Calvin, Jean – Das Evangelium des Johannes - Kapitel 10.
V. 1 u. 2. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch. Für die Hirten der Kirche wurden die Priester und Schriftgelehrten angesehen. Mit ihnen hatte Christus immer wieder seine Last. Wollte er, dass das Volk seine Lehre annahm, so musste er ihnen den Ehrentitel „Hirten“ entreißen. Auch der Umstand, dass nur so wenige seine Lehre glaubten, konnte ihm großen Abbruch tun. So betont er denn hier sehr stark, dass durchaus nicht alle, die sich der äußeren Zugehörigkeit zur Gemeinde rühmen, wirklich unter die Hirten oder unter die Schafe zu rechnen seien. Das sei das untrügliche Merkmal, an dem man rechte und falsche Hirten, wirkliche und nur vorgebliche Schafe der Herde Gottes voneinander unterscheiden könne, ob sie Ihn allein zu ihrem Ziel, ihrem Ein und Alles, Anfang und Ende gemacht haben. Dies Wort Christi hat zu jeder Zeit hohen Wert gehabt; so tut es auch unserer Zeit dringend not. Welch ein furchtbarer Schaden wird doch angerichtet, wenn Wölfe sich einschleichen mit der Miene von Hirten! Auch ist es ein schlimmes Ärgernis, wenn unechte oder aus der Art geschlagene Abrahams Kinder sich für lebendige Glieder der Gemeinde Gottes ausgeben. Diesen beiden Übelständen war die Kirche zu fast allen Zeiten preisgegeben. Unerfahrenen und schwachen Christen bringt das oft den schwersten Schaden, wenn sie sehen, wie sich im Heiligtum Gottes selbst entschiedene Feinde des Evangeliums herumtreiben. Die Kirche ist etwas ganz Herrliches, ohne Frage. Aber damit man ihr wirklich mit gutem Rechte volle Ehrerbietung bezeugen könne, gilt es, umso sorgfältiger den Unterschied zwischen der wahren und der falschen Kirche zu beachten. Christus spricht hier denjenigen den Hirtennamen rundweg ab, welche sich damals auf diesen Titel etwas Rechtes zugutetaten, ja er will Leute, welche bloß äußerliche Dinge als Beweise für ihre Zugehörigkeit zum Gottesvolke anführen können, nicht zu den Schafen der Herde Gottes gezählt haben.
Wer nicht zur Tür hineingeht. Christus vergleicht die Kirche mit einem Schafstalle, in dem Gott alle, die ihm gehören, zusammenbringt. Sich selbst vergleicht er mit der Tür dazu. Nur durch ihn kommt man ja in die Gemeinde Gottes hinein. Daraus folgt, dass gute Hirten nur solche Leute sind, welche gerades Weges zu Christo führen, und dass nur die in dem Schafstall Gottes gesammelt sind, welche sich Christo ganz und gar ergeben haben. Wer also sich einfach durch die vorliegende Aussprache Christi leiten lässt, braucht sich gar nicht besonders den Kopf über die Frage zu zerbrechen, die vielen so schwierig erscheint: welches ist die wahre Kirche? welche sind die rechten Hirten? Versuchen die Leute, die sich als Hirten aufspielen, uns von Christo abzubringen, so müssen wir sie, dem Worte Christi gehorsam, meiden als Wölfe und Diebe. Auch dürfen wir uns nur der Gemeinschaft derjenigen anschließen, welche in lauterem Glauben an das Evangelium eines Sinnes mit uns sind. So meint es Christus, wenn er hier seine Jünger ermahnt, sich abzusondern von der ungläubigen Masse des Judenvolkes; sie sollen sich nicht von den gottlosen Priestern regieren lassen und sollen gar nichts auf die schönen Namen geben, mit denen sie sich schmücken, - das sind alles fremde Federn.
V. 3. Demselbigen tut der Türhüter auf. Will man unter dem Türhüter Gott verstehen, so soll es mir recht sein. Wichtiger ist es aber, den eigentlichen Gedanken zu fassen: für die rechte Unterscheidung der Hirten stellt Jesus Gottes Urteil gegen Menschenwahn. Er will sagen: die Welt zollt ja meist ganz anderen Leuten ihren Beifall, - Gott aber, der das Regiment in der Hand hat, erkennt nur solche als die rechten Hirten an, welche die Schafe den Weg führen, den ich euch eben nenne. –
Wenn es dann weiter heißt: der Hirte ruft seine Schafe mit Namen, so ist dies eine schöne Beschreibung des Verhältnisses gegenseitiger Treue. Lehrer und Jünger sind durch den einen Geist Gottes verbunden: der eine führt, der andere folgt. Einige Ausleger sagen: daran, dass der Hirte jedes einzelne Schaf beim Namen rufe, sei zu ersehen, wie genau er sie alle kenne. Ein rechter Hirte müsse folglich die genaueste Personalkenntnis besitzen. Ich wage es nicht, zu entscheiden, ob das wirklich die Meinung unserer Stelle ist.
V. 4 u. 5. Sie kennen seine Stimme. Wenn hier Jesus auch von den Dienern am Worte spricht, so kommt es ihm doch weniger darauf an, dass man ihre, als dass man Gottes Stimme höre, der durch sie redet. Der Grundgedanke dieser ganzen Ausführung ist immer im Sinne zu behalten: nur der ist ein treuer Hirte der Gemeinde Gottes, der die Schafe ganz unter die Führung und Leitung Christi stellt. Zu beachten ist, weshalb die Schafe nun folgen: sie wissen an der Stimme den Hirten von den Wölfen zu unterscheiden. Das ist die Gabe der Geisterunterscheidung, vermöge deren die Auserwählten wohl wissen, welches die Wahrheit Gottes, und welches verkehrte menschliche Einfälle sind. Bei den Schafen Christi geht also voraus die Erkenntnis der Wahrheit; dann kommt das ernste Streben nach völligem Gehorsam. Sie erkennen nicht nur die Wahrheit, sondern sie nehmen sie auch ins Herz auf. Die Beschaffenheit des Glaubensgehorsams zeigt übrigens Jesus nicht bloß daran, dass die Schafe auf des Hirten Ruf sich willig einstellen, sondern auch daran (V. 5), dass sie fremde Stimmen nicht beachten und sich nicht zerstreuen, wenn sie jemand anruft.
V. 6. Sie vernahmen nicht usw. Das Licht Christi verachten sie, denn sie sind von der eigenen Klugheit ganz hingenommen. Nur deswegen hören sie ihn so verständnislos an.
V. 7. Ich bin die Tür. Auf den Hauptpunkt der ganzen Vergleichung fällt hier ein voller Lichtstrahl; Jesus sagt, die Tür sei er selbst. Jesu Person ist die Hauptsache im Evangelium. Das Evangelium ist imstande, den Seelen Nahrung zu geben, weil es uns Jesum bringt. Deshalb sagt auch Paulus, selbst einer der rechten Hirten (1. Kor. 2, 2): „Ich hielt mich nicht dafür, dass ich etwas wüsste unter euch, ohne allein Jesum Christum, den Gekreuzigten.“ Christus bezeugt hier kräftig, dass er der einzige ist, zu dem wir nahen müssen, wenn wir zur Herde Gottes gehören wollen. Deshalb lädt er alle Heilsverlangenden ein, zu ihm zu kommen. Er deutet damit an, dass alle die zwecklos umherschweifen, welche ihn umgehen und doch zu Gott kommen wollen. Es steht nur diese eine Tür offen. Anderwärts sind alle Zugänge versperrt.
V. 8. Alle, die vor mir kommen sind usw. Wörtlich: „alle, so viele ihrer“. Wer das auf Judas von Galiläa und seinesgleichen (Apg. 5, 37) bezieht, kommt meines Erachtens von den Gedanken Christi weit ab. Jesus stellt vielmehr sämtliche falsche Lehren dem Evangelium, alle Lügenpropheten den frommen Lehrern gegenüber. Ja, es ist nicht unberechtigt, die Bedeutung dieser Worte auch auf die Heiden auszudehnen; denn wer auch immer seit Beginn der Welt sich als Lehrer ausgab, ohne doch daran zu denken, die Schafe zu Christo zu sammeln, der hat zum Verderben der Seelen mit dem Lehrernamen Missbrauch getrieben. Übrigens bezieht sich dieser Ausspruch keineswegs auf Moses und die Propheten; denn diese hatten ja gar nichts anderes im Sinne, als die Herrschaft Christi zu befestigen. Man darf ja nicht vergessen, dass Jesu Wort Gegensätze wider einander stellt. Zwischen Gesetz und Evangelium jedoch gibt es keinen eigentlichen Widerspruch, - im Gegenteil: das erste ist nur die Vorbereitung auf das zweite. Nur diejenigen Lehren, das soll hier gesagt werden, durch welche die Welt Christo abwendig gemacht wurde, sind unterschiedslos todbringende Seuchen gewesen; denn wer Christum nicht hat, der geht in sein Verderben und wandert auf schrecklichen Irrwegen. Mag man also die angesehensten Lehrer aus alter oder neuer Zeit entgegenhalten, - wenn nur Christus die Tür ist, so bleibt es dabei, dass Leute, die mit Umgehung dieser Tür durch die Wände brechen und besondere Löcher sich öffnen, Diebe sein müssen.
Die Schafe haben ihnen nicht gehorcht. Damit behauptet Jesus noch deutlicher, was bisher nur dunkel und gleichnisweise angedeutet, dass alle die Leute, die sich durch Verführer haben vom Wege abführen lassen, nicht Glieder der wahren Gemeinde Gottes gewesen sind. Darauf weist der Herr erstlich deshalb hin, damit wir uns auch durch den Vorgang großer Scharen, die in die Irre gehen, nicht ins Verderben locken lassen. Weiter soll uns die Tatsache, dass Gott solchen Betrügern so viel freien Spielraum gewährt, dass sie so viele Menschen betrügen können, nicht ins Wanken bringen. Das ist fürwahr kein geringer Trost und kein schwacher Halt für unseren Glauben, wenn wir davon überzeugt sein dürfen: Christus hat stets ohne Wanken seine Schäflein in treuer Obhut gehalten, ob auch Wölfe und Diebe ihnen unermüdlich nachstellten.
Aber hier erhebt sich eine Frage: Wann gehört ein Mensch nicht mehr zur Herde Christi? Viele sehen wir einen großen Teil ihres Lebens hindurch durch die Wüste dahinirren, welche doch endlich noch in dem Schafstall Christi sich einfinden.
Ich antworte: das Wort „Schafe“ wird in unserem Kapitel in einem zwiefachen Sinne gebraucht. Wenn Christus (V. 16) sagt, er habe noch andere Schafe, so versteht er darunter die Gesamtzahl aller der Auserwählten Gottes, welche noch keine Ähnlichkeit mit Schafen der Herde Gottes hatten. An unserer Stelle meint er jedoch nur die Schafe, welche der Hirte schon mit seinem Zeichen versehen hat. Von Natur sind wir in keiner Weise den Schafen ähnlich; wir kommen vielmehr zur Welt als Bären oder Löwen. Der Geist Christi muss uns erst zähmen und die wilden unbändigen Bestien zu sanften Lämmern umgestalten. Gemäß verborgener Erwählung Gottes sind wir aber für sein liebendes Vaterherz schon Schafe, ehe wir überhaupt geboren sind; infolge der Berufung, durch die er uns in seinen Schafstall aufnimmt, beginnen wir, in uns selbst Schafe zu sein. Wer nun zu der Schar der Gläubigen berufen ist, der hängt viel zu fest an Christo, - wie er hier selbst versichert, - als dass er sich von jedem Winde neuer Lehre ruder- und steuerlos umherwerfen ließe. Wenn jemand das gelten lassen, aber doch die Ausnahme machen will: bisweilen irren, wie vielfältige Erfahrung beweist, doch auch die, welche sich Christo angeschlossen hatten, sodass bei Hesekiel (34, 12) mit gutem Grund dem rechten Hirten die Aufgabe zugewiesen werden muss, die zerstreuten Schafe zu sammeln, - so gestehe ich zu: es kommt nicht selten vor, dass die Angehörigen des christlichen Glaubens eine Zeit lang der Herde Christi entfremdet werden. Aber das streitet durchaus nicht mit diesem Spruch aus Christi Munde: denn so lange sie in der Irre gehen, hören sie in gewisser Beziehung auf, Schafe zu sein. Christus will einfach sagen, dass alle Auserwählten Gottes trotz vieler Versuchungen und Irrungen im wahren Glaubensgehorsam behalten worden sind, sodass sie nicht zur Beute Satans und seiner Diener werden konnten.
Wenn Gott aber die Schafe, welche für einige Zeit von der Herde abgekommen sind, abermals herbeiholt, so ist das ein ebenso großes Wunderwerk, als wenn er sie stets im verschlossenen Stalle gehütet hätte. Der Spruch (1. Joh. 2, 19) behält dabei volle Wahrheit: „Sie sind von uns ausgegangen, aber sie waren nicht von uns; denn wo sie von uns gewesen wären, so wären sie ja bei uns blieben“. Übrigens muss diese Stelle uns aufs tiefste beschämen: einmal deshalb, weil wir so schlecht an die Stimme unseres Hirten gewöhnt sind, dass oft nur wenige, und diese zudem kalten Herzens, ihm lauschen, ferner, weil wir uns oft so schlaff und träge zeigen, wo es gilt, ihm nachzufolgen. Und dabei rede ich noch von den guten oder wenigstens einigermaßen ernsten Christen; denn der größte Teil derer, die sich brüsten, Christi Jünger zu sein, weist ihn und seine Befehle frech zurück. Endlich müssen wir uns auch deshalb schämen, weil wir uns, sobald nur die Stimme eines Fremden vernehmlich ertönt, im Unbestand nach allen Seiten hin zersprengen lassen; solcher Leichtsinn und Mangel an Ausdauer beweist zur Genüge, wie unbefriedigend unsere Fortschritte im Glauben noch sind. Ist so die Zahl der Gläubigen kleiner, als man wünschen muss, und schmilzt das Häuflein durch jähen Abfall vieler manchmal sehr zusammen, so ist es doch für fromme Lehrer ein Trost, mit dem sie sich aufrecht erhalten können, dass sie bei den Auserwählten Gottes, den wahren Schafen der Herde Christi, immer treues Gehör finden.
V. 9. So jemand durch mich eingeht usw. Das ist überaus tröstlich für die Frommen, zu hören: sobald sie erst Christum ergriffen haben, sind sie außer Gefahr. Christus verheißt ihnen ja Rettung und Glückseligkeit. Sodann nennt er ausdrücklich zwei Stücke: wohin sie auch gehen müssen, sie werden sicher einher ziehen, und: wo sie geweidet werden, bekommen sie satt. Ausgang und Eingang bedeutet, wie auch sonst im biblischen Sprachgebrauch, jede Art von menschlichem Tun in diesem Leben. Diese Worte zeigen also einen doppelten Segen, den uns das Evangelium bringt: wir finden darin Nahrung für unsere Seele, die sonst hungrig bleibt und nur Wind zur Speise erhält, und ferner: es wird uns eine zuverlässige Schutzwehr und Burg gegen die Angriffe der Wölfe und Räuber sein.
V. 10. Ein Dieb kommt usw. Mit diesem Ausspruch will Christus uns wachrütteln. Die Diener Satans sollen uns in unserer schläfrigen Achtlosigkeit nicht überrumpeln. Wir sind so unglaublich sorglos. Deshalb finden die Irrlehrer allenthalben bei uns ungedeckte Angriffspunkte. Woher kommt eigentlich die große Leichtgläubigkeit? Woher kommt es, dass die, welche fest an Christo hangen und Ruhe gefunden haben sollten, bald zu dem, bald zu jenem Irrtum hin flattern? Einzig davon, dass sie sich nicht, wie sie sollten, vor den vielen falschen Lehrern in acht nehmen. Dazu kommt, dass wir in unserer unersättlichen Gier nach allem Neuen ein so kindisches Vergnügen an seltsamen Einfällen anderer Leute haben, dass wir mit Vorliebe in tollem Laufe zu den Dieben und Wölfen hineilen. Nicht ohne Grund betont Christus hier, dass falsche Lehrer, so gut sie auch verstehen, sich mit lieblichen Reden einzuschmeicheln, stets ein tödliches Gift bringen; wir sollen umso mehr darauf bedacht sein, sie uns vom Leibe zu halten (vgl. Kol. 2, 8).
V. 11. Ich bin kommen usw. Das Gleichnis nimmt eine neue Wendung. Bisher nannte sich Christus die Tür, und diejenigen die rechten Hirten, welche die Schafe zu dieser Tür bringen. Jetzt ist er selber der Hirte, und zwar spricht er entschieden aus, dass er im Grunde der alleinige Hirte ist. So wie ihm kommt niemandem sonst dieser Ehrenname zu. Alle treuen Hirten der Gemeinde haben ja auch, da er selbst sie belehrt, mit den nötigen Gaben ausrüstet, mit seinem Geiste lenkt und in ihnen wirkt, nur das eine Bestreben, dass er ganz allein an der Spitze seiner Gemeinde stehe und als einziger Hirte hoch erhaben sei über allen anderen. Obwohl er sich menschlicher Hirten bedient, hört er doch nicht auf, in eigener Person des Hirtenamtes kräftig zu walten. So gibt es auch Männer, die den Titel Lehrer oder Doktor tragen. Damit soll ihm sein Lehramt so wenig abgesprochen werden, als sein Hirtenamt damit, dass es den Titel „Pastor“ oder Hirte gibt. Ein Mensch kann selbstverständlich nur ein Unterhirte Jesu Christi sein: nur insoweit teilt Christus seinen Dienern die ihm allein zustehende Ehre mit, als er dabei doch sowohl für sie als auch für ganze Herde der Oberhirte bleibt. –
Wenn Jesus sagt, er sei gekommen, damit die Schafe das Leben haben, so gibt er zu verstehen, dass nur diejenigen von den Wölfen und Dieben zerrissen und geraubt zu werden Gefahr laufen, die sich nicht im Bereich seines Hirtenstabes halten. Von denen dagegen, die sich nicht von ihm entfernen, verkündet er, um uns recht zum Glauben zu ermutigen, dass in ihnen beständig das Leben zunehmen, sich mehren und kräftigen soll. Und ganz gewiss kommt der, welcher im Glauben Fortschritte macht, immer tiefer in die ganze Fülle des Lebens hinein; denn der Geist, der ja das Leben ist, wächst unaufhaltsam in ihm.
V. 12. Der gute Hirte lässt sein Leben. Er hat eine Liebe ohnegleichen zu seinen Schafen. Was für ein treubesorgter Hirte er ist, zeigt daran, dass er, um sie zu retten, sein eigenes Leben nicht für zu gut hält. Daraus folgt, dass die undankbaren Leute, welche den Schutz eines so gütigen und liebevollen Hirten verschmähen, wert sind, zu Grunde zu gehen und allerlei Schaden zu fallen. –
Der Ausspruch Augustins zu dieser Stelle ist von der höchsten Wahrheit: „Hier wird gesagt, was in der Leitung der Kirche dringend zu wünschen, was zu fliehen und was zu dulden ist.“ Es ist nichts dringender zu ersehnen, als dass die Kirche nur von bewährten, eifrigen Hirten geleitet werde. Jesus betont, dass er allein der gute Hirte sei; vermöge seiner steten Gegenwart und weiter durch Vermittlung seiner Werkzeuge erhält er die Kirche rein und unversehrt. Ist alles in guter Ordnung, stehen geeignete Männer an der Spitze, so ist daran zu sehen, dass Christus noch der Hirte ist. Aber es gibt viele Wölfe und Diebe, die sich als Hirten verstellen und so die Gemeinde in schändlicher Weise zerstören. Christus gibt strenge Weisung, solche Menschen zu verjagen und gar nichts auf den schönen Namen zu geben, mit dem sie sich schmücken. Könnte die Kirche von Mietlingen gesäubert werden, so stünde es besser um sie. Aber Gott will die Geduld seiner Gläubigen durch sie üben, auch sind wir der Wohltat sondergleichen nicht würdig, dass sich Christus nur in lauteren Trägern des Hirtenamtes kundgibt. Mietlingen sind deshalb zu tragen, so lange sie nicht in ihrer Schwäche sich bloßstellen und dadurch in verdiente Missachtung verfallen.
Unter Mietlingen sind solche zu verstehen, welche an der reinen Lehre festhalten und mehr durch Zufall – man weiß nicht recht, wie sie dazu kommen, - die Wahrheit verkündigen, als aus wahrem Glaubenseifer (Phil. 1, 15 ff.). Auf solche Leute soll man hören, wenn sie auch Christo nicht treulich dienen. Christus wollte ja auch, dass man die Pharisäer anhörte, weil sie auf dem Stuhle Moses saßen. In derselben Weise sollen wir das Evangelium an und für sich in Ehren halten; selbst minder tüchtige Diener desselben dürfen wir nicht geringschätzig behandeln. Da uns aber leicht kleine Anstöße das ganze Evangelium verleiden, so sollen wir, damit der Geschmack daran uns nicht verdorben werde, nie vergessen, was ich schon öfter sagte: wirkt der Geist Christi nicht so kräftig in seinen Dienern, dass er sich selbst deutlich in ihnen als Hirte kundgibt, so ist das eine Strafe für unsere Sünden und soll daneben unseren Gehorsam auf die Probe stellen.
Der Mietling aber, der nicht Hirte ist. Wenn auch Christus für sich allein den Namen des Hirten beansprucht, gibt er dennoch stillschweigend zu verstehen, dass er diesen Titel in gewisser Weise mit denen, die sich als seine Werkzeuge gebrauchen lassen, teilen will. Wir wissen ja, wie viele nach Christo unbedenklich für das Heil der Kirche ihr Blut verströmt haben, und auch die Propheten haben vor seinem Kommen ihr Leben nicht geschont. Aber in seiner Person liefert er das vollkommene Vorbild, welches seinen Dienern zur Regel dienen soll. Wie abscheulich, wie schändlich ist doch unsere Trägheit, wenn uns das Leben kostbarer ist, als das Heil der Kirche! Das letztere ging für Jesum dem eigenen Leben vor. Wenn er übrigens hier davon redet, dass er für die Schafe sein Leben hingibt, so ist dies das sicherste, herrlichste Zeichen dafür, dass er sie zärtlich wie ein Vater liebt. Zunächst kam es ihm darauf an, hier das klare Zeugnis zu hinterlassen, dass er mit seinem Tode einen einzigartigen Beweis seiner Liebe gegen uns erbracht hat; sodann wollte er auch alle seine Diener dazu aufrufen, es ihm nachzutun. Indes beachte man den Unterschied zwischen diesen und Christo: sein Leben gibt er hin als Lösegeld, sein Blut vergießt er zur Reinigung unserer Seelen, seinen Leib hat er als Sühnopfer dargebracht, um den Vater mit uns zu versöhnen. Das alles ist im Tode der Diener des Evangeliums nicht zu finden; vielmehr bedürfen sie alle der Reinigung und müssen die Sühnekraft jenes einigen Opfers erfahren und mit Gott versöhnt werden. Aber Christus will hier gar nicht von der im Vergleich mit jedem anderen Sterben vollkommen einzigartigen Wirkung seines Todes reden, sondern will nur zu erkennen geben, was für eine Gesinnung er gegen uns hegt; auch will er andere einladen, sein Beispiel zu befolgen. Kurz gesagt, wie es Christi besondere Aufgabe war, durch seinen Tod uns wirklich zu leisten, was das Evangelium zusagt, so ist es allgemeine Pflicht aller Hirten, die Lehre, welche sie verkündigen, mit Aufopferung des Lebens zu verteidigen und für die Lehre des Evangeliums mit dem eigenen Blute einzustehen und dadurch zu zeigen, dass es ihnen heiliger Ernst ist, wenn sie lehren, Christus habe ihnen und anderen das Heil erworben.
Indessen lässt sich die Frage erheben: Ist denn ein Mann, welcher dem Anlauf der Wölfe aus irgendwelchem Grunde ausweicht, in jedem Falle für einen Mietling anzusehen? Diese Frage nahm vor Zeiten das lebhafteste Interessen in Anspruch, als die Gewalthaber grausam gegen die Kirche wüteten. Einige der Kirchenlehrer sind meinem Urteil nach in der Strenge viel zu weit gegangen. Augustin zeichnet sich durch Mäßigung aus. Sein Rat ist recht gut; er gestattet den Hirten, zu fliehen, wenn sie bei ihrer Flucht das Heil der Gemeinde im Auge haben und nicht dadurch, dass sie die ihnen anvertraute Herde im Stiche lassen, Verrat an ihr begehen. Dieser Fall tritt nach seiner Ansicht dann ein, wenn die Kirche trotz der Flucht einzelner Hirten doch geeigneter Bedienung nicht entbehrt und die Feinde es dermaßen insonderheit auf das Leben des Hirten abgesehen haben, dass sich ihre Wut beschwichtigt, wenn er fort ist. Ist dagegen die Gefahr eine allgemeine, und würde der Träger des Hirtenamtes durch eine Flucht in den Verdacht geraten, dass er nicht darauf bedacht war, für seine Gemeinde zu sorgen, sondern in Todesfurcht sein Leben in Sicherheit zu bringen, so erklärt er die Flucht für unbedingt verwerflich: denn dann würde dies schlechte Beispiel mehr schaden, als sein Leben in Zukunft nützen könnte. Der Punkt also, auf den alles ankommt, ist der, dass der Hirte seine Herde, ja jedes einzelne seiner Schafe lieber hat, als sein Leben.
Des die Schafe nicht eigen sind. Damit scheint Christus alle ohne Ausnahme zu Mietlingen zu stempeln. Er ist ja ganz allein der Hirte. Deshalb hat niemand von uns ein Recht, die Schafe, welche er weidet, sei eigen zu nennen. Doch haben wir zu bedenken, dass diejenigen, welche sich vom Geiste Christi treiben lassen, das, was dem Haupte gehört, auch als ihr Eigentum ansehen. Sie wollen sich damit nicht eine Gewalt anmaßen, die ihnen nicht zusteht, sondern nur recht treulich bewahren, was ihnen anvertraut ward. Wer in Wahrheit sich mit Christo verbunden weiß, der wird das, was seinem Heiland so teuer ist, niemals als etwas ansehen können, was ihm nicht auch gehörte. Darauf kommt Jesus im folgenden Verse:
V. 13. Der Mietling aber flieht, - denn er hat für die Schafe nichts übrig; er denkt: Was liegt mir daran, dass die Herde auseinander läuft? Das geht mich nichts an! Wer auf den Lohn sieht, nicht auf die Herde, der mag, so lange der Zustand der Kirche ein friedlicher ist, sich wie ein guter Hirte stellen; zeigt sich jedoch Lebensgefahr, so wird er seine Untreue nicht zu verbergen imstande sein.
V. 14. Und erkenne die Meinen. Damit betont Jesus noch einmal seine Liebe gegen uns. Eben auf dieser Liebe erwächst die hier beschriebene vertraute und fürsorgende Bekanntschaft. Damit ist zugleich gesagt, dass der Herr sich um die, welche dem Evangelium nicht gehorchen, nicht kümmert. Er kennt seine Schafe, und seine Schafe kennen auch ihn und seine treue Fürsorge.
V. 15. Wie mich mein Vater kennt. Jesus ist also das Band unserer Gemeinschaft mit Gott: er steht zwischen Gott und uns. So wenig ihn der Vater verwerfen oder gleichgültig behandeln kann, so wenig kann er unser vergessen. Dafür erwartet Jesus nun aber auch von uns dankbare Erwiderung seiner Liebe. Alle ihm vom Vater verliehenen Gaben wendet er dazu an, uns zu schützen. Wir sollen in derselben Weise ihm gehorchen, ihm uns ganz und gar hingeben, wie er selbst völlig dem Vater gehört und in allen Stücken sich nach dem Vater richtet.
V. 16. Ich habe noch andere Schafe. Einige Ausleger beziehen diese Stelle auf alle, die noch keine Jünger Jesu waren, einerlei, ob Heiden oder Juden. Ich zweifle jedoch nicht daran, dass Jesus hier ausschließlich die Berufung der Heiden im Auge gehabt hat. Einen Stall nennt er nämlich die Volksgenossenschaft Israels, welche nach göttlicher Absicht sich als ein Eigentum Gottes von allen anderen Völkern abhob. Gott hatte die Juden für sich auserkoren. Er umgab sie mit einer Art Zaun, der in allerlei gottesdienstlichen Sitten und Gebräuchen bestand, damit sie sich nicht mit Ungläubigen vermischten; die Tür zu diesem umschlossenen Raume war der Gnadenbund, der in Christo geschlossen war und ewiges Leben bringen sollte. Andere Schafe sind folglich die Menschen anderer Völker, die Gott bisher nicht in dieser Weise auserwählt hatte. Das Hirtenamt Jesu beschränkt sich nicht auf das kleine jüdische Land, sondern hat einen weit größeren Umfang.
Augustin sagt sehr wahr: „Innerhalb der Kirche sind viele Wölfe, außerhalb der Kirche viele Schafe“. Zu unserer Stelle jedoch passt dieser Aussprung nicht recht. Hier handelt es sich nur um die äußere Gestalt der Kirche. Die Heiden, damals noch außerhalb der Kirche, wurden nicht lange danach ganz ebenso wie die Juden zum Reich Gottes berufen. Insofern nur passt Augustins geistreiches Wort hierher, als Christus die Ungläubigen Schafe nennt, obwohl sie damals in Wirklichkeit nichts weniger wie Schafe waren. Damit, dass er sie als Schafe bezeichnet, lehrt er nicht nur, dass sie künftig solche sein werden, sondern er redet so in Gedanken an die ewige Erwählung. In den Augen Gottes sind wir Schafe, lange bevor wir merken, dass er unser Hirte ist. Deshalb heißt es ja anderwärts, dass wir zu der Zeit, wo er uns liebte, noch Feinde waren (Röm. 5, 10), weshalb auch Paulus (Gal. 4, 9) sagt, dass Gott uns eher kannte, als wir ihn.
Dieselben muss ich herführen. Damit spricht Jesus aus, dass die Erwählung Gottes zur Ausführung kommen wird, damit nichts, was er gerettet sehen will, verloren gehe. Den geheimen Ratschluss Gottes, durch welchen die Menschen zum Leben verordnet sind, macht seinerzeit die Berufung endlich offenbar. Wir denken dabei an jene wirksame Berufung, vermöge deren Christi Geist aus Leuten, die zuvor aus Fleisch und Blut geboren waren, Kinder Gottes macht. Wie wurden aber nun die Heiden herzu geführt, dass sie sich mit den Juden zu einer Herde vereinigten? Weder mussten die Juden den von Gott mit ihren Vätern geschlossenen Bund abwerfen, um Jesum als den Messias anzunehmen, noch auch war es notwendig, dass die Heiden das Joch des Gesetzes auf sich nahmen, um, in Christum eingepflanzt, sich den Juden ebenbürtig an die Seite zu stellen. Hier ist der Unterschied zwischen Kern und Schale des alten Bundes fest ins Auge zu fassen. Nur dadurch, dass sie dem ewigen Bunde, in welchem das Heil der Welt begründet war, beitraten, konnten die Heiden sich dem christlichen Glauben anschließen. So erfüllten sich Weissagungen, wie Jes. 19, 18; Sach. 8, 23 u. a. Deshalb hieß Abraham auch der Vater vieler Völker; es sollten eben viele von Osten und Wesen kommen, und mit ihm im Reiche Gottes zu Tische sitzen (Mt. 8, 11). Was dagegen die Zeremonien anlangt, so waren sie eben die Scheidewand, der Zaun, welchen Christus wegnahm (Eph. 2, 14). So wird dem Kerne des alten Bundes nach mit den Juden zu wahrer Glaubenseinigkeit verbunden worden.
Und wird eine Herde usw. Das heißt: alle Gotteskinder sollen Glieder Eines Leibes sein. Wir bekennen ja eine allgemeine christliche Kirche: denn ein Haupt kann nur einen Leib haben (Eph. 4, 4). Freilich scheint die ganze große Herde wieder auf verschiedene Ställe verteilt zu sein. Eine Umzäunung jedoch umschließt alle. Gläubige Christen sind in aller Welt zerstreut. Allen wird das gleiche Wort gepredigt, überall sind Taufe und Abendmahl in Gebrauch, man betet in gleicher Weise, - kurz, alles stimmt überein, worin der Glaube vor der Welt bekannt werden soll. Aber wie sammelt Gott diese seine Herde? Ein Hirte ist eingesetzt, welcher spricht: sie werden meine Stimme hören. Das bedeutet: wo die Kirche allein Christo untertan ist, seinem Befehl Gehorsam leistet und auf seine Lehre hört, da steht es recht mit ihr. Sobald die Römischen uns zeigen, dass es so bei ihnen aussieht, wollen wir ihnen den jetzt nur angemaßten Titel der rechten Kirche lassen. Wenn aber Christus dort nichts zu sagen hat, dann mögen sie ganz stillschweigen von ihrer Einheit; eine solche Einheit ist schlimmer als die größte Uneinigkeit. Das Reich Gottes ist nur da, wo wirklich Christus als der gute Hirte die Herde weidet.
V. 17. Darum liebt mich mein Vater, dass ich mein Leben lasse. Der tiefste Grund dafür, dass der Vater den Sohn liebt, ist ein anderer. Denn nicht ohne Grund erscholl die Stimme vom Himmel (Mt. 3, 17): „Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe“. Weil aber Jesus um unsertwegen Mensch wurde und der Vater eben dazu seine Liebe auf dem Sohne ruhen ließ, damit derselbe uns mit ihm versöhne, so ist es nicht auffallend, wenn Jesus hier versichert: Gott liebt mich deswegen, weil ich mein Leben hintansetze, wo es eurer Rettung gilt. Das ist eine ganz herrliche Anpreisung der auf uns gerichteten Güte Gotte; sie muss uns wahrlich ganz und gar zur Bewunderung hinreißen. Gott liebt nicht bloß seinen eingeborenen Sohn; er lässt nicht nur etwas von der Liebe zu ihm auf uns überfließen, - nein, er liebt uns, als wären wir das eigentliche nächste Ziel seiner Liebe. Und doch musste Christus gewiss nicht erst Mensch werden, um sich dadurch die Liebe des Vaters zu erwerben; die besaß er von Ewigkeit her. Mensch wurde er nur, um uns zu erlösen und das Unterpfand der Barmherzigkeit des Vaters zu sein.
Dass ich es wieder nehme. Weil die Kunde von seinem bevorstehenden Tode die Jünger nicht bloß tief betrüben, sondern auch ein schwerer Stoß für ihren Glauben hätte werden können, so tröstet Jesus mit der Hoffnung auf seine zukünftige Auferstehung. Er will sagen: Ich sterbe ja nicht, um vom Tode verschlungen zu werden, sondern um als Sieger über den Tod wieder aufzuerstehen. Auch wir dürfen heutigen Tages an den Tod Christi nur nicht anders denken, als dass wir damit alsbald seine glorreiche Auferstehung verknüpfen. Dass er das Leben gewesen ist, erkennen wir daran, dass er im Kampf mit dem Tode so völlig obsiegt hat.
V. 18. Niemand nimmt es von mir. Nochmals ein Trost, mit dem sich die Jünger aufrechterhalten sollen, wenn Jesus tot ist: er stirbt nicht gezwungen, sondern freiwillig; er opfert sich für die Rettung seiner Herde. Deshalb stellt er nicht nur in Abrede, dass Menschen Macht hätten, ihn zu töten – sie haben sie nur, soweit er sie ihnen gibt, - sondern erklärt sich überhaupt über jeden Zwang erhaben. Bei uns ist es anders. Um unserer Sünden willen müssen wir sterben. Auch Christus ist zwar als sterblicher Mensch geboren, aber er hat sich dem Todesgeschick nur freiwillig unterworfen; er war in keiner Weise zum Sterben verpflichtet. Christus wollte seine Jünger dagegen wappnen, dass sie nicht, wenn sie ihn nun bald zum Tode fortschleppen sahen, allen Mut verlören, als wären ihm die Feinde doch übermächtig geworden; sie sollten vielmehr darüber aufgeklärt sein, dass hier Gottes wunderbare Vorsehung walte, und er nur aus dem Grunde den Tod auf sich nehme, um seine Herde zu erlösen. Wie wertvoll diese Lehre ist, sollen wir ohne Unterlass dankbaren Herzens erfahren: denn weil Christus sich freiwillig hingeopfert hat, ist sein Tod die Sühnung unserer Sünden (Röm. 5, 19), wie er ausdrücklich hinzufügt: Ich lasse es von mir selber.
Solch Gebot usw. Damit lässt Jesus uns einen Einblick tun in den ewigen Ratschluss Gottes. Wir sollen wissen, dass er sich seinen eingeborenen Sohn für uns vom Herzen gerissen hat. Und Christus selbst, der in die Welt gekommen ist, um sich dem Vater gehorsam zu erweisen, bekräftigt es hier: bei allem, was er tut, hat er ganz allein das Streben, für uns zu sorgen.
V. 19. Da ward abermals eine Zwietracht. Der Erfolg der Rede Christi war, dass er dadurch einige Jünger bekam. Aber weil seine Lehre auch viele Feinde hat, so erhebt sich ein Zwiespalt. Die früher sozusagen ein Ganzes bildende Kirche zerreißt in mehrere Stücke. Einig blieben sie alle darin, dass sie den Gott Abrahams anbeten und das Gesetz Moses befolgen wollten. Über die Person Christi entzweien sie sich. Hätten sie es mit ihrem gemeinsamen Bekenntnis ernst gemeint, so hätte Christus, der ja das festeste Band der Liebe ist, und dessen Aufgabe es ist, das Zerstreute zu sammeln, nimmermehr ihre Einmütigkeit stören können. Aber sein Evangelium ist ein helles Licht, in dessen Strahl viele als Heuchler dastehen, die sich für fromme Leute ausgaben und sich fälschlich damit brüsteten, dass auch sie zum Volke Gottes gehörten. Ohne Zweifel muss es uns weh tun, wenn die Kirche in sich zerrissen ist; aber dass die wahrhaft Gläubigen sich von den Gottlosen trennen, um sich mit dem Haupte Christi zu vereinigen, ist weit besser, als wenn alle einträchtig den Herrn verachten würden. Bei Spaltungen müssen wir immer zusehen, wer denn eigentlich sich von Gott und seiner reinen Lehre lossagt.
V. 20. Er hat den Teufel. Die Gegner erheben wider Christum den denkbar gehässigsten Vorwurf, um jedermann abzuschrecken, ihn auch nur anzuhören. Um sich nicht Gott, dem Herrn, beugen zu müssen, entschließen sich die Gottlosen in ihrem Fanatismus viel lieber, ihn mit verschlossenen Augen hochmütig zu verachten. Diese Wut steckt dann auch andere an, sodass Christus nicht einmal mehr ruhiges Gehör findet. Doch die Lehre Christi verteidigt sich schon durch die ihr innewohnende Kraft selbst gegen alle Verleumdungen. Das sehen die Gläubigen, wenn sie zur Antwort geben:
V. 21. Das sind nicht Worte eines Besessenen. Damit verlangen sie: Fällt doch ein sachliches Urteil und seht euch seine Worte an! Die Wahrheit braucht keine Verteidiger, sie verwehrt sich ihrer Verleumder ganz allein. Das ist ein Bollwerk sondergleichen, das der evangelische Glaube hat, dass die Gottlosen es niemals fertig bringen werden, das Licht der Kraft und Weisheit Gottes im Evangelium auszulöschen.
V. 22. Es ward aber Kirchweihe, d. h. der Gedächtnistag an die Wiederherstellung des Tempels. Derselbe war entweiht worden und wurde unter der Herrschaft des Judas Makkabäus in erneuertem Zustande wieder eingeweiht. Damals wurde festgesetzt, dass jedes Jahr ein Gedenkfest gefeiert werden sollte, zur Erinnerung daran, dass Gott in Gnaden der Gewaltherrschaft des Antiochus ein Ende gemacht hatte. An diesem Festtage nun erschien Christus seiner Gewohnheit gemäß im Tempel, um dort, wo so viele Menschen zusammenkommen, recht reichen Erfolg mit seiner Predigt zu suchen.
V. 23. Halle Salomos heißt nicht ein Teil des wirklichen Heiligtums, sondern nur ein Nebengebäude des Tempels. Der alte, von Salomo ehemals errichtete Säulenbau war schon von den Chaldäern völlig zerstört worden. Der Evangelist meint vielmehr eine Halle, welche die Juden, vielleicht schon die ersten, welche aus der babylonischen Gefangenschaft heimkehrten, der alten salomonischen nachgebildet und mit Salomos Namen geschmückt hatten, um ihr mehr Ansehen zu verleihen. Herodes, der Erbauer des neuen Tempels, erneuerte sie.
V. 24. Da umringten ihn die Juden. Unzweifelhaft steckte ein schlauer Plan hinter diesem Vorgehen, wenigstens vonseiten einzelner, die diesen Überfall ersonnen. Hätte das Volk im Großen und Ganzen an Jesum die Bitte gestellt, er möge eine offene Erklärung darüber abgeben, dass er der gottgesandte Befreier sei, so brauchte man keinen Betrug dahinter zu suchen. Diese Handvoll Menschen jedoch hatten Schlimmes im Sinne. Mit List wollten sie ihm die Aussage, er sei der Messias, entlocken, dann sich auf ihn werfen, um ihn umzubringen oder in die Hände der Römer zu liefern.
Wenn sie sich beklagen: Wie lange hältst du unsere Seele auf? – so wollen sie damit den Schein erwecken, als verlangten sie so glühend nach der verheißenen Erlösung, dass der Wunsch nach dem Messias ihnen keine Ruhe lasse. Das ist ja die Seelenstimmung wahrhaft frommer Menschen, dass sie nur bei Christo das finden, was ihr Herz ausfüllen muss und zum Frieden bringt (Mt. 11, 28 f.). Wer zu Christo kommt, der ist wirklich sein, so wie sich die Juden hier nur stellen. Die Anklage ist aus der Luft gegriffen, dass Jesus daran schuld sein, wenn sie bisher im Glauben nicht befestigt worden sind. Es lag in ihrer Hand, sich eine vollkommene und gründliche Kenntnis Christi zu verschaffen. Aber so geht es ja den Ungläubigen von je her: sie schwanken lieber in Zweifelsucht hin und her, als dass sie sich auf das feste, klare Gotteswort gründen. Wie viele machen es heute so, dass sie, ihrer Abneigung folgend, die Augen verschließen und die Nebeldünste ihres Zweifels überhallhin verbreiten, um die Sonne des Evangeliums zu verfinstern! Außerdem gibt es viele leichtfertige Menschen, die auf dem Gefilde gottverlassener Menschenmeinungen herumflattern und in ihrem ganzen Leben nirgends festen Fuß fassen. Wenn sie fordern, Christus solle offen oder frei heraus, ohne Scheu sagen, wer er denn eigentlich ist, so meinen sie damit, er solle nicht mehr, wie bisher, nur mit halben Worten, unsicher und versteckt andeuten, dass er etwas Großes sei. Damit werfen sie seiner Lehre vor, sie sei dunkel: tatsächlich war sie für jeden einigermaßen empfänglichen Menschen sonnenklar. Unsere Geschichte erinnert uns daran, dass wir der List und den Verleumdungen der Bösen nicht entfliehen können, wenn wir zur Predigt des Evangeliums berufen sind. Deshalb gilt es, immer auf Posten zu sein und sich nicht aus der Fassung bringen zu lassen, wenn es uns geht wie unserem Meister.
V. 25. Ich habe es euch gesagt. Damit gibt Jesus eigentlich zu verstehen, dass er der Messias ist, und lässt sich doch auf einen weiteren Lehrvortrag nicht ein, für welchen die Juden gar nicht empfänglich gewesen wären. Vielmehr tadelt er ihre böswillige Selbstverstockung, die alle bisherigen Belehrungen durch Gottes Worte und Werke vergeblich gemacht hatte. Wenn sie ihn noch nicht kennen, so ist das ihre eigene Schuld. Meine Lehre, so will Jesus sagen, ist leicht zu verstehen; ihr könnt sie natürlich nicht verstehen, denn ihr widerstrebt Gott im sündlichen Trotz! Dann redet er auch von seinen Taten. An denen hätten sie, von seiner Lehre ganz abgesehen, ein klares Zeugnis gehabt, - sie haben es nicht, weil sie Gott für die Wunder Jesu nicht dankbar sind. Zweimal hintereinander sagt der Herr: Ihr glaubt nicht! – um den Juden vorzuhalten, dass es ihnen an dem guten Willen fehlt, seine Lehre zu hören und seine Werke anzusehen, - ein Zeichen äußerster Bosheit, der gegenüber alle Hoffnung schwindet. Sagt Jesus: ich tue die Werke in meines Vaters Namen, so will dies heißen, dass dieselben zur Bezeugung der göttlichen Kraft dienen sollten, aus welchen man ihn als aus Gott stammend erkennen musste.
V. 26. Ihr seid meiner Schafe nicht. Damit führt Jesus einen noch tiefer liegenden Grund an, weshalb die Gegner seinen Wundern und seiner Lehre keinen Glauben schenken: sie gehören eben zu den Verworfenen. Dieser Ausspruch verfolgt eine besondere Absicht: da die Juden sich für die wahre Gottesgemeinde ausgeben, so musste es natürlich ein Vorurteil gegen das Evangelium erwecken, wenn gerade sie demselben keinen Glauben schenkten; darum betont Jesus, dass der Glaube eine besondere und persönliche Gnadengabe ist. Sicherlich können nur solche Menschen Gott erkennen, die zuvor von ihm erkannt oder ersehen sind (Gal. 4, 9). Und anderseits: Leute, welche Gott nicht gnädig ansieht, müssen immer seine Feinde bleiben. Wenn jemand nun darüber murrt, dass dann Gott doch selbst für den Unglauben verantwortlich zu machen wäre, da es ja allein in seiner Macht stehe, die Menschen zu Schafen seiner Herde zu machen, so gebe ich zur Antwort: auf Gott fällt nicht die mindeste Schuld; denn es ist freiwillige Tat der Menschen, wenn sie in ihrer Bosheit die Gnade Gottes verwerfen. Gott versucht alles, um die Menschen zum Glauben zu bringen, aber wilde Tiere werden nicht eher sanft, als bis sie der Geist Gottes in Lämmer verwandelt.
Der Unwiedergeborene wird also vergebens versuchen, die Schuld für einen Zustand, der doch ganz und gar seine eigene Natur ist, auf Gott zu wälzen.
Alles in allem will Jesus sagen: es ist gar nicht zu verwundern, wenn mein Evangelium nur wenige folgsame Jünger findet; so lange Gottes Geist die Menschen nicht dem Gehorsam des Glaubens unterwirft, bleiben sie eben wilde, ungezähmte Tiere. Umso verkehrter ist es, das Ansehen des Evangeliums davon abhängig zu machen, ob die Menschen daran glauben oder nicht. Gerade umgekehrt sollen die Gläubigen es wohl bedenken, dass sie dadurch ganz besonders zur Dankbarkeit gegen Gott verpflichtet sind, dass der Geist sie erleuchtet und zu Christo gezogen hat, während andere in ihrer Blindheit verharren. Das ist auch ein Trost für die Prediger des Evangeliums, wenn sie es schmerzlich empfinden, dass sie nicht bei allen etwas ausrichten.
V. 27. Denn meine Schafe hören meine Stimme. Leute, welche dem Evangelium nicht gehorchen, gehören nicht zu Jesu Schafen. Das ergibt sich aus einem einfachen gegensätzlichen Schluss: denn seine Auserwählten ruft Gott mit wirksamem Ruf, sodass man Christi Schafe eben daran erkennt, dass sie glauben. „Schafe Christi“ heißen ja die Gläubigen auch nur darum, weil sie sich von Gott durch die Hand des obersten Hirten leiten lassen, ihr früheres unbändiges Wesen abgelegt haben und jetzt sich sanft und folgsam beweisen. Wahrlich kein kleiner Trost, dass fromme Lehrer wissen: mag auch die große Mehrzahl nicht auf Christum hören, so hat er doch seine Schafe, die er kennt, und die ihn kennen. So viel sie irgend können, müssen sie sich bemühen, die ganze Welt in den Schafstall des Hirten Christus hineinzubringen; wo es aber nicht gelingt, wie sie es gerne hätten, mögen sie zufrieden sein mit dem Einen, dass auch in Zukunft diejenigen, welche Schäflein Christi sind, gesammelt werden sollen. Die übrigen Wendungen dieses Satzes sind schon zu V. 14 und 11 erklärt worden.
V. 28 u. 29. Sie werden nimmermehr umkommen. Eine unvergleichlich schöne Frucht des Glaubens wird hier genannt: wir dürfen vollkommen sicher sein; das befiehlt uns Christus sogar, wenn wir durch Glauben zu seiner Herde gehören. Beachte dabei, worauf sich diese Gewissheit stützt: Er will in Zukunft der treue Wächter unseres Heils sein; er bezeugt hier, dass es nun in seiner Hand sicher ruhe. Genügt das noch nicht, so sagt er auch noch, dass der Vater mit seiner ganzen Allmacht es sich behüten werde. Eine Stelle von ganz besonderem Werte! Sie lehrt uns, dass die Seligkeit aller Auserwählten ebenso sicher ist wie die nie bezwungene Allmacht Gottes. Nun wollte aber Christus diesen Ausspruch nicht etwa den Lüsten zum Spiele geben, nein, er wollte damit den Seinen eine Verheißung schenken, die sich für immer tief in ihres Herzens Grund eingraben sollte. Folglich hat dieser Spruch unseres Heilandes die Absicht, den Auserwählten die volle Heilsgewissheit zu verleihen.
Wir sind zwar von starken Feinden umgeben und sind so hinfällige, schwache Menschen, dass wir in manchen Augenblicken knapp am sicheren Tode vorübergehen, aber nur getrost! wir brauchen nicht zu zittern, als wäre unser Leben in Gefahr; der, welcher seine Hand über unserem ewigen Heile hält, ist (V. 29) größer und stärker, denn alles! Daraus ersehen wir, wie haltlos der in der Papstkirche gelehrte Glaube ist, der sich auf den freien Willen, auf die eigene Kraft und verdienstliche Werke stützt. Die Lehre Christi lautet ganz anders: die Gläubigen sollen wissen, dass sie in dieser Welt sozusagen mitten in einem von Räubern wimmelnden Walde sich befinden, und an diesem gefährlichen Orte noch dazu unbewaffnet und somit der Plünderung wehrlos preisgegeben – und dass sie dennoch sicher ihres Weges ziehen dürfen, einzig auf den Schutz Gottes vertrauend. Die Seligkeit ist uns gewiss, weil sie in der Hand Gottes liegt, - sonst wäre Heilsgewissheit ganz unmöglich; denn auch unser Glaube ist schwach, und wir sind nur allzu sehr geneigt, unsicher hin und her zu schwanken. Gott aber, der uns in seine Hand aufgenommen hat, ist stark genug, um mit einem einzigen Hauche seines Mundes alle Listen unserer Feinde zu zerblasen. Es verlohnt sich, auf ihn die Augen zu richten, wenn wir nicht in Anfechtungen vor Angst umkommen wollen. Christus will hier also zeigen, wie Schafe mitten unter Wölfen in Frieden weilen können.
Und niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen. Dies „und“ steht im Sinne von „deshalb“, es handelt sich um eine Schlussfolgerung: Es ist niemand so stark, dass er Gott überwinden könnte; deshalb kann kein Feind, wenn er es auch noch so gern möchte, die Frommen um ihre Seligkeit bringen. Das ginge ja nur, wenn Gott zuvor niedergeworfen wäre, der seine Hand schützend und schirmend über uns hält.
V. 30. Ich und der Vater sind eins. Damit wollte Jesus den Hohnreden der Gottlosen zuvorkommen. Sie hätten ja höhnisch sagen können: Du hast nicht über die Allmacht Gottes zu verfügen, dass du sie deinen Jüngern als zu ihrem Schutze bereit hinstellen dürftest! Jesus legt also Zeugnis davon ab, dass die Beziehungen zwischen ihm und dem Vater so innige sind, dass dessen Hilfe ihm und seinen Schafen niemals fehlen wird. Wenn die alten Kirchenväter diese Stelle anzogen, um daraus Christi gottheitliche Wesensgleichheit mit dem Vater zu beweisen, so war das ein Missgriff. Denn Christus handelt hier nicht von der Einheit seines Wesens, sondern von der Einheit seines Wirkens mit dem Vater: alle, was Jesus tut, wird des Vaters Allmacht ihr Siegel aufdrücken.
V. 31. Da huben die Juden abermals Steine auf. Während die Frömmigkeit, wo es gilt, die Ehre Gottes zu verteidigen, von heiligem Eifer glüht, den der Geist Gottes entzündet, ist der Unglaube die Mutter toller Wut. Satan stachelt die Gottlosen auf, dass sie nur noch Mord schnauben. An diesem Ausgang wird es deutlich, was ihre Gesinnung war, als sie Jesu ihre Frage vorlegten. Hier gibt ihnen ja Jesus die verlangte offene Antwort. Und was geschieht? Sie, die sich vorgeblich so herzlich nach einem offenen Bekenntnis aus seinem Munde sehnten, werden rasend vor Wut. Und doch, während sie so leidenschaftlich auf Jesum losstürmten, um ihm den Garaus zu machen, haben sie sich ohne Zweifel vor sich selbst (nach 5. Mo. 13, 6) gerechtfertigt: wir tun nur, was das Gesetz befiehlt; es heißt uns, falsche Propheten steinigen!
V. 32. Viel guter Werke usw. Damit erklärt Jesu nicht nur diese Beschönigung ihrer Wut für falsch, sondern erhebt auch die Anklage auf Undank, der Gottes Wohltaten so schmählich lohnt. Nicht bloß auf das eine oder andere Werk, sondern auf eine ganze Reihe von Wohltaten kann er dabei hinweisen. Welche Undankbarkeit also nicht bloß gegen Jesus, sondern auch gegen Gott! Denn Jesus hat seine Wohltaten von seinem Vater her erzeigt: was eigentlich der Vater gab, vermittelte der Sohn, um des Vaters Macht und Güte zu offenbaren und zu bezeugen.
Jesus will sagen: Durch mich wollte Gott euch bekannt werden. Herrliche Wohltaten hat er euch durch meine Hand in reichem Maße erwiesen. Prüfet genau: ich habe nichts unter euch getan, als was des Lobes und des Dankes würdig ist! So kann ich mir euer Verhalten gar nicht anders erklären, als dass ihr eben eure Wut wider Gottes Gaben kehren wollt. – Die Einkleidung in eine Frage greift viel tiefer ins Gewissen, als dies ein einfacher Aussagesatz vermöchte.
V. 33. Um des guten Werks willen usw. Die Gottlosen führen ganz offen mit Gott Krieg, und doch wollen sie bei jeder Sünde einen anständigen Vorwand haben. In rasendem Beginnen erheben sie ihre Hand gegen den Sohn Gottes, aber, mit dieser Grausamkeit noch nicht zufrieden, klagen sie ihn auch noch an und gebärden sich als Schützer und Rächer der Ehre Gottes. Wie nötig ist es doch, dass wir an unserem guten Gewissen eine Mauer von Erz haben, damit alle Vorwürfe und Verleumdungen, die gegen uns erhoben werden, daran abprallen können! In welch schönem Glanze auch der Menschen Bosheit strahlen mag, und mit was für einer Schmach sie uns auch eine Zeitlang verunglimpfen mögen, - kämpfen wir für Gottes Sache, so wird er sich ganz gewiss nicht verleugnen, sondern seine Wahrheit verteidigen. Aber weil es den Gottlosen niemals an einem Vorwande fehlt, die Diener Gottes zu beschuldigen, und ihnen eine eiserne Unverschämtheit zu Gebote steht, sodass sie, selbst wenn sie eine Niederlage erlitten haben, mit ihrem Schmähungen nicht aufhören, so tut uns Geduld und Sanftmut not, die uns bis ans Ende aufrechterhalten müssen.
Das Wort, welches wir mit Gotteslästerung übersetzen, steht bei den griechischen Schriftstellern für jede Art von Beschimpfung. In der heiligen Schrift jedoch bedeutet: „Blasphemie“ (so heißt das griechische Wort), die Verletzung der Majestät Gottes.
Dass du ein Mensch bist und machst dich selbst einen Gott. Es gibt zwei Arten der Gotteslästerung; entweder raubt man Gott seine Ehre oder dichtet ihm etwas an, was seines heiligen Wesens unwürdig ist. Die Juden behaupten nun, Jesus wäre ein Gotteslästerer der letzteren Art, weil er als einfacher Mensch auf göttliche Ehre Anspruch erhebe. Diese Anklage hätte guten Grund gehabt, wenn er wirklich nichts weiter als ein Mensch gewesen wäre. Sie versündigen sich aber gerade dadurch so schwer an ihm, dass sie in ihrem hochfahrenden Wesen seine in den Wundern zutage tretende Gottheit nicht sehen wollen.
V. 34. Steht nicht geschrieben usw. Jesus zerstört den ihm gemachten Vorwurf, indem er erklärt: Ich rede recht, wenn ich mich als Gottes Sohn bekenne, während ich mit Verleugnung dieser Tatsache unrecht reden würde. Indes passt sich diese Aussprache im Kampf mit der Bosheit der Gegner mehr den persönlichen Umständen an, als dass sie als eine ausreichende sachliche Erörterung gelten könnte. In welchem Sinne Jesus Gottes Sohn sein will, sagen die Worte nicht klar heraus, sondern geben es nur verhüllt zu verstehen. Jesu Beweisführung will uns aber von einem Geringeren auf etwas Höheres schließen lassen: die Schrift nennt „Götter“ solche Menschen, denen Gott ein ehrenvolles Amt übertragen hat. In weit höherem Maße als alle anderen ist der nun dieses Namens würde, den Gott für das Amt über alle Ämter auserwählt hat. Mit der Schriftauslegung der Juden ist es also nicht weit her, wenn sie für hochgestellte Leute diesen Ehrentitel gelten lassen, ihn aber bei dem, der die Höchstgestellten noch nach Gottes Willen überragen soll, streichen wollen. Es kommt hierbei nur wieder ihre Bosheit zutage. Sie ist der eigentliche Grund, dass sie an Jesu Worten Anstoß nehmen. Die Schriftstelle, auf welche sich Christus beruft, findet sich im Psalter (Ps. 82, 6). Dort stellt Gott die Könige und Richter der Erde darüber zur Rede, dass sie ihre Herrscher- und Machtstellung missbrauchen, um als Männer der rohen Gewalt nach ihren Lüsten zu leben, die Unglücklichen zu unterdrücken und jeden Frevel zu begehen. Er macht ihnen den Vorwurf, dass sie vergessen, zu welchem Zweck sie ihre Würde tragen, und den Namen Gottes missbrauchen. Diese Stelle wendet Jesus auf den vorliegenden Fall an: diese Menschen bekommen den schönen Namen „Götter“, weil sie Gottes Diener in der Regierung der Welt sind. Aus demselben Grunde nennt die Schrift auch die Engel Götter, weil durch ihre Vermittlung Gottes Herrlichkeit die Welt bestrahlt. Wohl zu beachten ist, dass Christus sagt:
V. 35. In welchen das Wort Gottes geschah, d. h. die ein ausdrücklicher Befehl Gottes in ihr Amt gesetzt hat. Wir leiten daraus ab, dass die Staaten nicht von ungefähr oder nur durch menschliche Wirren entstanden sind: sie wurden mit Gottes Willen begründet. Er will, dass die Menschen in staatlichen Ordnungen leben. Er will, dass wir durch Recht und Gesetze gelenkt werden (Röm. 13, 1). Wenn jemand einwendet: Auch andere Berufe stammen von Gott und gefallen ihm, und doch heißen deswegen weder Bauern, noch Kuhhirten, noch Schneider „Götter“, - so gebe ich zur Antwort: das gilt ja nicht ausnahmslos für jeden Beruf, dass die Leute, welche Gott irgendetwas hat werden lassen, nun alle „Götter“ heißen sollen; Christus redet nur von den Königen, welche Gott allerdings auf eine höhere Staffel hinaufgestellt hat; denn sie haben zu befehlen und stehen über den anderen. – „Gesetz“ (V. 34) heißt hier das gesamte alte Testament. Die Propheten waren ja in ihrer Art Ausleger des Gesetzes. So sind auch die Psalmen gewissermaßen ein Anhang desselben.
Die Schrift kann nicht gebrochen werden. Das ist so viel als: die Lehre der Schrift ist unantastbar.
V. 36. Den der Vater geheiligt usw. Geheiligt sind ja alle frommen Menschen in ihrer Weise. Christus beansprucht aber hier etwas weit Höheres: Ich bin in einziger Weise von allen anderen abgesondert, denn in mir erscheint die Vollkraft des Geistes und die Hoheit Gottes! Ähnlich sagt Jesus schon früher (6, 27), dass der Vater ihn „versiegelt“ habe. Das trifft zu auf die Person Christi, insofern er sich im Fleisch geoffenbart hat. Beides ist also miteinander verbunden: Geheiligt und in die Welt gesandt. Man beachte dabei, zu welchem Zwecke und mit welchem Auftrage er gesandt wurde: er sollte uns von Gott her unser Heil bringen und sich in allen Stücken als Gottessohn erweisen und bewähren.
Du lästerst Gott. Christus redet hier nicht davon, wer er von Ewigkeit her ist, sondern davon, als was man ihn an den Wundern, die er als der im Fleisch Erschienene verrichtet, erkennen soll. Seine ewige Gottheit ist etwas für uns Unfassbares; wir müssen ihn also als unseren Erlöser in der Gestalt ergreifen, in welcher Gott ihn uns gezeigt hat. Man lasse übrigens das oben Gesagte nicht unbeachtet, nämlich, dass Christus hier nicht offen und ausdrücklich – wie er es unter seinen Jüngern getan hat – bezeugt, wer er ist; es kommt ihm hier nur darauf an, die Verleumdung seiner Feinde zu entkräften.
V. 37. Tue ich nicht die Werke usw. Damit die Juden nicht sagen sollten: Du prahlst vergeblich damit, dass dich der Vater heiligt hat usw., - weist Jesus noch einmal auf seine Wunder hin; in ihnen hatte er deutlich genug seine Gottheit bewiesen. Auf die Gedanken seiner Gegner eingehend, sagt er dem Sinne nach etwa so: Ich will euch nichts Unglaubliches zumuten zu glauben. Ihr sollt euch nur die Tatsachen ansehen. Hat sich Gott nicht offen zu mir bekannt, gut, so mögt ihr mich ungestraft verwerfen! „Werke des Vaters“ nennt Jesus seine Wunder, denn sie waren in Wahrheit göttliche Taten, in denen eine größere Macht erstrahlte, als dass man sie einem gewöhnlichen Menschen hätte zuschreiben können.
V. 38. Tue ich sie aber usw. Damit zeigt Jesus, dass seine Widersacher klar überführt sind: sie sind gottlose Verächter, denen das Heilige keine Ehrfurcht mehr abnötigt, - sie erweisen den offenbarsten Werken Gottes keine Ehre. Auch hier geht er auf die Gedanken seiner Feinde ein, wenn er sagt: Meinethalben mögt ihr an meiner Lehre zweifeln; das aber dürft ihr nicht in Abrede stellen, dass die Wunder, die ich getan habe, ihren Ursprung von Gott an der Stirn geschrieben tragen. Verwerft ihr mich, so verwerft ihr damit nicht bloß einen Menschen, sondern Gott selbst! Wenn Jesus übrigens die Erkenntnis dem Glauben voranstellt, als wäre dieser das untergeordnete Stück – auf dass ihr erkennt und glaubt -, so erklärt sich dies aus dem Umstande, dass er es mit ungläubigen und widerwilligen Menschen zu tun hat, die sich nur auf Grund des Augenscheins allenfalls werden unter Gott zwingen lassen. Solche Empörer wollen zuerst wissen und dann glauben. Gott hat auch da noch Geduld; er ist es zufrieden, dass wir uns durch die Kenntnis seiner Werke zum Glauben vorbereiten lassen. In der Regel aber folgt die Erkenntnis Gottes und seiner verborgenen Weisheit erst dem Glauben nach; der Gehorsam des Glaubens öffnet uns die Tür des Himmelreichs.
Dass der Vater in mir ist. Jesus wiederholt in anderem Ausdruck sein früheres Wort (V. 30): Ich und der Vater sind eines. Er will damit einprägen, dass seine Amtsführung sich ganz in den Wegen des Vaters bewegt. Ist der Vater in ihm, so muss all sein Tun eine Offenbarung des Wirkens Gottes sein. Ist umgekehrt auch Jesus im Vater, so tut er also nichts ohne Gottes Wink. In dieser Weise sind Vater und Sohn miteinander verbunden. Denn auch hier ist von der Offenbarung der göttlichen Macht in Christi Person die Rede, aus welcher man ihn als den Boten Gottes erkennen musste, nicht aber von der Wesenseinheit.
V. 39. Sie suchten abermals ihn zu greifen. Ohne Zweifel wollten sie ihn aus dem Tempel herausschleppen, um ihn stracks zu steinigen. Die Worte Christi hatten ihre Wut durchaus nicht besänftigt.
Aber er entging ihnen aus ihren Händen. Das konnte nur durch ein wunderbares Eingreifen Gottes geschehen. Wir sehen daraus, dass wir durchaus nicht schutzlos den Gelüsten der Übelgesinnten preisgegeben sind. Gott kann sie, so oft er will, bändigen.
V. 40. Jenseits des Jordans. Jesus überschritt den Jordan, um nicht fortwährend kämpfen zu müssen, während der Erfolg ziemlich unbedeutend blieb. Er ist vorbildlich dafür, dass man sich in dieser Beziehung nach den Umständen richten muss. Über den Ort, welchen Jesus aufsuchte, vgl. zu 1, 28.
V. 41 u. 42. Und viele kamen zu ihm. Dies Zusammenströmen des Volkes zeigt, dass Christus nicht etwa deshalb die Einsamkeit aufsuchte, weil er seines Amtes müde war; nein, er wollte mitten in der Wüste das Heiligtum Gottes aufrichten, nachdem man ihn in Jerusalem, wo sie den kostbaren Tempel hatten, so schnöde zurückgestoßen. Das war sicher ein Gottesgericht. Der Tempel, den sich Gott erwählt hatte, war eine Räuberhöhle, - so sammelt sich Gott seine Gemeinde an einem unbekannten Orte.
Johannes tat kein Zeichen. Die Leute ziehen den Schluss, dass Christus größer sein müsse, als Johannes, weil er so ausgezeichnete Wunder tat, während dieser niemals ein Wunder hatte sehen lassen. Nun darf man, wie früher schon gesagt, auf Wunder nicht immer ein solches Urteil gründen: aber als Anhängsel an die Lehre haben die Wunder ihr vollgültiges Gewicht. Die Rede des Volkes ist übrigens unvollständig: in dem Vergleich zwischen Christus und Johannes kommt nur das eine Glied zum Ausdruck. Weiter setzen sie als selbstverständlich einfach voraus, dass Johannes der größte, mit unvergleichlichen Geistesgaben ausgestattete Prophet war. Daraus ergibt sich denn der ganz richtige Schluss, dass Christo der Vorzug vor Johannes gebührt, weil es doch nur durch Gottes besondere Vorsehung geschehen sein kann, dass Johannes, im Übrigen der größte Prophet, die Empfehlung durch Wundergabe nicht besaß. Jesus besaß sie, offenbar deshalb, weil er in noch höherem Ansehen stehen sollte.
Was Johannes von diesem gesagt hat usw. Diese Worte scheinen nicht mehr zur Aussage des Volkes zu gehören, sondern ein Zusatz des Evangelisten zu sein, mit welchem er sagen wollte: zwei durchschlagende Gründe waren es, welche die Leute zum Glauben an Christum führten, einmal, dass sie sich durch den Augenschein davon überzeugten, dass das Zeugnis, welches ihm Johannes ausgestellt hatte, sich bewahrheitete, und dann, dass er im Glanze seiner Wundertaten als der Erhabenere vor ihnen stand.