habe, besagt nichts anderes als die Frage: wie lange? Aber die Redeform ist doch ist doch viel nachdrücklicher. Auf eine so lange Zeit des Elends blickt David schon zurück, dass er „so gar“, oder wie buchstäblich übersetzt werden könnte, „ewiglich“ verlassen scheint. Seine Klage ergeht nicht, wie bei schwachen und kleinmütigen Leuten, die nur kurz vor ihre Füße sehen und bei jedem Anstoß sofort erliegen, schon über ein Leid von wenigen Tagen. So lehrt er uns durch sein Beispiel, wie man sich auch bei langem Ausharren in der Geduld und Hoffnung stärken muss, damit der gegenwärtige Schmerz uns nicht die Hoffnung raube.
V. 3. Wie lange soll ich sorgen? Wörtlich: Wie lange soll ich Pläne machen? Wir wissen, wie die Menschen im Unglück stöhnen und sich bald hierhin, bald dorthin nach Hilfe umschauen. Und besonders werden sie dann von Angst gequält und nach verschiedenen Seiten hingezogen, wenn sie sich verlassen sehen. Ja, wenn die Gefahr groß ist und kein sicherer Ausweg sich zeigt, so zwingt die Sorge und die Furcht sie, jeden Augenblick ihren Plan zu ändern. David klagt also, dass er bald diesen, bald jenen Plan gefasst und sich mit dieser Arbeit vergeblich abgemüht habe. Dann spricht er von seinen täglichen Schmerzen und gibt damit die Quelle dieser Unruhe an. Denn wie Kranke bei schwerem Leiden jeden Augenblick ihre Lage zu ändern wünschen und, je größer die Schmerzen sind, umso häufiger und begieriger sich nach Veränderung sehnen, so werden auch unglückliche Menschen, wenn der Schmerz ihr Herz erfüllt hat, hin und her gezogen, und es ist leichter für sie, sich ohne Erfolg abzuquälen, als mit ruhigem Gemüt ihre Leiden zu erdulden. Nun hat ja der Herr verheißen, dass er den Gläubigen den Geist des Rats geben wolle. Aber er gibt ihnen denselben nicht immer im ersten Augenblick, sondern lässt sie oft eine Zeitlang herumirren oder hält sie in Dornen verstrickt. Statt „täglich“ übersetzen manche „den Tag über“. Aber es passt besser in den Zusammenhang, dass der Schmerz mit jedem neuen Tage sich erneuert. Am Schluss des Verses beschwert David sich über ein anderes Übel, nämlich dass die Gegner ihn deswegen so rücksichtslos beleidigen, weil sie sehen, dass er durch die lange Erschlaffung ganz aufgerieben ist. Aber gerade dieses ist ein Grund für die Erhörung des Gebets: denn für Gott ist nichts unerträglicher als die grausame Frechheit, wenn die Feinde sich nicht nur an unserem Elend weiden, sondern sich auch umso stolzer gebärden, je tiefer bedrückt sie uns sehen.
V. 4. Schaue doch. Da es den Anschein hat, dass Gott deswegen den Seinen nicht sogleich hilft, weil er ihre Not nicht ansieht, so bittet David den Herrn zuerst, dass er auf ihn schauen, und zweitens, dass er ihm helfen möge. Für Gott ist allerdings beides gleichzeitig; aber, wie schon früher gesagt und wie wir es später noch oft wiederholen müssen, gibt der heilige Geist dem Gebete absichtlich eine solche Form, die unseren menschlichen Anschauungen entspricht. Wäre David nicht überzeugt gewesen, dass Gottes Auge auf ihn gerichtet sei, so würde es ihm ja nichts genützt haben, dass er zu Gott rief. Aber dieses war eine Erkenntnis des Glaubens. Denn so lange Gott seine Hand nicht tatsächlich ausstreckt, um uns zu helfen, hält unsere Vernunft sein Auge für geschlossen. Unsere Worte besagen also, dass Gottes Erbarmen seiner Hilfe vorangeht. Denn Gott erhört uns erst dann, wenn er durch das Mitleid mit uns sich bestimmen lässt, uns zu helfen.
Erleuchte meine Augen. Die Augen erleuchten bedeutet den Lebensgeist mitteilen; denn die Lebenskraft offenbart sich vor allem in den Augen. In diesem Sinne sagt Salomo (Spr. 29, 13): „Arme und Reiche begegnen einander, beider Augen erleuchtet der Herr.“ Und die heilige Geschichte berichtet uns (1. Sam. 14, 27), dass Jonathans Augen, als er vom Hunger entkräftet war, wieder wacker wurden, nachdem er vom Honig genossen hatte. Um es kurz zu sagen, so bekennt David hier, dass wenn Gott ihm nicht das Licht des Lebens spende, die Finsternis des Todes ihn bedecken werde, und dass es mit ihm schon so weit gekommen sei, dass er sterben müsse, wenn Gott ihm nicht Lebenskraft einflöße. Unsere Lebenshoffnung gründet sich darauf, dass, wenn die Welt uns auch von tausend Seiten mit dem Tode droht, die Erhaltung des Lebens trotzdem in Gottes Hand steht.
V. 5. Dass nicht mein Feind rühme. David wiederholt, was er schon früher in Bezug auf den Hochmut der Feinde gesagt hat, dass es nämlich Gottes unwürdig sein würde, seine Diener dem Gespötte der Gottlosen preiszugeben. Die Feinde Davids lauerten aber sozusagen darauf, seinen Untergang mit ihrem Gespött zu beschimpfen. Da es nun Gottes eigentliches Amt ist, die Frechheit der Bösen zu zügeln, wenn sie sich ihrer Schandtaten rühmen, so fordert David mit Recht, dass sie an diesem Rühmen gehindert würden. Es ist aber zu beachten, dass er von seiner Unschuld überzeugt ist und so auf die Güte seiner Sache vertraut, dass er es für etwas Unwürdiges und Unerhörtes ansieht, wenn er in der Gefahr verlassen und von seinen Feinden überwältigt würde. Deshalb können wir nur dann dieses Gebet mit ihm sprechen, wenn wir unter Gottes Befehl und Führung streiten, sodass unsere Besiegung zugleich eine schmähliche Niederlage Gottes sein würde.
V. 6. Ich hoffe aber darauf usw. Wenngleich der Prophet den Erfolg seines Gebetes noch nicht erfahren hat, so hat er doch aus dem Worte Gottes gelernt, auf die Erlösung zu hoffen. In starkem Vertrauen hält er also den Schild der Hoffnung gegen alle Anfechtungen, die ihn erschrecken und erschüttern konnten. Wenn er auch in großer Angst ist und die Sorge ihn zur Verzweiflung bringen könnte, so verkündigt er doch, dass er im Vertrauen auf Gottes Gnade und Heil standhalten werde. Diese Zuversicht müssen alle Frommen haben und darauf müssen sie vertrauen, um im Leben recht auszuharren. Auch können wir hier lernen, worauf ich schon öfters hinwies, dass man nur durch den Glauben die Gnade Gottes ergreift, die vor dem fleischlichen Auge verborgen ist.
Mein Herz wird sich freuen usw. Diese Wendung deutet nicht bloß auf eine einmalige Freude, sondern will besagen, dass in alle Zukunft keine Traurigkeit mehr die Freude des Glaubens vertreiben soll. Diese Freude gründet sich auf Gottes Gnade: auf sie als auf den Grund der Errettung wies darum der vorausgehende Satz hin. Singen kann David freilich erst in der Zukunft. Aber wenn er auch noch nicht die Erfüllung seiner Wünsche erlangt hat, so zweifelt er doch nicht daran, dass Gott ihm schon nahe ist, um ihm zu helfen. Deshalb verpflichtet er sich auch schon jetzt dazu, dem Herrn zu danken. Auch wir müssen uns so zum Beten anschicken, dass wir zugleich bereit sind, unserem Gott Loblieder zu singen. Das wird aber nur dann der Fall sein, wenn wir fest überzeugt sind, dass unser Beten nicht vergeblich ist. Denn wenn auch die Schmerzen im Augenblick noch nicht weichen, so muss unser Glaube doch so freudig sein, dass er uns treibt, die kommende Freude zu besingen; ebenso wie David sich schon anschickt, Gottes Gnade zu preisen, als sich ein Ausweg aus seinem Elende noch nicht sichtbar zeigt. Er hat das Heil, das noch ferne ist, jetzt schon vor Augen, und das spornt ihn an, Gottes Wohltaten zu besingen.