Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 15.
V. 1. Dies ist die Last über Moab. Der Prophet weissagt hier gegen die Moabiter, welche Nachbarn und Blutsverwandte der Juden waren. Die Moabiter leiteten ihre Abstammung von Lot, dem Neffen Abrahams, ab. Bei solchen verwandtschaftlichen Beziehungen erforderte es zum wenigsten die Menschlichkeit, dass diese Völker untereinander in Frieden lebten. Aber jenes verwandtschaftliche Band vermochte die Moabiter nicht abzuhalten, die Juden feindlich zu verfolgen und je nach Gelegenheit zu bedrücken. Das ist das Zeichen eines rohen, blutdürstigen Sinnes. Weil sie nun von so wildem Hass gegen das Volk Gottes erfüllt waren, dem sie mit brüderlicher Liebe hätten begegnen sollen, verkündet Jesaja auch ihnen den Untergang. Wir müssen dabei des Zweckes gedenken, den diese Weissagungen verfolgen. Denn dass dieselben den Moabitern genutzt hätten, ist nicht glaublich, selbst wenn sie dieselben aus dem Munde des Propheten selber vernommen hätten. Zu ihnen selbst hat er aber gar nicht gesprochen, hat auch kein Schreiben an sie gerichtet. Mehr als sie hat der Prophet die Gläubigen im Auge, und zwar aus doppeltem Grunde. Erstlich, wenn sie mancherlei Veränderungen schauten, wie Staaten zu Boden stürzten, Königreiche untergingen, auf die einen die anderen folgten, - sollten sie nicht meinen, diese Welt werde von einem blinden Schicksal regiert, vielmehr sollten sie dann Gottes Vorsehung erkennen. Wäre nichts vorhergesagt worden, dann hätten sie das alles leicht dem Schicksal zugeschrieben, wie ja die Menschen in ihrem Sinn von Torheit umstrickt und für Gottes Tun fast blind sind. Aber nun wurden sie zuvor von den Propheten aufmerksam gemacht, und so konnten sie Gottes Gerichte wie von einer hohen Warte aus betrachten. So will Jesaja auch uns wie mit aufgehobenem Finger auf das hinweisen, was damals noch verborgen war. In seinen Weissagungen sehen wir Gott auf seinem Richtstuhl sitzen und nach seinem Willen alles bestimmen. Wie sehr nun auch die Gottlosen nach ihrer Laune gegen Gott und Menschen wüten, der Herr benutzt auch ihr Treiben zur Ausführung seiner Gerichte. Der andere Zweck des Propheten war der, unter den Erschütterungen der ganzen Welt die Juden zu der Erkenntnis zu bringen, dass Gott für ihr Heil Sorge trage. Wenn er Rache nimmt an den Feinden seiner Gemeinde, von denen diese so unmenschlich behandelt worden war, so bezeugt er damit, wie lieb sie ihm ist.
Ar in Moab – Kir in Moab. Das hebräische Wort „Ar“ heißt Stadt, „Kir“ heißt Mauer. Da aber Ar in Moab oder kurz Ar-Moab die Hauptstadt der Moabiter war, so sieht man hier das Wort Ar-Moab und ebenso Kir-Moab als Eigennamen an. Man kann aber auch beide Worte Ar-Moab und Kir-Moab als Gattungsbegriffe fassen. Sie weisen dann auf die Zerstörung einer Reihe befestigter Städte hin, auf welche die Moabiter stolz waren. Doch möchte ich mich lieber der allgemeinen Auslegung anschließen. Jesaja redet hier also von der Zerstörung der beiden mächtigsten Städte Moabs, beschreibt damit aber zugleich den Zusammensturz des ganzen Moabiterlandes.
Des Nachts. Er bezeichnet ihren Fall als einen unverhofften, plötzlichen, an welchen die Moabiter nicht dachten. Die Nacht ist zur Ruhe bestimmt. Wenn aber dann sich etwas ereignet, dann geraten dadurch alle wie durch eine unerwartete, plötzlich eintretende Sache in große Bestürzung. Dann wollte der Prophet auch die Sicherheit der Moabiter zunichte machen, die glaubten, auf allen Seiten gesichert und außer jeder Gefahr zu sein. Was Jesaja hier über die Moabiter verkündigt, das bezeugt die Schrift von allen Gottlosen. Ihrer wartet ein jammervoller Untergang, obschon sie nichts Derartiges erwarten.
V. 2. Sie gehen hinaus gen Baith. Das Wort „Baith“ heißt zu Deutsch Haus, dann auch Tempel, wie ja oft an andern Stellen der Schrift „Haus Gottes“ für „Tempel“ gebraucht wird. Der Prophet führt also die Moabiter in ihren Tempel, zu ihren Götzen betend, ein. Er verdammt damit zugleich ihren Aberglauben. Als ihren Götzen verehrten sie den Kamos (1. Kön. 11, 7; Jer. 48, 13). Jesaja meint also: Die Moabiter werden in ihrer verzweifelten Lage zu ihrem Gott flüchten, aber umsonst; sie werden bei ihm keine Hilfe finden.
Zu den Altären. Hieraus geht noch klarer hervor, dass der Prophet von einem Tempel redet. Ohne Zweifel war Baith für die Moabiter ein vor allen anderen besonders ausgezeichneter und berühmter Platz, wo sie zu Ehren ihres Götzen einen Tempel erbaut hatten. Da der wahre Gott, zu dem man im Unglück fliehen soll, ihnen unbekannt war, so war es nicht zu verwundern, dass sie nach ihrer Gewohnheit zu ihren Götzen ihre Zuflucht nahmen. Damit aber machten sie ihr Elend nur noch größer und setzten allem Bösen die Krone auf. Denn gerade dadurch, wodurch sie Gottes Zorn zu besänftigen wähnten, riefen sie denselben nur noch mehr hervor. Der Prophet wollte also die Lage der Gottlosen recht klar zum Ausdruck bringen. Im Unglück finden sie keine Hilfe. Nichts kann ihnen schädlicher sein als das, was sie als die geeigneten Hilfsmittel für ihre Leiden ansehen. Durch dieselben entfachen sie des Herrn Zorn noch mehr.
Nebo und Medeba. Zwei von den Städten der Moabiter hat der Prophet schon genannt, Baith und Dibon; jetzt fügt er noch die dritte hinzu: Nebo und als vierte Medeba. Er will damit sagen, jenes Unheil wird nicht nur dem Grenzgebiet Verderben bringen, sondern wird sich bis in das Herz des Landes erstrecken. Kein Winkel soll von demselben frei bleiben.
Aller Haupt ist beschoren, aller Bart ist abgeschnitten. Jedes Volk hat seine eigene Weise, Trauer und Freude zum Ausdruck zu bringen. Die Römer und überhaupt die abendländischen Völker ließen in Zeiten der Trauer Haar und Bart wachsen. Daher wurde auch für Trauern die Redensart gebraucht: den Bart wachsen lassen. Die Morgenländer dagegen schoren Haar und Bart, die sie als eine Zierde ansahen. Wenn sie also die übliche Sitte änderten, so war das ein Zeichen der Trauer. Nichts anders bezeichnet demnach der Prophet damit als dies: die Lage des ganzen Reiches der Moabiter wird so trauervoll sein, dass alle die Abzeichen der Freude hinweg tun und die Zeichen tiefster Trauer anlegen.
V. 3. Mit Säcken umgürtet. Der Prophet verweilt noch bei dem gleichen Gedanken und schildert die Zeichen der Trauer noch genauer. An solchen sind die Morgenländer reicher, als alle andern Völker. Wie sie überhaupt beweglicher und lebhafter sind, so drücken sie auch ihre Gemütsbewegungen mehr durch äußere Zeichen aus als die andern, die an Geist wie in ihren Bewegungen und Gebärden langsamer sind. Allerdings hat dieser Überfluss an Zeremonien und Bewegungen auch seine Schattenseite; aber der Prophet setzt hier einfach die Tatsache als bekannt voraus und beschreibt die Traurigkeit, die sich wegen der Verwüstung des Landes einstellt, durch ihre Anzeichen. Solch anschauliche Schilderung hat ihren guten Grund: denn die Weissagung wird uns nur dann einen Eindruck machen, wenn der Herr uns unmittelbar vor die Tatsache selbst stellt. Von diesen sehr zahlreichen Zeremonien und Zeichen redet der Prophet, um die Trauer zum Ausdruck zu bringen, welche die Verwüstung jenes Landes im Gefolge haben wird. Nicht ohne Grund hat er diese Darstellungsweise gebraucht. Denn wir werden niemals durch die Weissagungen erschüttert, wenn der Herr uns nicht vor sie hinstellt. Damit also die Juden nicht glauben, sie dürften hier leichthin vorübergehen, wollte der Prophet bei der Schilderung jener Heimsuchung die Trauer, die Tränen und das Heulen recht anschaulich darstellen. Sie sollten es mit eignen Augen schauen, was doch unglaublich war. Denn damals war die Lage der Moabiter noch eine ruhige und gesicherte. Umso mehr mussten die Gläubigen gestärkt werden, dass sie diese Weissagung nicht in Zweifel zogen. Damit wird nun auch die Verzweiflung geschildert, der im Unglück die Ungläubigen unterliegen; denn faul ist die Stütze, auf die sie sich lehnen.
V. 4. Hesbon und Eleale. Hier nennt der Prophet noch andere Städte Moabs. Wie in ein Bündel sollen alle Städte jenes Landes zusammengefasst und gemeinsam ins Verderben hineingezogen werden. Nicht eine einzige soll unversehrt bleiben.
Darum wehklagen die Gerüsteten in Moab. Niemand wird ohne Heulen sein, denn auch den gerüsteten, den tapfern und beherzten Leuten, kündigt der Prophet Trauer an.
V. 5. Mein Herz schreiet über Moab. Der Prophet selbst hat Mitgefühl mit den Leidenden. Es könnte wunderlich und unangebracht erscheinen, dass er das Unglück der Moabiter beklagt. Er sollte doch vielmehr das Elend der Gottesgemeinde betrauern, über den Untergang der Feinde sich aber freuen. Es ist jedoch bei den Propheten gebräuchlich, sich lebendig in die Lage derer hineinzuversetzen, denen sie Unheil ankündigen. Gleichsam wie auf einem Theater stellen sie deren Lage dar. Das ist wirkungsvoller, als wenn sie einer trockenen Darstellungsweise sich bedienten. Ohne Zweifel entsetzten sich auch die Propheten vor den Gerichten Gottes, auch wenn dieselben gegen die Gottlosen gingen. Doch ist es einfacher und passender, des Propheten Worte so zu verstehen, wie ich sagte.
Bis gen Zoar, der dreijährigen Färse. Der Prophet vergleicht Zoar mit einem dreijährigen Rind, einer Färse, welche noch an Kraft ungeschwächt ist und von einer Geburt, von der Arbeit und dem Joch noch nichts empfunden hat, sondern frei und ausgelassen sich umher tummelt. Wenn ein feindlicher Angriff droht, flieht man in unversehrte Städte, die fern von der Gefahr sicher erscheinen. Eine solche Stadt war Zoar, die von einem feindlichen Einfall noch nichts gespürt hatte. Wenn jemand die Aussage aber lieber von der ganzen Gegend bei Zoar verstehen will, so habe ich nichts dagegen. Denn Jeremia (48, 34), der doch manche Stelle aus unserm Propheten aufnimmt, scheint allgemein von der ganzen Gegend zu reden, die zwischen Zoar und Horonaim liegt. Denkt man an diese Gegend, so wäre der Sinn: die Moabiter, in höchster Lust und Üppigkeit lebend, haben bisher kein Ungemach empfunden. Daher auch ihre Frechheit. Um sie also niederzuwerfen, sollen sie gezüchtigt und bis Zoar getrieben werden. Zoar war die entlegenste Stadt der Moabiter. Diese können also nur dadurch sich retten, dass sie in die weite Ferne fliehen. Alle, welche der Herr freundlich behandelt, werden hier darauf hingewiesen, dass sie sich nicht erheben oder durch ausgelassenes, freches Wesen Gott herausfordern sollen. Sie sollen bescheiden bleiben, wenn sie auch noch so sehr im Glücke stecken, und sollen zu jedem Wechsel bereit sein, wenn der Herr ihre Lage zu verändern beabsichtigt.
Gen Luhith. Der Prophet nennt noch eine andere Stadt der Moabiter und beschreibt die Flucht des Volkes und die Trauer, die über das ganze Land kommen sollte.
V. 6. Die Wasser zu Nimrim. Der Prophet schildert die Verwüstung in überschwänglicher Weise. Wahrscheinlich waren diese Wasser zu Nimrim für jenes überaus wasserarme Land besonders wichtig und notwendig. Ohne Bewässerung bringen solche Gegenden nichts hervor. Wenn nun aber auch die Redeweise des Propheten etwas überschwänglich ist, sie enthält doch die volle Wahrheit. Er schießt nicht über das Ziel hinaus. Er musste sich in Anbetracht der Harthörigkeit seines Volkes stärker ausdrücken. Sie sollten erkennen, dass das Land des Segens Gottes beraubt werden und einer Wüste gleich sein wird, sodass es nach nichts mehr aussieht.
V. 7. Das Gut, das sie gesammelt. Der Prophet denkt an verborgene Schätze. In Gegenden, die von einem feindlichen Einfall überzogen werden, pflegen alle ihre Schätze anderswo unterzubringen und an irgendeinem sichern Ort niederzulegen, wo sie dieselben nachher nach Eintritt friedlicher Verhältnisse wieder holen. Die Moabiter aber werden keinen Zufluchtsort finden, wo sie dieselben sicher unterbringen können, sodass sie dieselben zwischen Weidengebüschen verstecken müssen. Dann ist sicherlich das Elend sehr groß, wenn wir bei einem feindlichen Einfall keine Zufluchtsstätte finden, wo wir das, was wir mit vieler Mühe erworben haben, verbergen können. Andere Ausleger denken an die Feinde, welche die geraubten Schätze an einem Gießbach zusammenbringen, um dort die gemeinsame Beute unter sich zu verteilen.
V. 8. Geschrei gehet um in den Grenzen Moabs. Ringsum werden alle Grenzen des Landes voll Geschrei und Heulen sein. Denn von einem Ende desselben bis zum andern wird jene Heimsuchung sich erstrecken. Zweimal sagt der Prophet: sie heulen. Er will damit das Übermaß des Schmerzes ausdrücken, wie wohl Menschen in der Verzweiflung völlig in Trauer aufgelöst sind.
V. 9. Die Wasser zu Dimon sind voll Blut. Hier redet der Prophet nicht nur von trauervollem Heulen, von angstvoller Furcht, von feindlicher Gier beim Plündern, sondern auch von einem Blutbad unter den Moabitern. Wie furchtbar muss das doch gewesen, wenn so bedeutende Gewässer, wie die zu Dimon, mit Blut sich füllten! Dass der Herr über Dimon noch mehr kommen lassen will, deutet auf immer wiederholte Blutbäder, bei denen die Leichname der Erschlagenen sich zu Hügeln anhäufen und das wilde Morden kein Maß kennt. Wenn nun auch die Assyrer, die Ausführer dieses Gerichts, bei dieser Niedermetzelung grausam waren, der Herr war nicht grausam. Denn mit Recht strafte er die wilde Rohheit, welche die Moabiter gegen die Juden in so überaus unwürdiger Weise geübt hatten, während sie sich doch ihrer hätten erbarmen sollen. Dasselbe Gericht, das sie an andern vollstreckten, mussten sie selbst über sich ergehen lassen.
Aber die, so erhalten sind in Moab. Auch dies gehört zu dem „noch mehr“, welches der Herr androht. Es ist gleichsam der Höhepunkt jener Heimsuchung. Welche den Händen der Feinde zu entwischen und jenem Blutbad zu entrinnen versuchten, denen sollen Löwen und wilde Tiere begegnen, die sie verschlingen werden. Dem Blutbad, sagt der Prophet, werden sie entrinnen, aber deshalb werden sie nicht gerettet. Der Hand Gottes werden sie nicht entgehen. Das ist der eigentliche Sinn der Propheten, wenn man den ganzen Zusammenhang näher erwägt. Er wollte den Jammer jener Heimsuchung in krassen Farben schildern, wenn er sagt: die, so erhalten sind in Moab, also selbst die schwachen, dem Blutbade entronnenen Überreste werden den Löwen anheim fallen. So verfolgt des Herrn Hand die Gottlosen, dass sie ihr auf keiner Weise zu entgehen vermögen. Sind sie der einen Gefahr entronnen, geraten sie alsbald in eine andere. Wir aber sollen daran gedenken, dass der Prophet das zum Troste der Frommen gesagt hat, um durch solche Verheißungen ihre Herzen aufzurichten gegenüber der Grausamkeit ihrer Feinde. Endlich werden diese doch zu Grunde gehen und weder bei ihren Götzen, noch in ihren Burgen, noch in ihren Schlupfwinkeln, noch auf ihrer Flucht eine Zuflucht finden.