Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 1.
V. 1. Dies ist das Gesicht Jesajas. Das Wort „Gesicht“ kommt von Sehen. Wir denken dabei unächst an ein einzelnes Gesicht, hier jedoch bedeutet es so viel wie Weissagung im Allgemeinen. Zuweilen erwähnt die heilige Schrift auch Gesichte im engeren Sinne des Worts. Es waren Zeichen, die Gott den Propheten gab, wenn er ihnen etwas Außerordentliches bezeugen wollte: in solchen Fällen finden wir stets das Wort Gesicht. Dagegen heißt es z. B. 1. Sam. 3, 1: „Des Herrn Wort war teuer zu derselben Zeit und war wenig Weissagung“, denn hier handelt es sich um Weissagung im Allgemeinen. Umgekehrt ist gleich nachher (V. 15) die Rede von dem Gesicht, in welchem Gott sich Samuel offenbarte. Ähnlich wird 4. Mos. 12, 6 das Gesicht (neben dem Traum) als eine der beiden Unterarten göttlicher Offenbarung bezeichnet. Doch wissen wir aus 1. Sam. 9, 9, dass man die Propheten ehedem „Seher“ hieß: man zeichnete sie dadurch als solche aus, denen Gott in vertrauter Weise seinen Ratschluss kundtue. So soll ohne Zweifel auch hier mit dem Worte „Gesicht“ darauf hingewiesen werden, dass die Lehre des Propheten gewisse Wahrheit sei: in dem nun folgenden Buche wird nichts verkündigt, was nicht göttliche geoffenbart worden ist. So weist uns gleich dies erste Wort darauf hin, dass die Propheten nicht von sich aus redeten, noch eigene Gedanken vorbrachten: nein, Gott erleuchtete sie, dass sie ihre Augen auftun konnten und schauen, was sie von sich aus nicht hätten durchschauen können. Die Überschrift empfiehlt uns den Inhalt des Buchs: ist es doch nicht menschliche Überlegung, sondern Gottes Wort, das wir hier lesen, geoffenbart durch seinen Geist.
Welches er sah von Juda. Es könnte auch heißen: „an Juda“. Dem Sinne nach kommt beides auf dasselbe hinaus: was im Buche Jesaja steht, bezieht sich in erster Linie auf Juda und Jerusalem. Allerdings lesen wir dazwischen auch allerhand Weissagungen über Babylon, Ägypten, Tyrus und andere Städte und Länder, allein es war nicht nötig, dies alles einzeln in der Überschrift aufzuzählen. Es genügt, wenn wir die Hauptsache erfahren und wissen, zu wem Jesaja in erster Linie gesandt war. Das ist aber Jerusalem und Juda. Was seine Weissagungen sonst noch enthalten, war doch von mehr nebensächlicher Bedeutung. Freilich gehörte es mit zu seiner prophetischen Aufgabe, auch andern Völkern das Unheil anzukündigen, das ihnen drohte. Hat doch auch Amos die Judäer nicht geschont, wiewohl er nicht zu ihnen, sondern zu den Israeliten gesandt war. Näher noch liegt ein anderes Beispiel. Petrus ist der Apostel der Juden, Paulus der der Heiden. Petrus aber hat die Schranken seiner Aufgabe nicht überschritten, wenn er gelegentlich einmal auch Heiden predigte, wie z. B. dem Cornelius; und ebenso wenig Paulus, wenn er den Juden seine Hilfe anbot, - was er ja stets tat, sobald er nur in eine Stadt gekommen war. Ganz ebenso ist über Jesaja zu urteilen. Vor allem will er die Juden lehren; auf dieses Ziel richtet sich seine Absicht zuerst, und dieselbe ist auch da vorhanden, wo er gelegentlich andere Völker erwähnt. „Juda“ steht hier für das ganze Volk, „Jerusalem“ ist genannt als die Hauptstadt des Reichs. Sie wird damit nicht vom Volke getrennt, sondern nur, eben als die Hauptstadt, in besonderem Maße hervorgehoben, gerade so wie wenn heutzutage ein Prophet Frankreich und Paris als seine Hauptstadt zusammen anredete. Die Einwohner Jerusalems sollten nicht glauben, sie seien frei von Schuld, oder sie brauchten sich wegen ihrer hervorragenden Stellung nicht um die Gebote zu kümmern, als ob die Worte der Propheten nur die Bauern und das gewöhnliche Volk etwas angingen.
V. 2. Höret, ihr Himmel! Jesaja folgt hier dem Beispiel Moses (5. Mos. 32, 1), wie alle Propheten. Ohne Zweifel spielt er an auf jenes bekannte Lied Moses, welches gleich am Anfang Himmel und Erde zu Zeugen wider sein Volk aufruft: ein Aufruf, der seinen Eindruck nicht verfehlen dürfte. Es ist, wie wenn die Propheten sich deswegen an die stummen und toten Elemente wendeten, weil der Menschen Ohren taub und alle ihre Sinne stumpf geworden sind. So furchtbar, so entsetzlich ist das, wovon Jesaja zu reden hat, dass es selbst die tote Natur mit Schrecken erfüllen muss. Denn was ist furchtbarer als der Abfall Israels von seinem Gott, der es mit so vielen Wohltaten gesegnet hatte? Wer annimmt, dass mit dem Worte Himmel die Engel, mit der Erde die Menschen gemeint seien, schwächt die Gewalt solcher Worte ab und nimmt ihnen ihre Schärfe und ihren Ernst. Auch will der Prophet nicht nur, wie meist gesagt wird, dem Gedanken Ausdruck verleihen, dass, sobald Gott seinen Mund auftue, alles bereit sein müsse, ihn zu hören. Aus dem Zusammenhang ergibt sich vielmehr, dass jenes Wort „Höret“ nicht auf jede beliebige Rede bezogen werden darf, sondern nur auf die gleich folgende Herausforderung. Somit ist der Sinn dieser: Höret die Klage, die Gott hier vorbringen muss: Ich habe Kinder auferzogen usw. So schrecklich und unerhört ist, was Jesaja vor Augen sieht, dass er in ungewohnter Weise selbst die tote Kreatur zum Zeugnis aufrufen muss. Und ist es wirklich so verwunderlich, dass hier stumme und leblose Dinge angeredet werden? Hört etwa die stumme Kreatur Gottes Stimme nicht? Ist doch die ganze Naturordnung nichts anderes als der Gehorsam, den alle Geschöpfe der Welt ihm leisten, damit überall seine allmächtige Herrschaft offenbar werde. Nach seinem Wink halten die Elemente das Gesetz, das ihnen gegeben ist, nach seinem Wink erfüllen Himmel und Erde ihren Auftrag. Die Erde bringt Früchte hervor, das Meer bleibt in den Grenzen, die ihm gesteckt sind: Sonne, Mond und Sterne ziehen ihre Bahn; selbst der Himmel wird aufgerollt, wenn die Zeit gekommen ist. In allen Dingen zeigt sich die wunderbarste Ordnung, wiewohl sie Vernunft und Verstand entbehren. Der Mensch aber, der Vernunft und Verstand besitzt, an dessen Ohr und Herz so oft das Wort des Herrn ergeht, bleibt hart und unbeweglich, als wäre er ein toter Stein! Er bringt es nicht über sich, seinen Nacken zu beugen und sich dem Herrn zu unterwerfen! So legt die stumme und unvernünftige Kreatur Zeugnis ab gegen die Hartnäckigkeit und Verstocktheit der Menschen, welche dereinst werden spüren müssen, dass Gott solche Zeugen nicht vergeblich aufrief.
Ich habe Kinder auferzogen, wörtlich: ich habe sie groß gemacht, groß werden lassen. Doch da von Kindern die Rede ist, kann man nicht besser übersetzen, als: auferzogen. Die nächste Aussage, dass Gott sie auch erhöhet hat, deutet auf die besonderen Wohltaten, die er ihnen erwies. Gott erinnert also an ein Doppeltes: einmal, er habe als ein gütiger Vater für den gewöhnlichen Lebensunterhalt gesorgt, sodann aber habe er noch obendrein alles getan, um seine Kinder in hohe und herrliche Stellung zu bringen. Es gab in der Tat keine Wohltat, die er ihnen nicht erzeigt hätte, ganz und gar hatte er sich ihnen ausgegeben. An anderm Ort lesen wir denn auch die vorwurfsvolle Frage (Jes. 5, 4): „Was sollte man doch mehr tun an meinem Weinberge, das ich nicht getan habe?“ Gott könnte allerdings allen Völkern die nämliche Frage vorlegen; denn alle nährt er und krönt sie mit allerlei Wohltaten und Segnungen: die Israeliten aber hatte er sich vor den andern auserwählt, vor ihnen als Vater sich ihrer angenommen, um sie als seine liebsten Kinder zu pflegen und besonders in seinem Schoße zu tragen, ja um sie mit Wohltaten jeder Art zu überhäufen. – Lässt sich das auf unsere Zeit anwenden? Wir brauchen nur darüber nachzudenken, ob unsere Lage dieselbe, ja nicht etwa eine noch bessere ist, als die der Juden. Weil Gott sie als Kinder angenommen, waren sie verpflichtet, ihm reinen Herzens zu dienen: unsere Verpflichtung gegen ihn ist eine doppelte. Denn wir sind nicht nur durch Christi Blut erlöst, sondern wir, die Erlösten, sind auch noch beschenkt mit seinem Evangelium: auf diese Weise hat er uns allen vorgezogen, welche er bis hierher in Blindheit und Unwissenheit bleiben ließ. Geben wir dies zu, - wie viel schwerer wird die Strafe sein, die wir auf uns laden! Je voller und reicher Gottes Gnade sich über uns ergossen hat, desto schwerer wiegt die Undankbarkeit, deren wir überführt werden.
Sie sind von mir abgefallen. Gott will sagen: alle Wohltaten waren umsonst, nichts konnte sie bei Gehorsam erhalten. Sie haben sich abgewendet und sind ganz entfremdet, wie ein Kind, das sein Vaterhaus verlässt und bei dem alle Hoffnung auf Besserung dahin ist. Es ist in der Tat etwas Grauenerregendes, wenn Kinder also aus der Art schlagen, und noch dazu bei einem Vater, der so gütig ist, der die Seinigen mit solch beständiger Fürsorge umgibt. Der heidnische Gesetzgeber Lykurg soll sich geweigert haben, ein Gesetz gegen Undankbarkeit zu erlassen, weil das Unerhörte, dass jemand eine Wohltat nicht erkenne, unter Menschen kaum vorkommen könne. Doppelt schrecklich ist aber die Undankbarkeit des Kindes gegen den Vater, und dreifach schrecklich gegen einen so freigebigen und wohltätigen Vater. Fürwahr, nicht um sie zu ehren, heißt Gott die Israeliten hier „Kinder“, sondern um das Abscheuliche ihres Abfalls recht hervorzuheben und in seiner ganzen nie gesehenen Größe vor Augen zu stellen.
V. 3. Ein Ochse kennet seinen Herrn usw. Der Vergleich, den der Prophet hier anstellt, soll das Unrecht der Kinder Israel noch besonders deutlich machen. Der Herr hätte sein Volk auch mit den Heidenvölkern vergleichen können, aber noch stärker ist es, wenn er es gar mit den stummen Tieren zusammenstellt und zeigt, dass es noch stumpfer an Sinnen ist als sie. Denn diese sind, wenngleich ohne Verstand und Vernunft, doch wenigstens gelehrig. Zum mindesten wissen sie, wer ihnen täglich ihr Futter darreicht. Gott aber hat sein Volk nicht nur geweidet und zur Krippe geführt, sondern ihm alles geschenkt, was ein Vater seinen Kindern geben kann; er hat nicht nur für die leibliche Nahrung gesorgt, sondern auch geistliche Speise ihm täglich dargereicht, - und nun, da sie in diesem Grade gleichgültig sind, verdienen sie es wirklich nicht anders, als dass man mit ihnen wie mit Tieren, nicht als mit Menschen rede. So weist Gott sein Volk hier auf Ochsen und Esel hin, damit es an ihren seine Pflicht verstehen lerne. Und in der Tat: Tiere folgen der Ordnung der Natur oft besser und legen mehr „Menschlichkeit“ an den Tag als die Menschen selbst. Auch das stumpfste und trägste Tier folgt doch seinem Herrn und Leiter. Um außer diesem von Jesaja selbst gebrauchten Beispiel noch andere anzuführen, so lässt sich etwa auf Folgendes hinweisen: Kein Tier wütet gegen seinesgleichen, sondern erkennt die Verwandtschaft und Gleichartigkeit bei den andern Exemplaren seiner Gattung an. Alle Tiere verwenden den größten Fleiß und Sorgfalt auf die Ernährung ihrer Jungen, während menschliche Mütter nicht selten wider alles natürliche Gefühl ihre Kinder verkommen lassen. Kein Tier nimmt mehr Speise und Trank zu sich, als zur Erhaltung des Lebens und Erneuerung der Kraft nötig ist, während Menschen nur zu oft sich übernehmen und zu Grunde richten. Überhaupt kann man sagen, dass die Tiere durchaus die von der Natur ihnen vorgezeichneten Gesetze innehalten. Ein sonderbarer Einfall ist es, - nebenbei bemerkt -, wenn römische Ausleger aus unserer Stelle die Idee entnehmen, dass Ochsen und Esel das Christuskind in der Krippe angebetet hätten. Nicht von solchen Wundergeschichten redet der Prophet, sondern von der Ordnung der Natur, und sagt, dass, wer sie verkehrt, schlimmer ist, als das unvernünftige Tier. Es ist gänzlich überflüssig, hier noch neue Wunder dazu zu dichten, um Christo dadurch Ehre zu erweisen. Wenn man so Wahres und Falsches vermengt, wird schließlich beides gleich unwahrscheinlich.
Israel kennet's nicht. Auf dem Wort „Israel“ liegt ein Nachdruck im Gegensatz zu den vorher genannten Tieren. Wir wissen, was es für eine Ehre war für die Nachkommen Abrahams, diesen Namen führen zu dürfen; denn von Gott selbst hatte ihn Jakob, der Erzvater, erhalten, weil er im Kampf mit dem Engel siegreich geblieben war. Umso schmählicher ist es, wenn so entartete und verderbte Nachkommen ihn tragen. So liegt in dem Wort Israel ein doppelter Vorwurf angedeutet: einmal der, dass sie fälschlich nach einem heiligen Manne sich nennen, dem sie doch ganz unähnlich sind, und sodann, dass sie gegen Gott undankbar sind, der ihnen so viele Wohltaten geschenkt hat. Zugleich aber hören wir aus diesem Wort auch einen Vergleich heraus: je größer die Ehre war, vor allen Völkern ausgezeichnet zu werden, umso tiefer ist die Schande, wenn sie jetzt mit diesem ihrem Ehrennamen vor aller Welt bloßgestellt werden. Eine alte griechische Übersetzung bietet statt „kennet es“ vielmehr „kennet mich nicht“. Allein ansprechender ist es, wenn nur auf das in der ersten Hälfte des Satzes Gesagte zurückgegriffen wird: Israel kennt seinen Herrn und Besitzer nicht, nämlich Gott, noch kennt es seine Krippe, d. i. die Gemeinde, in der es erzogen worden ist und zu der es sich sammeln sollte, - während jene Tiere ihren Herrn, der ihnen Nahrung gibt, wohl kennen und gern an den Ort zurückkehren, wo sie Weide gefunden haben.
V. 4. O weh des sündigen Volks. Obwohl die Sünde des Volkes schon stark genug beschrieben ist, so wird hier doch auch noch ein solcher Ausruf hinzugefügt, um den schändlichen Undank und die Gottlosigkeit noch lauter und eindringlicher zu bezeugen. Das Wehe am Anfang kann ebenso gut Ausdruck der Trauer sein, wie etliche wollen, als Drohung, wie andere es auffassen. Es genügt, dass es ein Ausruf ist, der dem Entsetzen und der Betrübnis zugleich entsprungen ist. Denn in beiden Fällen gebrauchen wir derartige Ausdrücke: wenn etwas so schändlich ist, dass wir es mit gewöhnlichen Worten nicht mehr beschreiben können, oder wenn uns ein Schmerz erfüllt, dessen Größe Worte nicht auszusprechen vermögen. Ein „sündiges Volk“ wird Israel hier genannt, gemeint ist nach dem Grundtext ein solches, das der Sünde ganz und gar ergeben ist, das nicht bloß gelegentlich gesündigt hat. Der Prophet will die gänzliche Verderbtheit und Verlorenheit Israels beschreiben.
Des Volks von großer Missetat. Eigentlich: „schwer belastet mit Missetat“. Die Bedeutung dieses Vergleichs ist nicht zu übersehen. Abgesehen davon, dass sie in ihrer Sünde wie in einem tiefen Sumpf stecken, muss der Prophet ihnen auch vorwerfen, dass sie nicht etwa aus Versehen oder Unbedachtsamkeit sündigen: das könnte man bei dem Wankelmut des menschlichen Herzens begreifen. Nein, mit bewusster Absichtlichkeit beharren sie in ihrer Verstockung, sie haben sich selbst zu Sklaven der Ungerechtigkeit gemacht, sich verkauft zum Böses tun, und müssen sich nun damit schleppen.
Des boshaften Samens. Dieser Ausdruck bedeutet nichts anderes als: „die Bösewichte“. Etwas zu spitzfindig ist die Erklärung, der Prophet wolle mit diesen Worten andeuten, sie seien nicht würdig, Abrahams Kinder zu heißen, sondern stammten von einem anderen Vater, - ähnlich wie sie gelegentlich „Same Kanaans“ genannt oder als unbeschnitten bezeichnet werden, als ob sie von irgendwelchen heidnischen und fremden Völkern stammten. Allein im Hebräischen sagt man sehr oft Söhne oder Samen der Gerechtigkeit für Gerechte: nach dieser Regel ist auch unser Ausdruck zu verstehen.
Der verderbten Kinder. Wörtlich: „verderbende“ Kinder. Gewöhnlich erklärt man: sie verderben sich selbst, oder sie machen ihr Tun zu einem verderbten. Besser aber passt: sie sind verderbt, d. h. entartet. Sie sind so tief gesunken, dass sie ihren Vätern ganz und gar unähnlich geworden sind. Vier Aussagen sind es, so sehen wir, die der Prophet über sein Volk zu machen hat, und sie alle sind nichts weniger als ehrend für dasselbe. Aufs schärfste aber widersprechen sie der Meinung, die das Volk von sich selbst hatte. Nur so können Heuchler entlarvt und aus ihrer Selbsttäuschung aufgeweckt werden; und je mehr sie geneigt sind, in derselben zu verharren und sich um Gott nichts zu kümmern, desto schärfer müssen die Worte sein, wie Blitze müssen sie ihr Gewissen treffen. Mit sachlich kühler Belehrung und einfacher Ermahnung wird bei solchen Leuten nichts erreicht: erst muss jene falsche Einbildung von Klugheit, von Gerechtigkeit, von Heiligkeit, deren sie sich rühmen und mit der sie sich decken zu können glauben, ihnen genommen werden.
Die den Herrn verlassen. Mit diesen Worten wird der Grund angegeben, warum der Prophet sein Volk gar so hart und schwer tadeln muss. Es sollte nicht, wie gewöhnlich, sich beklagen, dass man mit ihm zu streng und unfreundlich umgehe. Das erste, was er ihm vorzuwerfen hat, ist der Abfall von Gott. Derselbe ist in der Tat das innerste Wesen jeglicher Sünde. Die höchste Vollendung der Gerechtigkeit ist es, Gott zu dienen – wie es im 5. Buche Mose (10, 12) heißt: „Nun, Israel, was fordert der Herr dein Gott von dir? Dass du dem Herrn dienest von ganzem Herzen und von ganzer Seele.“ Umgekehrt: wenn wir von ihm abfallen, so ist es mit uns überhaupt geschehen. Und das ist es, was der Prophet sagen will: nicht eines oder des andern besonderen Unrechts sind die Judäer schuldig, nein er will zeigen, dass sie gänzlich abgefallen sind. Die folgenden Worte führen das noch weiter aus. Ob man übersetzt „lästern“ oder „verabscheuen“ macht nicht viel aus; doch ist das letztere nach dem Grundtext vielleicht vorzuziehen. Ein schmähliches Verabscheuen Gottes war in Wahrheit der Undank, mit dem sie seine Gnade für nichts achteten, nachdem er sie allein von allen Völkern zu Kindern angenommen hatte. Absichtlich nennt Jesaja hier Gott den Heiligen in Israel. Denn indem er sich an sein Volk hingibt, geht auf dieses der Glanz seiner Heiligkeit über. Solche Ehre für nichts zu achten, war das nicht Rohheit und Anmaßung zugleich? Will man übersetzen: „lästern“, - so ist der Sinn der: Sie haben Gott so zurückgestoßen, als ob sie mit voller Absicht seinen Zorn hervorrufen wollten: man sieht, wie schändlich ihr Abfall war.
Zurückweichen. Die Meinung ist: Während Gott ihnen Weg und Gesetz für ihr Leben klar vorgezeichnet hat, haben sie in ihrer ausschweifenden Begierde sich davon abbringen lassen. An das Vorhergehende schließt sich diese Bemerkung insofern an, als sie bestätigt, was dort gesagt wurde: so zügellos war ihr eigenwilliger Undank, dass sie sich ganz und gar von Gott losgesagt, dass sie mit vollem Bewusstsein sich abgewendet haben von dem Ziel, auf welches sich ihr Weg hätte richten sollen.
V. 5. Was soll man weiter an euch schlagen? Diese Frage wird meist so aufgefasst, als ob Gott sagen wolle, er habe keine Strafe mehr für sie. Auf alle nur mögliche Weise habe er versucht, sie auf den rechten Weg zurückzuführen, nun aber habe er kein Züchtigungsmittel mehr übrig. Eher aber dürfte zu übersetzen sein: Wozu soll ich euch weiter schlagen? d. h. was soll es für einen Zweck haben, wenn ich es tue? Der Prophet deutet an, dass die Juden in ihrer Gottlosigkeit und ihrem verbrecherischen Treiben so weit gegangen sind, dass eine Besserung durch Züchtigung unwahrscheinlich geworden ist. Wir wissen, wenn ein Mensch in seiner Verstockung aufs äußerste gekommen ist, so kann man ihn zwar noch brechen, kaum aber beugen und bessern. Und so beklagt sich auch Jesaja hier über die Hartnäckigkeit seines Volks. Es ist, wie wenn ein Arzt erklärte, nachdem er alle Mittel angewendet hat: Ich bin mit meiner Kunst am Ende. Zugleich enthalten aber diese Worte auch eine Anklage: denn wo die Strafe einen Verbrecher nicht wenigstens niederbeugt, da ist die Sünde auf den allerhöchsten Grad gestiegen. Gott will gleichsam sagen: Ich sehe, es ist umsonst, wenn ich euch gleich züchtige. Züchtigungen und Heimsuchungen sind sonst Mittel in Gottes Hand, uns zu bessern: wo sie nichts bei uns fruchten, ist keine Hoffnung mehr für uns. Freilich hört Gott darum nicht auf, uns zu strafen. Im Gegenteil, schärfer und schärfer lässt er seinen Zorn gegen uns walten, weil ihm nichts unerträglicher ist, als solche Hartnäckigkeit. Aber gleichwohl kann er mit vollem Rechte sagen, die Mühe ist vergebens, wenn sie uns nicht zur Besinnung und Sinnesänderung bringt; er kann sagen, dass alle Mittel vergeblich seien bei denen, die sich nicht heilen lassen wollen. So lässt er nicht ab, Heimsuchungen und Züchtigungen zu häufen und die äußersten Mittel anzuwenden, ja er wird gezwungen, solches zu tun, bis er endlich gänzlich vernichtet. Aber bei alledem ist sein Tun nicht das des Arztes, der Heilung schafft; und eben das ist's, was er bedauert, dass alle seine Züchtigungen dem Volke keine Heilung bringen werden.
So ihr des Abweichens nur desto mehr machet. Dieser Satz begründet die vorhergehende Frage und hat daher eine selbständige Bedeutung. Die Meinung ist: Ihr werdet doch nicht ablassen von euren Sünden, vielmehr euer Unrecht noch steigern. Denn ihr habt euch förmlich und feierlich verschworen zum Sündigen, sodass keine Hoffnung auf Besserung mehr vorhanden ist. Gott will zeigen, wie unverbesserlich ihr Sinn ist, an welchem jeder Versuch einer Erziehung scheitert, damit sie sich weiterhin nicht mehr entschuldigen können.
Das ganze Haupt ist krank. Andere übersetzen: „jedes Haupt“, und wollen damit die Vorsteher und Leiter des Volkes bezeichnet sehen. Ich neige mich mehr der Anschauung derer zu, welche übersetzen: das ganze Haupt. Es scheint mir nämlich, dass hier nur ein Vergleich mit einem menschlichen Körper angestellt wird, der so schwer erkrankt ist, dass keine Hoffnung mehr vorhanden ist. Die beiden wichtigsten Teile, von welchen die Gesundheit des Körpers vor allem abhängt, werden genannt, Haupt und Herz. Dadurch zeigt der Prophet, wie schwer die Krankheit ist, die das arme Volk bis zum Siechtum verzehrt hat. Nicht nur irgendein einzelnes Glied oder äußere Teile des Leibes sind angegriffen, nein, das Herz selbst ist verwundet und das Haupt ist aufs schwerste erkrankt: kurz die zum Leben notwendigsten Organe sind so durch und durch erkrankt, so beschädigt und zerfressen, dass ihre Heilung ganz unmöglich geworden ist. Übrigens gehen hier die Meinungen der Ausleger noch in anderer Beziehung auseinander: die einen verstehen diese Erkrankung von der Sündhaftigkeit des Volkes, die anderen beziehen sie auf die Strafen, welche ihm zugeschickt worden sind. Im ersteren Fall ist der Sinn folgender: Ihr gleicht einem verfaulenden, stinkenden Leibe, an dem nichts Gesundes und Reines mehr übrig ist. Verbrechen und Frevel gehen unter euch im Schwang, und alles ist dadurch vergiftet und verdorben. Besser aber ist es wohl, diese Worte auf die Strafen zu beziehen; denn ohne Zweifel stehen wir noch im Zusammenhang jener Klage Gottes, dass das Volk so hartnäckig sei und keine Strafe es bessern könne: dem Untergang nahe, durch die Schläge, die es erhalten hat, entstellt und aufs entsetzlichste zugerichtet, will es immer noch nicht sich der Buße zuwenden. Dazu stimmt aufs beste auch der folgende Vers, der denselben Vergleich weiter ausführt und in den Gedanken unseres Verses fortfährt.
Wer V. 5 von der Sünde des Volkes versteht, berücksichtigt den Zusammenhang des Ganzen nicht in der richtigen Weise. Angenommen nämlich, es werde hier das von Sünde verderbte Volk mit einem kranken Körper verglichen, was soll dann das gleich Folgende bedeuten: die Wunden seien nicht geheftet noch verbunden noch mit Öl gelindert? Hier spricht der Prophet doch ganz offenbar von den Plagen, unter denen das Volk nahezu zu Grunde gegangen war, und zeigt, wie seine Gleichgültigkeit angesichts solcher Heimsuchungen ein Zeichen der äußersten Unbußfertigkeit ist. Von Eiterbeulen ist hier die Rede, welche beständig eklige Flüssigkeit ausströmen lassen, einem verborgenen Brunnen gleich, der fortwährend neues Gift ausfließen lässt. Das Bild soll die Krankheit als eine unheilbare bezeichnen, als eine solche, deren Grund und Quelle man mit keinem Heilmittel beikommen kann. Eine nicht geringe Steigerung der Aussage enthält schließlich noch der Satz, dass Heilmittel nicht einmal versuchsweise angewendet worden seien. Die drei Züge des Bildes wirken einheitlich bei der Schilderung zusammen: die edelsten Teile sind angegriffen, im tiefsten Inneren ist der Sitz der Krankheit, Heilmittel sind nicht angewendet worden; so gibt es keine Hoffnung auf Erleichterung, keinen Trost und kein Gesundwerden mehr für dieses Volk, in dessen Heimsuchung und Strafe Gottes ganzer Zorn vor aller Welt sich geoffenbart hat.
V. 7. Euer Land ist wüste, wörtlich: es ist eine Wüstenei. Jesaja spricht hier eingehender und klarer über die göttlichen Strafen, von denen er im letzten Verse bildlich geredet hat. Das Land, heißt es zunächst, sei in der schrecklichsten Weise verwüstet worden. Alle diese Aussagen nämlich sind von der Vergangenheit zu verstehen. Der Prophet weist darauf hin, welche Gerichte bereits über das Volk gekommen sind, nicht aber will er hier die künftige Strafe Gottes drohend ankündigen. Es handelt sich noch immer um einen Tadel ihrer Gleichgültigkeit und ihres stumpfen Sinnes, auf den alle Strafen Gottes keinen Eindruck zu machen imstande sind. Eine Steigerung bedeutet es noch, dass das Land wüste ist, als das, so durch Fremde verheeret ist. Man könnte statt Fremde auch übersetzen: „Feinde.“ Allein eindrucksvoller und bezeichnender ist der Gedanke, wenn man hier bei dem eigentlichen Sinn des Wortes bleibt, und dieser ist „Fremde.“ Das Unheil ist schlimmer, wenn unbekannte, aus fernen Gegenden kommende Fremde ein Land verwüsten: denn solche pflegen noch unbarmherziger und grausamer zu wüten, als Nachbarn. Sie zerstören Städte und Dörfer; Gebäude und Niederlassungen werden angezündet, alles weit und breit verheert. Sie verwüsten aus Lust am Morden und Brennen und wollen weniger für sich etwas Bleibendes gewinnen, als Schaden anrichten. Nachbarn können ein unterworfenes Land besetzt halten und Abfall oder Aufruhr rasch unterdrücken: daher pflegen sie nicht so zu wüten und alles zu verheeren, da sie ja doch selbst aus dem eroberten Land Gewinn zu ziehen hoffen. Somit beschreibt der Prophet an unserer Stelle nicht eine gewöhnliche Niederlage, sondern die schrecklichste und vollkommenste Verwüstung.
Hier wollen wir darauf achten, wie Gott, wenn er uns straft und wir nicht Buße tun wollen, mit seiner Strafe nicht ruht noch innehält. Er sendet vielmehr neue und mannigfache andere Strafen und führt seine Sache unabänderlich gegen uns durch. Hüten wir uns daher vor solcher Hartnäckigkeit, damit wir nicht ähnliche Gerichte über uns bringen! Hüten wir uns, dass uns nicht derselbe Vorwurf treffe, wie die Juden: nämlich der, dass Gott uns wohl ernst gezüchtigt und seine Hand habe fühlen lassen, wir aber seien unverbesserlich und hartnäckig geblieben. Und auch darüber sollen wir uns nicht wundern, dass uns mitunter so schwere und mannigfaltige Heimsuchungen auferlegt werden, deren Ziel und Ende wir nicht absehen können: wir sind es, die in unserer Hartnäckigkeit gegen Gott und seine strafende Hand ankämpfen. Daher muss es uns dann auch ebenso ergehen, wie dem widerspenstig ausschlagenden Pferde, das nur desto mehr Schläge bekommt, dem sich der Sporn nur desto tiefer in die Weichen bohrt, je mehr es ungehorsam und wild zu sein versucht. Wie viele gibt es heutzutage, die sich beklagen über Gott, als der zu streng und grausam gegen sie sei, welche meinen, er könnte wohl etwas milder sein in seinen Züchtigungen, - wie schrecklich aber unsere Sünde ist, beachtet man nicht. Wenn man darüber ernstlich nachdenken wollte, so würde man gewiss bei aller Strenge Gottes doch seine übergroße Milde gegen uns anerkennen müssen. Im vorliegenden Fall braucht man nur an die Sünden zu erinnern, welche nachher aufgezählt werden, um zu erkennen, dass von einer übertriebenen Strenge Gottes nicht die Rede sein kann.
Doch muss hier noch eine andere Frage aufgeworfen werden. Wie kann Jesaja sagen, dass das Volk von so schweren Strafgerichten getroffen worden sei, während er doch, wie oben bemerkt, seine Wirksamkeit unter König Usia begonnen hat, unter welchem im Reiche Juda vollkommener Friede und Ruhe herrschte? Wir wissen allerdings, dass gegen Ende seiner Regierung das Reich Israel schwere Schläge erlitt (vgl. 2. Kön. 15, 19 ff.), doch wurde Juda in keiner Weise davon mit betroffen. Die jüdischen Ausleger beziehen daher unsere Weissagung auf die Zeit Jothams, nicht die des Usia. Wiewohl dies auf den ersten Blick wenig empfehlenswert erscheint, spricht doch eine genaue Erwägung aller in Betracht kommenden Gesichtspunkte sehr zugunsten dieser Annahme. Wir wissen ja bereits, dass bei der Sammlung der prophetischen Aussprüche die zeitliche Aufeinanderfolge nicht immer innegehalten worden ist. Und es ist möglich, dass diese Predigt Jesajas nur deswegen an den Anfang des Buches kam, weil sie den Hauptinhalt des Folgenden zusammenfasst. Andere glauben dieser Schwierigkeit auf einfache Weise entgehen zu können, indem sie alles Gesagte auf die Sünde, nicht auf die Gerichte und Strafen beziehen. Allein was von den verbrannten Städten und dem verwüsteten Lande gesagt wird, lässt sich doch nicht so einfach bei Seite schieben. Will jemand annehmen, der Prophet rede nicht von einem vorliegenden Zustand, sondern von einem zukünftigen, und weissage gleichsam aus Gottes ewiger Gegenwart heraus künftige Plagen, so mag er es tun, - wahrscheinlicher aber bleibt doch, dass er auf bekannte, vor Augen liegende Dinge hinweist. Es handelt sich um eine klare Beschreibung eines gegenwärtigen Zustandes, nicht um Weissagung, wenngleich zugegeben werden muss, dass der folgende Vers darauf hinweist, welches Ende für die Zukunft droht.
V. 8. Was aber noch übrig ist usw. Der Prophet bezieht sich hier, wie auch wir mitunter solche Beispiele anwenden, auf die Hütten in den Weinbergen, welche die Weinbergswächter aufschlagen, sobald die Trauben zu reifen beginnen. Der daneben stehende zweite Vergleich geht auf die damalige Sitte zurück, auch die Gurkenfelder durch Hüter bewachen zu lassen; zum Schluss wird noch erklärt, was mit diesen beiden Bildern gemeint ist. Übrigens kann auch dieser Vers in doppelter Weise erklärt werden. Die Meinung kann sein: die ganze Umgebung werde verwüstet werden und nur die Stadt allein unversehrt bleiben, wie eine Nachthütte im Weinberg; es kann aber auch gemeint sein, die Stadt selbst werde verwüstet und zerstört werden. Die erstere Ansicht ist die der jüdischen Ausleger, welche unsern Vers auf die Belagerung Sanheribs beziehen. Allein es ist wahrscheinlicher, dass der Sinn ein allgemeiner ist, mit anderen Worten, dass auch andere künftige Heimsuchungen und Gerichte gemeint sind. Man könnte ja immerhin daran denken, der Prophet wolle sagen, dass die Verwüstung der Umgegend Jerusalems auch dieser Stadt die schwersten Nachteile bringen werde, allein die eigentliche Meinung ist doch wohl die, dass das Unheil, von welchem bisher stets die Rede war, auch die Hauptstadt treffen werde, ja gerade sie, und so schwer treffen werde, dass sie in ihrem geschwächten und verringerten Zustand einer erbärmlichen unscheinbaren Hütte gleich wird. „Die Tochter Zion“ heißt Jerusalem hier wie oft in der heiligen Schrift, wo diese Ausdrucksweise sich häufig zur Bezeichnung aller möglichen Völker findet: auch von einer „Tochter Babel“, einer „Tochter Tyrus“ ist die Rede, und ist damit die Einwohnerschaft, die Bevölkerung der betreffenden Städte gemeint. „Tochter Zion“ steht aber für Tochter Jerusalem wegen der Bedeutung des auf dem Zion liegenden Tempels.
V. 9. Wenn uns der Herr Zebaoth nicht ein Weniges ließe überbleiben usw. Hiermit wird abgeschlossen, was von den göttlichen Strafen über Juda zu sagen war. So entsetzlich wird die Verwüstung sein, ja sie ist bereits so entsetzlich, dass man sie mit der Zerstörung Sodoms vergleichen könnte, wenn nicht Gott etliche dürftige Überreste aus dem allgemeinen Brand herausreißen würde. Dieser Vers bestätigt, was oben gesagt wurde. Indem der Prophet die Gerichte beschreibt, die bereits eingetroffen sind, berührt er auch das Ende, das unmittelbar bevorsteht. Er will etwa sagen: Lasst euch nur nicht betören durch eitle Reden! Dasselbe Schicksal wie Sodom und Gomorra stünde auch euch bevor, wenn Gott nicht aus Barmherzigkeit einen kleinen Rest von euch errettete. Der Sinn ist etwa derselbe, wie in dem bekannten Wort Jeremias (Klagel. 3, 22): „Die Güte des Herrn ist, dass wir nicht gar aus sind.“
Hierzu ist zweierlei zu bemerken. Einmal dies: Das Gericht, welches gedroht wird, ist gleichbedeutend mit vollkommener Vernichtung. Allein nachdem Gott einmal mit seiner Gemeinde und seinem auserwählten Volk in heilsgeschichtlicher Beziehung getreten war, wird durch besonderen Gnadenratschluss dieses Gericht doch wieder ermäßigt, es werden aus dem allgemeinen Untergang die, welche dem Herrn angehören, gerettet; freilich ist es nur ein geringer Überrest, von dem das gilt. Wenn nun Gott die Sünde der Juden mit so furchtbaren Strafen gerichtet hat, so mögen wir bedenken, dass es uns ebenso ergehen kann, wenn wir ihrer Hartnäckigkeit folgen. Hatte Gott sich dieses Volk geheiligt und aus allen andern auserwählt, warum sollte er uns mehr schonen, wenn wir vermessen in unserer Gottlosigkeit und Untreue beharren? Und vollends: was ist für ein Ende zu erwarten für die schmutzigen Laster, in deren Pfuhl sich weit und breit auf Erden die Leute weiden? Ganz gewiss kein anderes als das Ende Sodoms und Gomorras, die völlige Vernichtung, das endgültige Verderben. Nur dass Gott selbst hier seine Strafe in den Grenzen hält, welche die Rücksicht auf seinen ewigen Gnadenbund ihm zieht: hat er doch versprochen, dass seine Gemeinde ewig dauern werde. Auch ist zu beachten, dass diese schrecklichen und furchtbaren Drohungen an hartnäckige und unverbesserliche Menschen ergehen, an ein Geschlecht, dessen Sünden auch durch Strafen nicht gebrochen werden.
Weiter aber ist zu bemerken, was oben schon mit den Worten des Propheten Jeremia angedeutet wurde, nämlich dass es lediglich ein Geschenk der göttlichen Barmherzigkeit ist, wenn wir nicht alle mit einem male gänzlich vernichtet werden. Wenn wir nämlich bedenken, wie groß die Gottlosigkeit ist, die überall herrscht, so müssen wir uns in der Tat wundern, dass überhaupt noch ein Mensch am Leben ist, dass sie nicht längst schon alle miteinander dahingerafft worden sind. Gott aber hält seine strafende Hand zurück, damit doch wenigstens eine kleine Gemeinde auf Erden erhalten bleibe. Eben diesen Grund deutet auch Paulus, gewiss der beste Ausleger unserer Stelle, an, wenn er im Briefe an die Römer (9, 29) auf dieses Wort des Propheten Jesajas verweist, um die Anmaßung der Juden zurückzuweisen. Sie sollen, sagt er, nicht wähnen, es genüge, von den Vätern abzustammen; sie sollen sich nicht ihres Namens rühmen, denn Gott könne mit ihnen ebenso ins Gericht gehen, wie mit ihren Vätern. Doch werde allerdings ein Rest durch seine Gnade errettet werden, und wozu? Damit die Gemeinde Gottes nicht gänzlich zu Grunde gehe. Aus Gnaden lässt Gott, wiewohl er um unserer Verstocktheit willen die schwersten Gerichte schicken muss, um uns zu bessern, doch wenigstens einen kleinen Rest übrig. So soll uns dieses Wort Jesajas in den schweren Zeiten der christlichen Kirche, da es oft aussieht, als sei es überhaupt aus mit ihr, ein kräftiger Trost sein; wir können und sollen beim allgemeinen Zusammenbruch unerschütterten Mutes fest stehen und gewiss sein, dass der Herr allezeit für seine Gemeinde sorgen werde.
Ein Weniges. Das hier im Grundtext stehende Wort bedeutet auch „beinahe“, man müsste es in diesem Falle zum Folgenden ziehen und übersetzen: Beinahe wären wir geworden wie Sodom usw. Näher aber liegt es, das Wort zum Vorhergehenden zu ziehen, wie auch in der Übersetzung geschehen ist; es hebt noch besonders hervor, dass der Herr nur einen geringen Überrest übrig ließ. Auch dieser Zug ist wohl zu beachten. Denn zu allen Zeiten pflegt man die Gemeinde des Herrn zu verachten, wenn sie nicht weit und breit die Erde erfüllt. Darum trotzen ihre heuchlerischen Feinde auf ihre eigene Macht, die Schwachen aber werden irre, wenn sich die Feinde so stolz gebärden dürfen. Hier aber können wir aus unserm Propheten lernen, dass man nicht nach der großen Zahl messen soll, es sei denn, dass jemand die Spreu dem Getreide deswegen vorziehen wollte, weil sie mehr ausmacht als dieses. Uns soll es genügen, wenn wir, mag die Zahl der Frommen noch so gering sein, nur überhaupt von Gott zu seinem auserwählten Volk gerechnet werden. Wir können uns trösten mit dem Wort des Herrn (Lk. 12, 32): „Fürchte dich nicht, du kleine Herde; denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben.“
V. 10. Höret des Herrn Wort! Dieser Vers erklärt und begründet noch näher, dass Gottes Strafe keine grausame war: hatten sie doch eine viel härtere verdient. Denn allerdings bestand ein Unterschied zwischen der Strafe, die Sodom, und derjenigen, die Juda getroffen hatte, aber zwischen der Sünde beider bestand kein Unterschied. Billig hätte Gott sie ebenso hart strafen können wie Sodom, wenn er nicht Schonung hätte walten lassen. Dies aber geschah nicht, weil sie etwa weniger schwer gesündigt hatten, sondern war einzig und allein Gottes Barmherzigkeit zuzuschreiben. Wenn der Prophet die Leiter des Volks „Fürsten von Sodom“, das Volk selbst aber ein „Volk von Gomorra“ nennt, so will er damit nicht etwa eine Verschiedenheit beider ausdrücken, sondern gerade im Gegenteil ihre Gleichheit. Nur um im Ausdruck abzuwechseln, spricht er so: er will ja gerade sagen, sie seien einander genau ebenso gleich, wie Sodom und Gomorra sich glichen. Zwei verschiedene Klassen der Bevölkerung werden aufgezählt, aber weil Sodom und Gomorra von einander nicht verschieden waren, so werden auch sie eben auf diese Weise in eins zusammengefasst. Wenn man in dieser Meinung ein Urteil über dies Volk fällen soll, so wird man finden: sie passen aufs beste zueinander, wie Sodom und Gomorra; wie ein Ei dem andern, so gleichen sie sich, weder oben noch unten ist eine Spur von Schuldlosigkeit und Reinheit zu finden. – Damit beginnt der Prophet, den Juden die Maske vom Gesicht zu reißen; und er hatte Grund dazu. Alle Heuchler haben es an sich, dass sie die schönsten Mäntelchen sich umzuhängen wissen, um nur ja ihr wahres Wesen zu verbergen. Ganz so machte es auch jenes Volk allezeit. Gegen nichts hatten die Propheten so hart und schwer zu kämpfen, als gegen diese Neigung ihrer Zeitgenossen. Man rühmte sich einer durch und durch erheuchelten Frömmigkeit, man feierte Feste und war auf den Eifer in Zeremonien und äußerlichen Bezeugungen der Verehrung Gottes nicht minder stolz wie auf Abstammung und Zugehörigkeit zum auserwählten Volk. Man kann sich vorstellen, welchen Anstoß die harten Worte Jesajas erregten. Aber es war notwendig, die ganze Schändlichkeit ans Licht zu ziehen. Und darum donnert der Prophet die Heuchler umso gewaltiger nieder, je stolzer sie sich zu erheben gewohnt waren. Eine andere Weise, solchen Leuten gegenüber zu treten, führt auch heutzutage nicht zum Ziel.
Nimm zu Ohren unseres Gottes Gesetz. Das ist das Nämliche, was der Prophet soeben des Herrn Wort nannte. Ohne Zweifel fügte er die Erinnerung an das Gesetz mit Absicht bei, um damit den gänzlich verkehrten Meinungen der Heuchler entgegen zu treten. Sie glaubten nämlich, man könne Gott durch Opfer versöhnen, auch ohne Glaube und ohne Buße. Damit aber verstanden sie das Gesetz gründlich falsch. Wenn er nun sagt: „nimm zu Ohren unseres Gottes Gesetz!“ – so erinnert er daran, dass er nichts anderes vorbringen werde, als was Mose gelehrt habe, nichts Neues, keine Zusätze zum Gesetz. Sie sollten nur hören, was Gottes wahre Forderung sei, davon allein werde er treulich lehren. Sie sollten nicht glauben, sich mit dem Gesetz decken zu können, nicht glauben, sie könnten in ihrer eingebildeten Gerechtigkeit dem Herrn etwas vorspiegeln.
V. 11. Was soll mir die Menge eurer Opfer? Nunmehr lässt Jesaja Gott selbst reden und seinen Willen näher kundtun. Ein Gesetzgeber darf ja in der Tat sich nicht damit begnügen, nur Vorschriften zu erlassen, er muss ihnen auch die richtige Auslegung beifügen, damit kein Missbrauch mit ihnen getrieben werde. Die Vorwürfe, welche der Prophet dem Volke gemacht hatte, waren hart und schwer gewesen; es lässt sich kaum etwas denken, was schärfer und verletzender für sie hätte sein können, als das, was Jesaja gesagt hatte: rühmten sie sich doch ihrer Abstammung von Abraham und erhoben sie sich doch in der anmaßendsten Weise über die anderen Völker. Dem gegenüber scheint es wohl erklärlich, wenn sich der Prophet in besonderem Maß mit der Autorität Gottes selbst wappnet; wenn er ihnen zuruft: Wisset aber, dass ihr es nicht mit mir, sondern mit dem lebendigen Gott selbst zu tun habt!
Hierauf geht er daran, Gottes wahre Meinung bei den Opfergesetzen darzulegen. Gott gab sie nicht, weil er das Opfer als solches schätzte, sondern damit sie Zeichen und Mittel zur Bewährung der Frömmigkeit seien. Darum gehen die Juden gar sehr irre, wenn sie meinten, mit der Darbringung von Opfern sei alles geschehen, was der heilige Gott von seinem Volke fordere. Glaubten sie doch wirklich, ihrer Pflicht aufs beste genügt zu haben, wenn sie nur Opfertiere schlachteten; und wenn die Propheten auf anderem, Höherem bestanden, so beklagten sie sich über ungerechte Vergewaltigung. Der Herr aber spricht: Ich hasse und verabscheue diese Opfer, - fast zu scharf erscheinen uns die Ausdrücke, nachdem er doch selbst sie eingesetzt hatte. Allein zwischen den Geboten Gottes ist ein Unterschied: manche gelten an und für sich, manche weisen über sich selbst hinaus auf einen anderen Zweck. Wir wollen das an einem Beispiel klar zu machen versuchen. Das Gesetz befiehlt, Gott zu dienen und ihn anzubeten, weiter aber unserm Nächsten Gutes zu tun. Dies ist an sich Gott wohlgefällig und wird um seiner selbst willen verlangt. Anders ist es bei den religiösen Gebräuchen: dieselben sind Übungsmittel, die nicht um ihrer selbst, sondern um anderer Zwecke willen gefordert werden. Das Gleich gilt vom Fasten: denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken (Röm. 14, 17). Ebenso hat Gott die Vorschriften über Opfer und dergleichen, welche das Alte Testament enthält, nicht in dem Sinne gegeben, als ob er über ihre äußerliche Erfüllung hinaus überhaupt nichts zu fordern habe. Vielmehr sollte sich das Volk in ihnen üben und erziehen zur Frömmigkeit und allmählich tiefer und tiefer in die rechte Art der Gottesverehrung eindringen. Heuchler aber tun, als ob alles religiöse Leben in diesen äußerlichen Dingen aufgehe, sie erfüllen solche Vorschriften aufs Genaueste und halten sich für die heiligsten Leute, wenn sie sich nur recht lange und oft mit solchen Geboten Mühe machen. Und um den Ruf der Heiligkeit noch zu steigern, fügen sie zu dem, was gefordert ist, von sich aus noch neue Forderungen hinzu und ersinnen alle Tage etwas anderes und Besonderes. In Wahrheit aber treiben sie mit Gottes heiligen Einrichtungen den schändlichsten Missbrauch, weil es ihnen um das wahre Ziel derselben nicht im Mindesten zu tun ist. All ihr Treiben ist in Wahrheit nichts als eine Verkehrung der rechten Verehrung Gottes. Denn wenn es nur auf die leere äußerliche Handlung ankommt, was ist dann noch für ein Unterschied zwischen einem heidnischen Opfer und einem derartigen? Heidnische Opfer aber sind eine Gotteslästerung, weil sie nicht dem wahren Gott und nicht in der richtigen Absicht dargebracht werden. Daher musste Gott alle diese Leistungen des jüdischen Volkes verwerfen, obwohl er selbst in seinem Gesetz sie fordert. Denn das Volk beachtete nicht, in welcher Absicht und zu welchem Zweck diese Gesetze in Wahrheit erlassen waren. In dieser Hinsicht hatten die Propheten einen fortwährenden Kampf mit ihrem Volk zu bestehen, um diese Heuchelei zu entlarven; und immer wieder suchen sie zu zeigen, dass Gott mit solch äußerlicher Verehrung nicht zufrieden sein, mit solchen religiösen Gebräuchen nicht versöhnt werden kann. Die nämlichen Erfahrungen machen übrigens die Diener des Wortes noch heutzutage. Denn die Menschen messen Gott immer nach sich und glauben, dass man durch glänzende Leistungen äußerlicher Art ihn zufrieden stellen könne. Aber schwer, sehr schwer lassen sie sich dazu bringen, ihm rückhaltlos ihr Herz zu schenken. Wollen wir zur Erklärung unserer Stelle ein Wort des Propheten Jeremia (7, 22 f.) beiziehen! Er sagt: „Ich habe euren Vätern des Tages, da ich sie aus Ägyptenland führte, weder gesagt noch gebeten von Brandopfern und anderen Opfern; sondern dies gebot ich ihnen und sprach: Gehorchet meinem Wort, so will ich euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein; und wandelt auf allen Wegen, die ich euch gebiete.“ Damit zeigt Jeremia, wie es bei allen solchen Gebräuchen einzig und allein auf den Gehorsam gegen Gottes Wort ankommt, und wie sie ohne diesen Gehorsam völlig eitel und unnütz sind; es ist dann, wie wenn man die Seele aus einem Leibe genommen hätte. Dasselbe sagt der 50. Psalm (V. 13): „Meinest du, dass ich Ochsenfleisch essen wolle oder Bocksblut trinken? Opfere Gott Dank und bezahle dem Höchsten deine Gelübde!“ Anderwärts spricht Jeremia (7, 4): „Verlasset euch nicht auf Lügen, wenn sie sagen: Hie ist des Herrn Tempel, hie ist des Herrn Tempel, hie ist des Herrn Tempel! Sondern bessert euer Leben und Wesen“ usw. Ebenso sagt der Prophet Micha (6, 7): „Wird wohl der Herr Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen Öls?“ Und gleich nachher: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ Aus dem allen sieht man, dass diese äußeren religiösen Handlungen deswegen verworfen werden, weil sie vom Wort Gottes, ihrem eigentlichen Kern und Inhalt, ihrer Seele gleichsam, getrennt wurden. Wie blind sind die Menschen, die sich nicht davon überzeugen lassen wollen, dass alles, was sie tun, um Gott zu dienen, ganz unnütz ist, wenn es an der rechten Hingabe des Herzens fehlt! Und diesen Fehler begehen nicht etwa bloß die gewöhnlichen Leute, sondern nahezu alle Menschen, zumal die, welche sich selbst etwas Besonderes zu sein dünken. Wie tief solche Neigungen im Herzen wurzeln, zeigt uns auch die Hartnäckigkeit, mit welcher die römischen Irrlehren dieser Art und dieses Inhalts festgehalten werden. Hier an unserer Stelle aber spricht nicht ein Mensch, sondern Gott selbst, und stellt als seinen unabänderlichen Willen fest: die Menschen mögen tun, was sie wollen, - es ist alles verlorene Mühe und ein unfruchtbares Treiben, wenn sie den Herrn nicht im wahren Glauben anrufen.
V. 12. Wer fordert solches von euren Händen? Die beste Zurückweisung trügerischen Gottesdienstes ist es, zu zeigen, dass Gott selbst von alledem nichts wissen will, und dass es vergebens ist, ihm anzubieten, was er nicht gefordert hat. Er will nicht anders verehrt werden, als er es selbst geboten hat. Würden die Menschen es sich recht klar machen, dass sie dem Herrn nichts Nützliches oder Angenehmes von sich aus anbieten können, so würden sie sich auch nicht in derartigen Einfällen gefallen. Sie müssten sich erinnern, dass es auf den Gehorsam allein ankommt. Sie würden nicht so frevelhaft ihre Leistungen hervorkehren, deren der Herr nur spottet: denn ihm nützen sie wahrlich nichts, und er will auch nicht, dass als seine Forderung erscheine, was ohne seinen Befehl in vermessenem Sinn unternommen wird. Er kann es nicht dulden, dass menschliche Willkür an Stelle seines wirklichen Gebotes trete. Noch beschämender ist es, wenn Jesaja hinzufügt, dass das, womit sie Gott zu dienen meinen, ihn in Wahrheit verletzen muss: Ihr eifriges Besuchen des Tempels ist nichts als ein Zertreten seiner Vorhöfe. Es ist, wie wenn er von ihren heuchlerischen Gebeten sagen wollte: all ihr Schreien ist für mich nichts als unangenehmes Geräusch, das mir die Ohren schmerzen macht.
V. 13. Bringet nicht mehr Speisopfer vergeblich. Eine derartige Mahnung war sehr am Platze, um dem falschen Eifer in eitlem und nichtigem Gottesdienst Einhalt zu tun. Das Volk hätte wenigstens auf solche Mahnung hin zur Einsicht kommen können und sollen, wofern es überhaupt irgendeinem Zuspruch zugänglich gewesen wäre. Aber hier zeigt's sich eben: Wo die Heuchelei einmal von einem Herzen Besitz genommen hat, da wird die Unempfänglichkeit immer größer, so dass sogar Gottes eigene Warnung zuletzt nichts mehr hilft, mag er noch so deutlich es bezeugen, dass all dieser Aufwand und Mühe töricht und zwecklos ist.
Das Räucherwerk ist mir ein Gräuel. Dieses Wort steigert noch das verwerfende Urteil des vorigen Satzes. Nicht nur unnütz ist dieser Gottesdienst der Heuchler: Gott verabscheut und hasst ihn geradezu – und mit Recht, denn er ist eine gotteslästerliche Entweihung der wahren Verehrung Gottes, bei der sein Name gröblich missbraucht wird. Wie es für Gott nichts Höheres gibt als seine Ehre, so nichts Unerträglicheres als eine Entweihung und Verletzung derselben. Und dieselbe ist in der Tat vorhanden, wenn an Stelle des rechten Gottesdienstes irgendein törichtes Treiben tritt. – Der Sinn unseres Ausspruchs ist denen entgangen, welche meinen, der Prophet weissage hier die einstige Abschaffung des Opferkultus und die Beseitigung des Gesetzes. Nicht darauf kommt es ihm hier an; vielmehr will er nur seine Zeitgenossen zur rechten Beobachtung der vorgeschriebenen Gebräuche aufrufen, und zeigen, welches die eigentliche Absicht, der wirkliche Zweck der Einsetzung derselben gewesen sei. Am Anfang nämlich wurde Gott nur im Geiste gedient: dass aber die von Gott zur Erziehung der Menschen angewendeten Mittel im Alten Testament andere waren, als die jener ersten und die unserer Zeit, ist im Hinblick auf die Bedürfnisse eben der Menschen, nicht aber um Gottes willen geschehen. Denn bei Gott gibt es keine Veränderung, er passt sich vielmehr dem Unverstand der Menschen an. So ziemte diese Erziehung dem jüdischen Volke wie dem Kinde die seinige. Welches aber der Zweck und die richtige Beobachtung der zeremoniellen Vorschriften ist, legt Jesaja im Folgenden näher dar.
Neumonde und Sabbate mag ich nicht. Damit wird wiederum nichts Neues zu dem Vorhergehenden hinzugefügt, sondern nur gesagt: alle die äußeren religiösen Gebräuche sind nicht nur unnütz, sondern geradezu unrecht, wenn sie nicht im Geist und in der Wahrheit geübt werden, wenn nur der trügerische Schein gesucht wird. Wir sehen: alle unsere Arbeit ist vergeblich, wenn wir Gott nicht in der Weise dienen, wie es sich ziemt und wie er es selbst vorschreibt. In allen Dingen hat Gott Wohlgefallen an der Wahrheit, am meisten aber bei der Verehrung seiner selbst. Wo es daran fehlt, ist nicht nur alle Mühe vergebens, sondern es wird auch, wie gesagt, die Verehrung Gottes in ihr Gegenteil verkehrt; und kaum wird es etwas geben, was gottloser wäre. Jede Art von Heuchelei aber ist eine solche Verkehrung des rechten Gottesdienstes, und ist eben darum so sündig und verwerflich. Für die Beurteilung kommt es hierbei auf die Sache selbst, die geschieht, und auf die Gesinnung an, in welcher sie geschieht. Auf die Sache selbst: wenn nämlich die Menschen meinen, Dinge erfinden zu müssen, die Gott doch nicht befohlen hat. Dazu gehört alles, was z. B. die „selbst erwählte Geistlichkeit“ (Kol. 2, 23) hervorbringt, alle „frommen Übungen“ und dergleichen. Der eine stellt ein Bild am Wege auf, der andere baut eine Kapelle, ein dritter hält Gedenktage und was dergleichen Dinge mehr sind. Wo immer die Menschen in dieser Weise den vorgeschriebenen Weg verlassen und neue Arten der Gottesverehrung ersinnen, da haben wir es in Wahrheit mit Aberglauben zu tun. Weiter aber kommt es auf die Gesinnung, den Gemütszustand an, in welchem man Gott dient. Denn man kann auch gottgewollte und von ihm selbst angeordneten heilige Handlungen äußerlich nachahmen, aber dabei eben rein am Äußeren hängen bleiben, ohne sich um ihren Sinn und wirklichen Zweck zu kümmern. So hielten die Juden aufs pünktlichste alles ein, was Mose im Gesetz vom Opfer befohlen hatte, und unterließen dabei doch das, was das Wichtigste war. Denn an einem reinen Gewissen lag ihnen nichts, von Glaube und Buße war keine Rede, von einem Bewusstsein ihrer Schuld keine Spur; schließlich verwarfen sie auch noch ihren Messias und ließen damit der Wahrheit vollends keinen Raum mehr bei sich. So ist klar, dass ihr ganzer Gottesdienst eine falsche, ehebrecherische Heuchelei war, nicht besser als der Gottesdienst der Heiden. Daher kann es uns auch nicht wundern, wenn Gott ihr Opfer einen „Gräuel“ nennt. Wir wollen nicht näher auf die einzelnen Ausdrücke eingehen, deren Gott sich hier bedient, aber sie dürfen nicht schlechthin genommen werden. Gottes Auge durchschaut verwerflichen Leichtsinn, mit dem die Menschen sich allen möglichen selbst erwählten Gottesdienst ersinnen, und darum häuft er die Worte seines verwerfenden Urteils, und spricht es immer wieder aus, wie verhasst ihm all dies Wesen sei. Er will sein Volk dadurch von seinem falschen Treiben abschrecken, zugleich aber auch denen entgegen treten, die sich schmeicheln, mit solchen selbst erdachten Dingen dem Herrn einen günstigen Eindruck machen zu können. Gerade das Gegenteil ist der Fall: Gott hasst und verabscheut dieses alles.
V. 15. Und wenn ihr schon euere Hände ausbreitet usw. Dass man beim Beten die Hände ausbreitete, war kein abergläubischer Brauch, auch keine Sitte, welche wie so viele andere auf törichten und gottlosen Eigensinn zurückging. Vielmehr entspringt sie dem natürlichen Bedürfnis des Menschen nach einem äußeren Ausdruck für die Richtung seines Inneren, das im Gebet zu Gott seine Zuflucht nimmt. Da die Menschen nicht zu Gott empor fliegen können, so erheben sie sich bildlich in einer solchen äußerlichen Bewegung. Wir finden nirgends ein Gebot dieses Inhalts, welches etwa die Erzväter erhalten hätten; dennoch übten sie bereits diesen Brauch, gleichsam von Gott unmittelbar dazu angetrieben. Dieser sinnbildliche Ausdruck ist, nebenbei bemerkt, in sich selbst ein Zeugnis, dass die Götzendiener von ihrer Blindheit überführen könnte. Während sie mit der Bewegung ihrer Hände ausdrücken, dass sie ihre Zuflucht zu Gott nehmen, wenden sie sich in Wirklichkeit an die Götzen! Und um das recht eindrücklich zu machen, duldete Gott auch bei den Seinigen die beständige Übung dieser Sitte. So verurteilt denn der Prophet nicht das Ausbreiten der Hände, sondern die Heuchelei: sie erwecken den Schein, als riefen sie Gott an, - mit ihrem Herzen aber sind sie ferne von ihm, wie er an einer anderen Stelle (29, 13) näher ausführt. Denn der Herr sagt, dass er nahe sei allen, die ihn mit Ernst anrufen (Ps. 145, 18); wo aber Heuchelei herrscht, da kann kein wahres ernstes Anrufen sein. Und wenn wir anderwärts lesen: wenn sie ihre Hände ausbreiten, will ich sie hören (vgl. etwa 1. Kön. 8, 38; Hi. 11, 13), so ist auch dies kein Widerspruch gegen unsere Stelle. Denn dort redet der Herr von der Anrufung, die aus dem Glauben kommt. Der Glaube ist der Ursprung der rechten Anrufung; wo er fehlt, bleibt nichts als eitle Spielerei. Diese Zurückweisung ihres Gebets spricht Gott in anderer Form noch einmal aus; er sagt, er werde taub sein für ihr Schreien, „ob sie schon viel beten“. Wenn sie noch so eifrig und ausdauernd sind in ihrem Beten, so wird ihr Eifer ihnen doch nichts nützen. Auch das ist ein Fehler aller Heuchler, dass sie glauben, je geschwätziger sie sind in ihren Gebeten, desto mehr steigere sich ihre Heiligkeit und zugleich die Aussicht auf Erhörung. Hier aber wird ein deutliches Urteil über ihr eitles Wortemachen abgegeben.
Denn eure Hände sind voll Bluts. Hiermit wird nun schon deutlicher, warum Gott die Bitten und Opfer des Volkes verschmäht, ja mit Abscheu zurückweist: sie sind voll Grausamkeit und Blutgier, sie sind beladen mit allen Arten von Freveltaten, wenn sie in ihrem unwahren Gepränge vor sein Angesicht treten. Wir werden gleich nachher verschiedene andere Vergehen erfahren, an welche der Prophet hier gedacht hat; da er jedoch soeben vom Ausbreiten der Hände gesprochen hat, so knüpft er zunächst an diesen Ausdruck an. Mit ihren Händen halten sie gleichsam selbst Gott den Beweis ihrer Freveltaten vor, daher sei es auch nicht verwunderlich, wenn sie so schroff zurückgewiesen würden. Die Erkenntnis, dass man zu Gott nur reine Hände aufheben darf, ist nicht nur bei Propheten und Aposteln (vgl. 1. Tim. 2, 8), sondern auch bei weltlichen Schriftstellern ganz geläufig; sie entspringt schon aus dem natürlichen Empfinden. Das ist ein Zeugnis gegen die menschliche Herzenshärtigkeit. Oder sollten wir in solchen Formeln ein unwillkürliches Bekenntnis der Heiden sehen dürfen, durch welches Gott selbst bei ihnen eine gewisse Anerkennung dessen, was sein sollte, erzwingt? Doch meint der Prophet an unserer Stelle nicht, dass die Leute, zu denen er spricht, alle Räuber und Mörder seien. Er wirft ihnen vor allem ihre Übervorteilung und ihre Habgier vor, mit der sie sich fremden Gutes zu bemächtigen suchten. Gott urteilt ja anders als die Menschen, nach deren Meinung gar mancherlei versteckte Kunstgriffe und unlautere Mittel, mit denen der Klügere den Einfältigen zu fangen sucht, gar nicht als Unrecht anzusehen sind. Und wo das etwa geschieht, pflegt man sie doch zu beschönigen und jedenfalls nicht in ihrer wahren Bedeutung zu würdigen. Gott aber bringt das Treiben solcher Leute, die scheinbar im Glanz der vollkommensten Rechtschaffenheit strahlen, ans Licht. Wiewohl sie mit allerlei ehrbaren Titeln ihr räuberisches Treiben zu bemänteln suchen, - er nennt sie geradehin Mörder. Und in der Tat: wie man einem Menschen das Leben nimmt, ändert an der Tatsächlichkeit des Mordes nichts. Wer einem andern die Nahrung und was er zum Leben braucht, entzieht, ist ebenso gut ein Mörder, als wer einen andern totschlägt. So spricht also Gott hier nicht von öffentlichen Verbrechern, von Übeltätern, deren Schandtaten vor aller Welt bekannt waren, sondern von solchen, welche für rechtschaffen gelten wollten und sich diesen Ruf erhalten hatten. Diese Tatsache ist wohl zu beachten. Denn heutzutage müssen wir ganz denselben Kampf gegen die Ungerechtigkeit kämpfen, die sich noch immer ebenso mit Ehrbarkeit schmückt, wie damals. Und dabei werden, wie zu den Zeiten des Propheten Jesaja, die Schwachen und Geringen mit Gewalt und List und allen möglichen ungerechten Mitteln bedrückt. Es ist unsere Pflicht, dem entgegen zu treten mit demselben Ernste und derselben Strenge, wie es die Propheten getan, mag sich noch so laut das Geschrei erheben, wie behandelten Leute wie Räuber und Diebe, die doch nichts mit ihnen zu tun hätten. Wenn wir an Gottes Statt als seine Diener stehen, dürfen wir nicht urteilen nach menschlicher Meinung, sondern müssen Gottes Urteil mit Freimut verkündigen.
V. 16. Waschet, reiniget euch! Der Prophet ermahnt die Juden zur Buße und zeigt, worauf es vor allem ankommt, wenn man dem Herrn den Eifer des Gehorsams zeigen will. Wir können daraus entnehmen, dass ihm nichts wohlgefällig ist, was nicht aus einem reinen Gewissen kommt. Denn Gott schätzt nicht, wie Menschen pflegen, unsere Werke nach dem äußeren Schein. Gar oft findet bei Menschen irgendeine besondere Tat den größten Beifall, wenn sie gleich von einem durch und durch schlechten Menschen vollbracht worden ist. Gott aber sieht das Herz an, vor ihm befleckt ein unreines Gewissen auch die glänzendsten Vorzüge und Leistungen. Hier gilt, was Haggai (2, 13 f.) mit einer Anspielung an Gesetzesvorschriften sagt: „Was ein Unreiner anrührt, wird auch unrein.“ Es kann von einem Unreinen nichts Reines kommen. Soeben hat der Prophet bezeugt: umsonst bringen sie Opfer dar, umsonst geloben sie Gelübde, umsonst rufen sie Gottes Namen an, wenn nicht die Reinheit des Herzens den äußeren Gottesdienst heiligt. Damit sich nun die Juden nicht weiter vergeblich mühen möchten, legt er ihnen hier die göttliche Forderung der Reinheit vor. Und zwar ist eine gänzliche Erneuerung nötig; sie sollten nicht meinen, wenn sie in einem Stück sich änderten, werde Gott das Übrige schon übersehen. So aber muss man allezeit mit den Menschen verfahren, welche von Gott entfremdet sind. Es genügt nicht, die eine oder andere Wunde des kranken Körpers anzurühren: soll eine wahre und völlige Gesundung eintreten, so muss man sie zur gänzlichen Erneuerung zu bringen suchen und den Quell der Ansteckung gänzlich verstopfen; dann allmählich werden die, welche vorher Gott verhasst und unerträglich waren, sein Wohlgefallen erlangen können. Mit dem Bilde des Waschens meint Jesaja ohne Zweifel das Abtun der inneren Unreinigkeit, bald nachher fügt er auch die Früchte guter Werke bei. Dass aber die Menschen sich reinigen sollen, hat nicht den Sinn, als ob sie aus eigenem Antrieb Buße tun könnten, sondern will nur sagen, dass es kein anderes Mittel zur Rettung gibt, als wenn sie reinen Herzens vor Gott zu treten anfingen. Wir wissen ja, dass oft auf die Menschen übertragen wird, was in Wahrheit der Geist Gottes in ihnen wirkt. Ihn aber nennt Hesekiel (36, 25) gerade deswegen ein „reines Wasser“, weil die Buße sein eigenstes Werk ist.
Tut euer böses Wesen von meinen Augen. Damit spricht der Prophet nunmehr von den Früchten der Buße. Er will nicht nur an Stelle des Bildes vom Waschen und Reinigen den eigentlichen Ausdruck setzen, sondern will zugleich sagen, dass sich das neue Wesen nun auch im ganzen Leben mit all seinen einzelnen Handlungen zeigen muss. So führt unser Vers den Gedanken fort, bestätigt aber zugleich, was vorhin von ihrem bösen Treiben und seinem alles Tun vergiftenden Einfluss gesagt war. Ausdrücklich wird gesagt: „von meinen Augen“. Sie sollen nicht etwa, „die Decke vor ihrem Angesicht“ (2. Kor. 3, 13 – 15), sich selbst am Sehen hindern und meinen, Gott sei so blind wie sie selbst.
Lasst ab vom Bösen. Der Prophet fährt fort, den Wandel seines Volks zu strafen. Meist wird dieser Befehl etwas zu allgemein gefasst, als handle es sich hier um jede beliebige Art von Unrechttun. Genau genommen aber denkt der Prophet vor allem an das Unrecht, mit welchem der Nächste geschädigt wird; ebenso wie im folgenden Vers zu den Worten: „lernet Gutes tun!“ zu ergänzen ist: dem Nächsten. Denn von Unrecht und Wohltat gegen den Nächsten ist hier zunächst die Rede. Da aber die Buße ihre Stätte im Herzen des Menschen hat, so sind diese Dinge hier als die sichtbaren Erweise derselben genannt. Durch sie tritt die Sinnesänderung äußerlich in Erscheinung: denn wie jemand wirklich ist, erkennt man eben an seinem Tun und äußeren Verhalten. So soll auch das Volk der Juden in seinen Werken bezeugen, dass es wirklich bußfertig ist. Die Früchte der Buße legt der Prophet nach doppelter Richtung dar: sie umfasst die Enthaltung vom Bösen und das Tun des Guten. Fürs erste handelt es sich darum, jegliches Unrecht zu meiden. Denn die Freigebigkeit, die dem einen schenkt, was sie dem andern genommen, taugt ebenso wenig, als anderseits die Blödigkeit, die sich zufrieden gibt mit dem Meiden des Unrechts, aber dem Nächsten nichts Gutes zu erweisen bemüht ist. Beides gehört zusammen: nur wenn beides vorhanden ist, werden die Gebote der zweiten Tafel gehalten.
V. 17. Lernet Gutes tun! Wie der Prophet vorhin, als er ermahnte, das Böse zu lassen, ihre lange schlimme Gewöhnung hervorhob, so zeigt er jetzt, dass ihnen noch alle Erziehung zum Guten fehle; und wie unerzogene Kinder lädt er sie ein, zu „lernen“, das Gute zu tun. Zunächst befiehlt er: trachtet nach Recht. Es heißt nicht bloß: suchet oder untersuchet, was rechtens ist; der Prophet will, dass wir auf praktischem Gebiete, wie wir etwa sagen würden, darnach trachten, dem Recht zum Sieg zu verhelfen. Wir sollen das Recht durchführen; und dabei denkt Jesaja an alles, was Rechtlichkeit und Billigkeit fordern.
Helft dem Unterdrückten! Wie gewöhnlich fügt der Prophet zu der allgemeinen Ermahnung noch etliche speziellere hinzu. Hat er zur Redlichkeit und Wohltätigkeit überhaupt ermahnt, so zählt er jetzt noch genauer bestimmte Formen derselben auf, um seinen Worten mehr Nachdruck und größere Klarheit zu geben. Durch allgemeine Lehren erschüttert man die Menschen nicht leicht, da ihnen die Neigung zur Selbstzufriedenheit viel zu stark anhängt und sie sich nicht gern getroffen fühlen wollen. Nimmt man aber die einzelnen Lebensgebiete vor, so müssen sie sich beugen oder doch wenigstens etwas zugänglicher werden, - wie wir dies ja auch alltäglich erfahren.
Schaffet dem Waisen Recht! Zwei Beispiele nennt der Prophet in unserm Text, und zwar Dinge, bei welchen die Ungerechtigkeit der Menschen besonders häufig und deutlich zu Tage tritt. Die Sache der Waisen und Witwen wird selten geachtet, weil von ihnen keine glänzenden Belohnungen zu erwarten sind. An ihnen vergreift sich, wer Lust hat, weil niemand als ihr Verteidiger auftritt. Denn auch eine gerechte Sache will niemand umsonst vertreten; Schwache und Hilflose aber zu berauben, sind die meisten gern bereit. Es zeigt sich auch hierin, dass es niemand um das, was das Recht fordert, zu tun ist. Dass der Mächtige Freunde hat, die ihm helfen, ist nicht verwunderlich; hier lockt die Aussicht auf Entgelt. Der Herr aber spricht, dass er für die Waisen und Witwen sorgen und Rächer sein wolle über das Unrecht, das ihnen geschieht. Dasselbe gilt aber auch allen andern, welche unter der Gewalttat der Mächtigeren und Willkür von ungerechten Bedrückern seufzen müssen. Das ist ein kräftiger Trost für alle Kinder Gottes, die ihre Seelen fassen sollen in Geduld. Mögen die Feinde noch so wild toben, es gibt keine Macht, die den Sieg derer hindern könnte, in deren Herzen die Gewissheit lebt: der Herr ist unser Beistand; sein ist die Rache. Mögen die Menschen uns verlassen, er sorgt für uns. Er hilft den Verlassenen und führt ihre Sache.
V. 18. So kommt denn, und lasset uns miteinander rechten! Der Herr erklärt mit dieser Aufforderung, dass die Juden ihm nicht werden antworten können. Und wenn ihnen auch Gelegenheit gegeben würde, sich zu verteidigen und rein zu waschen, so müssten sie doch ganz und gar verstummen. In der Tat muss man den Heuchlern in dieser Weise entgegen treten. Denn sie fordern ganz kühn Gott zur Rechtfertigung seiner selbst heraus und machen kein Ende mit ihren Kunstgriffen. Darum spricht Gott, wenn sie streiten wollten, so sei er seines Teils bereit und gerüstet. –
Man könnte die Frage aufwerfen, warum der Prophet hier immer nur von den Geboten der zweiten Tafel redet und nicht vielmehr von den Pflichten der rechten Verehrung Gottes. Wir wissen ja, dass Gott nicht ohne bestimmte Absicht die Gebote der ersten Tafel bei der Zweiteilung des Gesetzes an die Stelle gerückt hat, wo sie stehen. Auch besteht kein Zweifel darüber, dass ihnen wie der Anordnung so auch der Bedeutung nach die erste Stelle zukommt. Diesem Einwand ist entgegen zu halten, dass die Propheten, wenn sie die Heuchelei ihrer Zeitgenossen bekämpfen, sehr verschiedene Wege einschlagen. Mitunter beklagen sie sich über die Sabbatschändung, ein anderes Mal tadeln sie, dass Gott nicht gefragt worden sei; vor allem aber bekämpfen sie den Götzendienst und die abergläubischen Gebräuche. Hier aber muss sich Jesaja darüber beschweren, dass die Pflichten gegen den Nächsten verletzt würden. Ziel und Zweck aller dieser Vorwürfe ist aber stets ein und derselbe: nämlich dass alle unsere Werke vor Gott eitel sind, wenn sie nicht aus der rechten Gesinnung hervorgehen und wir keine wahre Gottesfurcht haben. Als Zeichen der Gottesfurcht nennen die Propheten das eine Mal die Anrufung seines Namens, ein anderes Mal die Heiligung des Sabbats, wieder ein anderes Mal noch andere Werke. Da aber der Unterschied zwischen aufrichtiger Gottesfurcht und Heuchelei in der Erfüllung der Pflichten der Liebe am deutlichsten zu Tage tritt, hat es seinen guten Grund, dass Jesaja gerade diese in den Mittelpunkt stellt. Denn Heuchler sind zumeist sehr eifrig in der Erfüllung alles dessen, was zur äußeren Form des Gottesdienstes gehört. Innerlich aber sind sie voll Neides, voll Hochmut und Menschenverachtung, brennen vor Geiz oder Ehrsucht und, durch die Maske ihrer äußeren Rechtschaffenheit gedeckt, kann ihr wahres Wesen nur schwer ans Tageslicht gebracht werden. Daher muss man sie nach den Gesichtspunkten prüfen, die Jesaja hier darlegt; hiernach ist zu urteilen, ob sie Gott wirklich fürchten. Wir würden uns leicht täuschen, wenn wir den religiösen Stand eines Menschen bloß nach den Geboten der zweiten Tafel beurteilen wollten: aber wenn jemand den Pflichten des Gottesdienstes und der Frömmigkeit, von denen die erste Tafel handelt nachkommt, dann muss man diese Probe machen und fragen, ob er auch mit dem Nächsten redlich und ehrlich wandle, ob er das Unrecht meide, Treue halte, seinen Brüdern sich freundlich erweise. Aus diesem Grunde sagt Jesus, dass das Gericht, die Barmherzigkeit und der Glaube das „Schwerste“, d. h. das Wichtigste im Gesetz seien (Mt. 23, 23). So spricht der Herr in einem Zusammenhange, wo er die Pharisäer tadelt, die den Zehnten und die Abgaben aufs genaueste ablieferten und sich dabei in die lächerlichsten Kleinigkeiten verloren, die wahre Gerechtigkeit aber bei Seite ließen. Dabei meint der Herr mit dem „Glauben“ die Treue und Zuverlässigkeit; mit dem Gericht jene Rechtlichkeit, die jedem gibt, was ihm gebührt, und ihm kein Unrecht geschehen lässt, sondern überall Hilfe bringt, soweit es eben möglich ist. Wenn dies aber das Wichtigste im Gesetz ist, an welche Stelle gehören dann die Gebote der ersten Tafel? Ich antworte: sie behalten vollständig ihre Bedeutung und ihre auszeichnende Stellung; aber an dem, was der Herr hier mit solchem Ernste fordert, worauf er so entschieden besteht, erkennt man eben am besten, ob jemand Gott wirklich fürchtet, oder ob er ein Heuchler ist. Ebenso ist es zu verstehen, wenn wir lesen (Hos. 6, 6; Mt. 9, 13; 12, 7): „Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.“ Denn die Barmherzigkeit ist Zeichen und Bewährung der wahren Frömmigkeit. Außerdem aber ist Liebe erweisen an sich Gott wohlgefällig, während das Opfer um anderer Zwecke willen gefordert ward. Damit dürfte nun klar sein, warum Jesaja die Liebe gegen den Nächsten mehr betont als den Glauben und die Anrufung Gottes, und warum die Propheten so verschieden reden, wenn sie die Heuchler zur wahren Verehrung Gottes rufen und verlangen, dass sie dieselbe in ihren Früchten bewähren sollten.
Wenn eure Sünde gleich blutrot ist usw. Der Prophet will sagen: Gott klagt Unschuldige nicht an, ja er ist überhaupt nicht darauf aus, den Rechtsstreit mit seinem Volke anzufangen. Aber sie sind so schuldig, dass er sie anklagen muss; wiederum aber ist es ihm auch nicht darum zu tun, sein Recht bis ans letzte Ende zu verfolgen. Denn das ist ja der Vorwurf, mit welchem die Heuchler Gott herauszufordern pflegen: er sei zu streng, ja er sei unversöhnlich. Sie finden geradezu eine Bestärkung ihrer Hartnäckigkeit darin, dass sie tun, als ob alle ihre Bemühungen, wieder bei Gott in Gnaden zu kommen, vergebens seien. Wenn alles andere versagt, so flüchten sie sich dazu, dass sie klagen, man gehe zu hart mit ihnen ins Gericht, auch der vollkommenste Mensch habe Fehler, die man vergeben müsse. Diesen Ausflüchten kommt der Prophet zuvor; er schneidet sie ab, indem er Gott etwa folgendermaßen reden lässt: Ich weigere mich nicht, wenn es nötig ist, in einen Rechtsstreit mit euch einzutreten. Es wird sich zeigen, dass nur eure Hartnäckigkeit daran schuld ist, wenn keine Versöhnung zwischen uns zustande kommt. Zeiget euch nur reinen Herzens, so wird aller Streit zwischen uns geschlichtet sein; ich will nicht weiter euch verfolgen, wenn ihr ein anderes Herz in euch schaffen wollet! – Hieraus können wir eine herrliche tröstliche Gewissheit schöpfen. Gott streitet nicht mit uns, als wollte er unsere Sünden bis aufs äußerste verfolgen. Denn wenn wir uns ernstlich zu ihm bekehren, will er sofort uns seine Gnade wieder zuwenden, alle Erinnerung an unsere Sünden austilgen und keine Rechenschaft weiter fordern. Er gleicht ja nicht den Menschen, die schon bei leichten Beleidigungen unversöhnlich zu bleiben pflegen. Er will vielmehr selbst uns reinigen und schneeweiß waschen, wie es in unserm Vers heißt. So wenig haben wir Grund, uns über zu große Härte zu beklagen. Denn, zufrieden mit Aufrichtigkeit des Herzens, vergibt er aus freien Stücken das, wodurch wir ihn beleidigt haben, und spricht frei die, welche selbst ihn herausgefordert haben.
V. 19. Wollt ihr mir gehorchen usw. Jesaja fährt fort, die Sache Gottes gegen sein Volk zu führen. Und zwar sagt er zusammenfassend einmal, dass das Volk sich selbst die Schuld an all dem Unheil, das es litt, zuzuschreiben habe; dann aber, dass es von ihm abhänge, eine günstigere und bessere Lage in Kürze zu erlangen. Denn Gott sei aus freien Stücken zur Vergebung bereit, wofern nur sie ihr Herz nicht verhärten wollten. Hier wird das Glück scheinbar ganz und gar in die Hand und den freien Willen des Menschen gelegt. Allein daraus folgt nicht, dass der Mensch aus eigener Kraft die Freiheit habe, das Gute oder Böse zu wählen, wie die Papisten lehren. Es ist eben beides wahr, sowohl dass es ein besonderes Gnadengeschenk Gottes ist, wenn jemand ergreift, was gut ist, als auch dass die eigene Verkehrtheit des Menschen daran schuld ist, wenn er sich ihm nicht zuwenden will. Es bleibt dabei, dass der Mensch die Verantwortung für seine Widerspenstigkeit im ganzen Umfang auf sich nehmen muss. Daher kann der Prophet auch mit Recht seinem Volk vorhalten, dass es eine glückliche und glänzende Lage hätte erlangen können, wenn es sich seinem Gott willig und gehorsam unterworfen hätte. Denn Gott ist ja seinem Wesen nach Güte und Liebe, und nur unsere Undankbarkeit und Bosheit ist daran schuld, wenn wir seine gütige Hand nicht auch verspüren. Umgekehrt fügt der Prophet aber auch eine ernste Drohung hinzu (V. 20); sie sollen wissen, dass Gott auch die Strafe in seiner Hand hat und sich nicht ungestraft zurückweisen lässt. Auch ist zu beachten, wie hier wiederum als einziger Maßstab des richtigen Wandels der Gehorsam gegen Gott und sein Wort erscheint. Vom Gehorsam gegen Gott hängt das Wohlergehen des Menschen ab, und es wird unser ganzes Dasein wohl bestellt sein, wenn wir uns in allen Dingen gewöhnen, seinem Wort zu folgen. Wie groß ist doch die Verkehrtheit der Menschen, die das Glück, welches Gott ihnen immer und immer wieder anbietet, eigensinnig zurückweisen und trotz all seiner Lockungen nicht hören wollen! Statt ihre sündigen Leidenschaften zu zähmen, häufen die armen Menschen Gottes Zorn auf sich und rennen wie wilde Tiere mutwillig in das scharfe Schwert. Und doch droht ihnen Gott endgültige Strafe an für den Fall, dass sie mutwillig den Gehorsam verweigern. Ausdrücklich fügt er am Ende hinzu: denn der Mund des Herrn sagt's, der nicht wechselnde Rede führt wie Menschenmund, sondern bei dem Gesagten beharrt. Sind die Menschen unter der Verblendung ihrer Lust stumpf geworden, so soll ihnen diese Gleichgültigkeit ausgetrieben werden. Wenn sie Gottes Mund reden hören, sollen sie erschreckt aus ihren Lastern aufwachen.
So sollt ihr des Landes Gut genießen. Damit sind die Gaben der Natur gemeint, welche die Erde zur Erhaltung unseres Lebens spendet. Die Erde wird manchmal als widerwillig hingestellt, wenn sie ihre Früchte nicht bringt, sondern sie gleichsam in ihrem Schoße zurückhält. Ohne Zweifel denkt der Prophet hier an die Verheißungen, welche sich schon im Gesetze finden; denn dort bereits sagt Gott denen, die ihm in Treue dienen, zu, dass er sie mit dem reichsten Segen an allen Gütern des Landes krönen wolle (3. Mos. 25, 18 f.). Er bietet jedoch diese irdischen Güter nicht deswegen an, damit wir mit dem diesseitigen Wohlergehen zufrieden sein sollen, wie die unechten Christen tun, die nichts anderes kennen wollen als das Glück dieser Erde, - nein gerade im Gegenteil: die Betrachtung dieser irdischen Gaben soll uns zu den himmlischen erheben; was wir hier Gutes erfahren, soll uns ein Vorgeschmack der Güte sein, die uns einst in Ewigkeit umgeben wird. Für das Volk des alten Bundes eignete es sich besser, auf diese Weise im Bilde vom Genuss gegenwärtiger Güter auf die zukünftigen hingewiesen zu werden: wir aber müssen gar wohl auf den Unterschied achten, der zwischen der Erkenntnis jenes Volkes und der unsrigen besteht. Wir müssen diese Verheißungen so auf uns anwenden, wie es der Erkenntnis entspricht, die Gott uns durch alle seine Taten, die er seitdem an uns getan, geschenkt hat. Vor allem aber lag dem Propheten daran, zu zeigen, dass das wahre Heil des Menschen mit allem, was dazu gehört, auf dem Gehorsam gegen Gott beruht, ferner dass die Gottlosen durch ihre Hartnäckigkeit und Widerspenstigkeit sich selbst ins Unglück stürzen, endlich dass wir eben darum die Schuld an allem Widerwärtigen, was uns widerfährt, unseren Sünden und Vergehungen zuzuschreiben haben.
V. 20. Weigert ihr euch aber usw. Die Gottlosen glauben stets, dass Gott zu hart gegen sie sei, auch wenn er sie nur mit Milde züchtigt; und wenn sie sich auch vielleicht nicht ganz für unschuldig zu erklären wagen, so hören sie doch nicht auf, wie schon bemerkt wurde, Gott wegen zu großer Strenge anzuklagen. Der Prophet aber droht, dass der Plagen kein Ende sein solle, bis sie ganz und gar vertilgt seien; sie sollten nicht meinen, mit den wenigen Übeln, die sie bereits getroffen hätten, sei es nun vorüber, vielmehr drohen ihnen noch viel mehr und schwerere göttliche Gerichte. Auch hier kommt es dem Propheten vor allem darauf an, zu zeigen, dass sie selbst schuld seien, wenn Gottes Gericht sie treffe, wenn sie nichts Gutes zu erleben bekämen, sondern nur ein Unheil über das andere. Keineswegs will er darüber Aufschluss geben, wie weit der Mensch imstande sei, aus eigenem Entschlusse sich für das Gute oder das Böse zu entscheiden: offenbar ist es doch etwas ganz anderes, wenn man die Frage aufwirft, ob der Mensch aus seinem bösen Willen einen guten machen kann, oder wenn man feststellt, dass der Mensch wegen seiner ihm angeborenen bösen Neigung an seinem Unglück selbst schuld ist. Ohne jede Spur von Recht berufen sich daher die Papisten auf unsere Stelle für ihre falsche Lehre von der Freiheit des natürlichen Menschen.
V. 21. Wie gehet das zu, dass die fromme Stadt zur Hure worden ist? Um seine Vorwürfe eindringlicher zu machen, um das Unrecht des Volks in seiner ganzen Abscheulichkeit hinzustellen, wirft der Prophet diese Frage auf, welche die Verwandlung des Volkes als etwas Grauen erregendes, Widernatürliches erscheinen lässt. Und in der Tat, sie war dies auch. Das Volk, das Gott geweiht, zum königlichen Priestertum ausersehen war, war aus dem Stande frommer Anhänglichkeit in den ganzen Schmutz aller möglichen Verbrechen herab gesunken. Vor allem denkt Jesaja dabei an die Stadt Jerusalem, die Gottes Heiligtum und Königsthron war. Nun ist sie eine Mördergrube geworden, sie, die einst die treue Hüterin des Rechts gewesen war, von Heiligkeit und Reinheit hat sie sich abgewendet und der Hurerei ergeben. Um die entarteten Judäer, die von ihren frommen Vorfahren so gänzlich verschieden waren, recht zu beschämen, wirft Jesaja die verwunderte Frage auf: wie es denn nur möglich gewesen sei, dass so etwas habe geschehen können? Wenn er Jerusalem die „fromme“ Stadt nennt, so denkt er meiner Meinung nach hier vor allem an die eheliche Treue, welche die Gattin dem Manne schuldig ist. Allerdings hat diese Bezeichnung einen weitergehenden und umfassenderen Inhalt, allein nach dem Zusammenhang zu schließen, darf man wohl hier die eheliche Treue in den Vordergrund stellen; ist doch als Gegensatz dazu das Jerusalem der Zeit des Jesajas ausdrücklich eine Hure genannt. Während Jerusalem früher wie eine treue Gattin in Ehrbarkeit ihrem Eheherrn die eheliche Treue hielt, gleicht sie jetzt der Hure, weil sie sich ihrer Schande nicht einmal mehr schämen mag. Bekanntlich wird in der heiligen Schrift oft die Kirche die Braut des Herrn genannt, - auch Jerusalem war dieser Ehre teilhaftig, so lange es in geistlichem Sinne Keuschheit bewahrte und in der gesetzmäßigen reinen Verehrung Gottes beharrte. Sobald es abfiel von Gott, wurde es einer Hure gleich. Ohne Zweifel konnte der Prophet diese Betrachtungen nicht anstellen, ohne vom heftigsten Schmerz erfüllt zu werden; - eine Lehre für uns, wenn wir es erleben müssen, dass Menschen von Gott abfallen und die versprochene Treue brechen. Und wirklich, wer nur einigermaßen sich ein Gefühl für solche Dinge bewahrt hat, der muss es aufs schmerzlichste empfinden, wenn er solches mit ansehen muss. Wir lesen in der Schrift, dass die Engel sich freuen über einen Sünder, der Buße tut. Notwendig ist die Kehrseite davon, dass sie trauern über eines jeden Sünders Verderben. Wie viel mehr aber müssen sie trauern, wenn eine ganze Stadt und Kirche dem Untergang und Verderben anheim fällt! Zugleich aber enthält jener staunende Ausruf des Propheten auch eine ernste Herausforderung Jerusalems. Es ist, wie wenn er dieser Stadt zuriefe: Aus welch´ herrlichem Stand bist du gefallen! In welches Unglück hast du dich gestürzt! Wie hast du dich selbst mit Schmach und Schande bedeckt! Die Erinnerung an die Vergangenheit, in welcher Jerusalem noch unbefleckt dastand und hoch geehrt war, musste als ein besonderer Antrieb wirken. Denn wer einst in Ehren stand, pflegt um seinen guten Ruf und seine Ehre mehr besorgt zu sein, als wer von Anfang sein Leben in Schande und böser Lust dahin gebracht hat.
Sie war voll Rechts usw. Jesaja zeigt, welche Früchte des Glaubens einst in Jerusalem zu finden waren. „Recht“ können wir hier einfach im Sinne von Rechtschaffenheit verstehen. Will man feiner unterscheiden, so mag man bei „Gerechtigkeit“ an die Billigkeit denken, die jedem das Seine zukommen lässt, und bei „Recht“ an die Gerechtigkeit im Gericht, die sich der Schwachen und Geringen annimmt, und sie vor dem Unrecht schützt. So nämlich muss man es verstehen, wenn die beiden Worte miteinander verbunden werden. Vielleicht genügt es aber, in beiden Ausdrücken eine allgemeine Beschreibung wohl geordneter Zustände zu finden.
Nun aber Mörder. Dieser Schluss des Verses soll erklären, inwiefern Jerusalem zur Hure geworden ist. Sie ward es, weil sie jetzt voll Mörder ist, während sie einst Gerechtigkeit und Billigkeit hochhielt. Doch spricht Jesaja nicht von Mördern und Räubern im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern, wie schon oben dargelegt wurde, von Leuten, die durch Betrug und Bedrückung unter dem Schein des Rechts das Gut anderer an sich brachten, die überhaupt nicht rechtlich und billig gegen ihre Mitmenschen handelten. Dabei ist es dem Propheten völlig gleichgültig, wie die damalige öffentliche Meinung solche Leute beurteilte, - gar oft, ja fast immer wieder wird der am höchsten geachtet, der es am ärgsten treibt. An dem damaligen Zustand Jerusalems können wir sehen, wie oft der Satan seine Tyrannei gegen die Gemeinde Gottes ungestört und ohne Schranken ausüben darf. Denn wenn es irgendwo eine Gemeinde Gottes gab, so damals in Jerusalem. Und doch sagt Jesaja, dass Jerusalem eine Mördergrube geworden sei, eine Höhle, darinnen die Menschen umgebracht werden. Konnte der Satan in Jerusalem also wüten, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn uns ähnliches begegnet. Nur müssen wir danach trachten, dass wir nicht durch das böse Beispiel selbst verdorben werden.
V. 22. Dein Silber ist Schaum worden usw. In einem doppelten Bilde zeigt Jesaja, wie die Zustände im Volk, obwohl scheinbar unverändert, doch ganz und gar zum Schlimmen sich verändert haben, so dass ein himmelweiter Abstand zwischen einst und jetzt besteht. Statt wirklichen echten Silbers glänzt jetzt falsches Schaumsilber; die Farbe des Weines ist geblieben, aber sein Geschmack verrät, dass er mit Wasser vermischt ist. Und mag Jerusalem noch so sehr sich bemühen, einen guten Schein hervor zu kehren, dennoch findet man nichts Gutes und Reines in ihm. Der hier gebrauchte doppelte Vergleich will die Juden dahin bringen, dass sie ihre falsche Schminke abtun und ihr Unrecht erkennen, dass sie endlich einmal aufhören, nach Art der Heuchler sich selbst zu gefallen. Bei dem Worte „Schaum“ ist nach dem Grundtext wohl an die glänzenden Schlacken zu denken, welche ja in der Tat eine gewisse äußere Ähnlichkeit mit dem Silber haben, ebenso wie auch der mit Wasser verschnittene Wein in seiner Farbe dem reinen Wein ähnlich sein kann. Dabei aber sind beide nichts weniger als rein und echt, wie sie doch aussehen, - ein rechtes Bild der Heuchelei, die sich auch wie echtes Silber glänzend hinzustellen weiß, in Wahrheit aber nicht mehr wert ist als Schlacken. Der Heuchler ist deswegen besonders verwerflich, weil er seine Schlechtigkeit verbirgt unter einer falschen Hülle, die er, innerlich unwahr und unaufrichtig, Gott und Menschen entgegenzuhalten sucht.
V. 23. Deine Fürsten sind Abtrünnige. Das sagt der Prophet nicht in dem Sinne, als ob das Volk ohne Schuld wäre und keinen Tadel verdiente, sondern er will den Ursprung des Übels aufdecken. Wie nämlich keine Krankheit schlimmer ist, als die, welche aus dem Haupt sich über den ganzen Körper verbreitet, so gibt es für ein Staatswesen kein schlimmeres Unheil als einen gottlosen und ungerechten Herrscher. Denn von ihm geht die Verderbtheit durch sein Beispiel wie durch das Fehlen ernstlicher Bestrafung auf den ganzen Staatskörper über. Wie der Herr, so der Knecht, sagt das Sprichwort. Der Prophet will etwa sagen, nicht irgendein einzelner besonderer Schaden hafte am Volke, sondern unter seinen Leitern sogar herrsche die allergrößte Zügellosigkeit, und daher sei das ganze Volk vom Verderben angesteckt. So erreicht die Klage des Propheten mit dem Hinweis auf die Fürsten ihren Höhepunkt: denn es ist besonders schlimm, wenn das Übel da seinen Ausgang nimmt, wo man am ehesten einen Versuch, es zu heilen, erwarten sollte. Allein die Fürsten waren Abtrünnige und Diebesgesellen, die anstatt sich Mühe zu geben, dem Unrecht und Betrug zu steuern, vielmehr selbst aus solchen Dingen Nutzen zogen und sich bereicherten. Wenn sie einen Teil der Beute bekamen, ließen sie den Dieben und Räubern freie Hand, und darum verdienten sie auch die Bezeichnung, die ihnen Jesaja gibt, vollständig. Es kann gar nicht anders sein: wo der Richter sich bestechen lässt, da müssen die Freveltaten um sich greifen, wie wenn er mit denen, die sie verüben, gemeinsame Sache gemacht hätte.
Sie nehmen alle gerne Geschenke. Der Prophet nennt hier auch den Grund, warum die Fürsten mit den Dieben zusammenhalten und sich mit ihnen verschworen zu gemeinsamem Tun des Bösen: es war die Habsucht. Wo die Richter auf Gewinn aus sind, da ist es um die Gerechtigkeit geschehen; denn wo man die Person ansieht, wird das Urteil beeinflusst, so dass kein billiges Abwägen und Entscheiden mehr möglich ist. Wer von Habsucht erfüllt ist, wird ohne Frage sich mehr nach der Person richten, als nach der Lage des strittigen Falles. Er kann gar nicht mehr richtig sehen, wo Recht und Unrecht ist. Hier erkennen wir, wie viel daran liegt, dass ein Richter frei sei von der Liebe zum Gelde. Wenn er sich nicht Herz und Hand, Sinnen und Augen davon unberührt erhält, wird er niemals gerecht urteilen können. Denn es ist lächerlich, wenn man sagt, man könne sich doch sein Herz rein und das Urteil unverdorben halten, auch wenn man Bestechungsgeschenke annehme. Hier bleibt es bei dem Wort des Herrn, das immer wieder sich als wahr erweist (2. Mos. 23, 8): „Geschenke machen die Sehenden blind und verkehren die Sachen der Gerechten.“ Niemand ist so rechtlich gesinnt, niemand so scharfsichtig und unvoreingenommen, dass ihm Geschenke nicht die Augen blendeten und das Urteil verwirrten. Daher heißen solche Richter mit Recht „Diebesgesellen“, weil sie in ihrer blinden Geldgier göttliche und menschliche Rechte verletzen und ohne Scham der Gerechtigkeit ins Gesicht schlagen. – Es ist bemerkenswert, wie der Prophet, um seine heuchlerischen Gegner zu überführen, offenbar und allgemein bekannte Dinge anführt, da sie anders niemals sich hätten beugen lassen. Ohne Zweifel haben auch zu jenen Zeiten gar viele sich eifrig dagegen verwahrt, mit Dieben auf eine Linie gestellt zu werden, gerade so wie heutzutage die meisten entschieden erklären, sie seien keine Diebe, wenn sie Geschenke und Belohnungen annähmen, die man ihnen anbiete; und sie könnten trotz derselben eben so recht und billig urteilen, wie ohne sie. Allein da diese Einwände doch eitel sind, so begnügt sich der Prophet damit, nur die Schande der Fürsten Judas aufgedeckt zu haben, im übrigen aber lässt er sich nicht auf weiteres Streiten ein. Übrigens liegt es in der Natur der Sache, dass eine gerechte Urteilshandhabung nicht möglich ist, wo die Richter so auf Lohn und Gewinn aus sind, - sie können ja gar nicht anders, als stets auf der Seite das Gute und Richtige zu finden, woher sie Geschenke erhoffen.
Den Waisen schaffen sie nicht Recht. Der Herr nimmt sich der Waisen und Witwen besonders an, weil sie keine menschlichen Helfer haben. Eben darum erzürnt es ihn umso mehr, wenn die Richter, die ihre Beschützer und Freunde sein sollten, sie im Stich lassen. Denn sich selbst zu helfen, fehlt es ihnen an Kraft, Erfahrenheit und Energie; wenn ihnen nicht andere zu Hilfe kommen, sind sie notwendig der Unbill und Habsucht aller ihrer Gegner ausgesetzt. Wenn sich niemand ihrer annimmt, so sieht man schon daran, dass Ungerechtigkeit und Bedrückung, nicht Billigkeit im Lande herrscht.
V. 24. Darum spricht der Herr, Herr Zebaoth usw. Das erste Herr ist in dem Sinn zu verstehen, wie unser Wort „Herr“, als Gegensatz zum Knecht. Das zweite ist eigentlich Gottes Eigenname, Jehovah, in welchem Gottes Wesen nach seiner Ewigkeit und seiner Erhabenheit über das Irdische ausgedrückt ist (vgl. 2. Mos. 3, 14). Jesaja hat etliche Beispiele von Freveltaten aufgezählt, die im Volke im Schwange gingen, er hat gezeigt, wie alles verdorben und verkehrt war; nun schickt er sich an, zu drohen und Gottes Gericht anzukündigen. Darum erwähnt er zunächst Gottes Richtermacht und seine Richterpflicht, die er als der Herr besitzt; dann aber erinnert er auch daran, dass die Kinder Abrahams sein auserwähltes Volk sind. In der nämlichen Absicht fügt er auch noch hinzu: „der Mächtige in Israel“. Doch sieht es danach aus, als ob er mit diesen Worten der Juden spottete, die mit dem Namen des lebendigen Gottes groß tun und doch nur schlechte und nichtsnutzige Knechte sind, die sich vergeblich auf Gottes Macht verlassen, da dieselbe doch bald sich gegen sie selbst wenden wird. Nach dieser Einleitung fährt der Prophet nun fort: Ich werde mich trösten an meinen Feinden, usw. Damit will er sagen, dass Gott nicht eher sich werde versöhnen lassen, als bis er sein Verlangen nach Rache durch Strafgerichte gestillt habe. Das Wort „trösten“ gebraucht der Prophet hier nach menschlicher Weise: es soll nichts anderes ausdrücken, als die Befriedigung, welche sich Gott durch den Vollzug der Strafe verschafft. Er kann Genugtuung fordern von seinen Feinden, und erhält sie auf diese Weise. Die Stelle wird übrigens auf sehr verschiedene Weise erklärt, doch hat es keinen Wert, alle falschen Auslegungen zu erörtern und ihre Unhaltbarkeit darzulegen: es genügt, nur den ursprünglichen Sinn richtig darzulegen. Es ist hier nicht die Rede von Chaldäern und Assyrern, wie manche annehmen: die Feinde sind die Juden, denen Jesaja im Namen Gottes wie ein Herold den Krieg ankündigt. Eine derartige Ankündigung war freilich für sie gar bitter zu hören: glaubten sie doch mit Gott so zu stehen, dass ihre Feinde auch die seinigen sein müssten. Nun aber verkündigt Gott klar und deutlich, dass er selbst ihr Feind sei, weil sie ihn so oft mit ihren Sünden gereizt hätten. Auf diese Weise muss man den Leichtsinn der Heuchler bekämpfen; meinen sie doch Gottes Schutz genießen zu können, während sie beständig mit ihm im Streite liegen. So ist es wohl begreiflich, dass der Prophet voll Schärfe und Bitterkeit die Juden Feinde Gottes nennt, nachdem sie den Bund gebrochen und sich so feindselig gegen ihn gestellt hatten. Und dennoch! um zu zeigen, dass Gott gleichsam wider Willen genötigt werde, sein Volk zu strafen, spricht er auch diese Drohungen nicht ohne Seufzer und Wehklage aus. Denn Gottes eigenstes Tun ist, Güte zu erweisen: so oft er zürnt und Strenge gegen uns braucht, tut er es ganz gewiss nur, weil unsere Bosheit ihn dazu nötigt, weil wir ihn hindern, seiner Güte freien Lauf zu lassen. Vor allem aber ist er geneigt, die Seinigen freundlich zu behandeln, und wenn er sieht, dass es unmöglich ist, länger Nachsicht zu zeigen, so schreitet er gleichsam traurig zum Vollzug der Strafe. Darum lesen wir hier den Ausruf: „O weh!“ Allerdings kann man denselben auch als einen Weheruf Gottes über seine Feinde auffassen. Mir jedoch ist wahrscheinlicher, dass es hier ein Ausruf des Mitleids ist: eingedenk seines Bundes würde Gott gern sein auserwähltes Volk schonen, wenn die Hartnäckigkeit nicht jede längere Nachsicht verböte. In der zweiten Hälfte des Verses haben wir den in hebräischen Gedichten häufigen „Parallelismus“ der Glieder: derselbe Gedanke wird zweimal in ähnlich lautender Weise ausgesprochen. Auch hiermit, das können wir daraus entnehmen, soll andeutet werden, dass Gott nicht eher befriedigt sein werde, als bis er sich an seinem verbrecherischen und treulosen Volke gerächt habe.
V. 25. Und muss meine Hand wider dich kehren. Der 25. Vers ermäßigt etwas die Drohung des 24. Zwar wird noch in dem drohenden Tone fortgefahren, zugleich aber auch dies gesagt, dass die Gemeinde des Herrn jene drohenden Gerichte überleben solle. Vor allem mussten die Gläubigen und Frommen jener Zeit getröstet werden: sie sollten nicht denken, dass es um die Gemeinde Gottes geschehen sei, wenn sie auch besonders schwer heimgesucht wird. Überall bei allen Propheten hat Gottes Geist dafür gesorgt, dass nicht etwa die Kinder Gottes, die zitternd auf sein Wort achten, durch die Drohungen und Schreckensgerichte, welche die Propheten verkündigen müssen, entmutigt und zur Verzweiflung getrieben werden. Denn je frecher die Gottlosen spotten und alle Drohungen verlachen, desto mehr zittern die, welche Gott ernstlich fürchten. Übrigens bedeutet der Ausdruck „ich muss meine Hand wider dich kehren“ nach dem Grundtext nur: „gegen dich hin“, womit nichts gesagt ist, als dass Gott einschreiten wolle, gerade so, wie wenn es hieße: ich will meine Hand ausstrecken. Dies aber kann zu doppeltem Zwecke geschehen, zur Züchtigung der Gottlosen oder zur Hilfeleistung für die Frommen in ihrem Elend. Da hier jedoch der Zusammenhang des Satzes dafür spricht, dass eine teilweise Ermäßigung der angedrohten strengen Strafe angedeutet werden soll, so wird dieses „Ausstrecken der Hand“ in tröstlichem Sinne zu verstehen sein und sich auf die Wiederherstellung der Gemeinde des Herrn beziehen. Allerdings hieß es kurz vorher, dass das ganze Volk dem Herrn verhasst geworden sei, hier aber wird doch eine Einschränkung gemacht, die sich auf die wirkliche Gemeinde Gottes in Jerusalem bezieht, auf das Zion, das diesen Namen in Wahrheit verdient. Wenn wir weiter lesen: „Ich werde deinen Schaum aufs lauterste fegen“, so wird damit die Frucht genannt, welche bei der Züchtigung herauskommen soll. Im Hinblick auf diese Frucht wird den Gläubigen die Züchtigung nicht zu hart und schwer erscheinen. Wir sehen zugleich aus unserer Stelle, dass die Reinigung der Kirche eine Sache ist, die Gott allein vollbringen kann. Wenn er die Hand ausstreckt, um die Sünde zu strafen, so ist seine Absicht ja stets, die Irrenden auf den rechten Weg zurückzubringen; aber seine Schläge würden nichts nützen, wenn er sie nicht wirksam machte, indem er innerlich die Herzen anfasst. So werden wir hier an die besondere Gnade erinnert, welche Gott seinen Auserwählten zuteil werden lässt; wir sehen, wie die Buße in Wahrheit das eigenste Geschenk des heiligen Geistes ist: ohne ihn würde der Sünder unter den Schlägen der züchtigenden Hand Gottes nur immer mehr sich verhärten, nicht aber auch nur im geringsten Maße vorwärts kommen. Übrigens bedeutet dieses „aufs lauterste“ Fegen nicht, dass Gott seine Kirche schon in dieser Zeit jemals und irgendwo von jedem Flecken reinigen wolle. Es ist dieser Ausdruck ja nur ein aus dem irdischen Gebiete genommenes Bild, das man nicht gewaltsam von seiner Grundlage lösen darf. Es soll nur gesagt werden, der Zustand der Gemeinde Gottes werde ein derartiger sein, dass sie in ihrer Heiligkeit leuchten werde, wie reines Silber. Wirkliche Reinheit ist hier gemeint, im Gegensatz zu dem Schmutz, in dem sich das damalige jüdische Volk nur allzu sehr zu gefallen pflegte. Die Anwendung gerade dieses Gleichnisses ist deswegen besonders am Platze, weil darin nicht nur sich ausspricht, wie die Gemeinde Gottes damals so sehr befleckt war, sondern auch, wie trotzdem doch noch ein Rest vorhanden war, der nach Beseitigung der Unreinigkeit seinen hellen Glanz wieder erlangen konnte. Auf diese Weise ergänzt das hier gebrauchte Bild zugleich jenes oben erwähnte, wo gesagt war, dass das Silber sich in Schaum und Schlacken verwandelt habe.
V. 26. Und dir wieder Richter geben, wie zuvor waren. Nunmehr spricht der Prophet ohne Bild. Vorhin hatte er die Richter und Fürsten des Volks als die eigentlichen Urheber und Anfänger alles Unheils bezeichnet. Darum sagt er jetzt, dass Gott diesen Stand wunderbar reinigen werde, wenn er seiner Gemeinde ihren früheren gesunden Stand wiedergebe. Und in der Tat hängt das Wohlergehen eines Gemeinwesens davon ab, ob fromme und heilige Leiter an der Spitze stehen. Denn wenn die Gottlosen herrschen, geht alles zum Schlimmen. Mit den „Richtern“ und „Ratsherren“ sind natürlich alle Inhaber von Ämtern gemeint. Wenn versprochen wird, es sollen solche sein, „wie zuvor waren“, so erinnert das an die einzigartigen Gnadengeschenke Gottes, deren sie verlustig gegangen sind. Gott hatte durch seine Hilfe und Schutz Davids Thron aufgerichtet, er wollte, dass dessen Herrschaft ein Abbild seiner Vaterliebe gegen Israel sei. Nun aber war dieses Regiment in die schlimmste Tyrannei ausgeartet, und doch rühmte man sich nach wie vor dieses Namens, und war stolz auf das Haus Davids, während dasselbe nichts als den Schatten seines früheren Glanzes besaß. So konnte der Prophet mit Recht das Volk daran erinnern, aus welchem herrlichen Stande es durch seine eigene Schuld herabgestürzt worden sei. Wurde aber dieser Stand wieder hergestellt, so konnte man um deswillen eine Verminderung der Volkszahl ohne allzu großen Schmerz ertragen.
Alsdann wirst du eine Stadt der Gerechtigkeit und eine fromme Stadt heißen. Die Wirkung der Erneuerung wird sich auf das ganze Volk, nicht nur auf seine Fürsten und Leiter erstrecken. Ehe nämlich Jerusalem von Gott abgefallen war, war es nach dem Worte Jesajas eine fromme Stadt, voll Rechts (V. 21); einst, wenn sie durch Züchtigung erneuert ist, wird man wieder diese Früchte an ihr finden können. Hier sehen wir zugleich, welches Vorzüge wahrer Buße sind. Mit der „Gerechtigkeit“ ist jene Unbescholtenheit und Ehrbarkeit gemeint, in welcher ein jeder an seinem Nächsten nach Recht und Billigkeit handelt, sodass niemand um das verkürzt wird, was ihm zukommt. Der Begriff der „Frömmigkeit“ ist weiter: eine „fromme“ Stadt ist eine solche, in der nicht nur unter den Einwohnern Billigkeit und Rechtlichkeit herrscht, sondern wo auch Gott in Lauterkeit verehrt und angebetet wird. Somit begreift dieses Wort auch die Reinheit und Heiligkeit der Gesinnung in sich. Doch ist zu bemerken, dass die Gerechtigkeit eben aus dieser Frömmigkeit fließt. Wo solche Frömmigkeit herrscht, stellt sich jene allgemeine Gerechtigkeit von selbst ein. Doch verheißt Jesaja nicht nur, dass Jerusalem eine Stadt der Gerechtigkeit und Frömmigkeit sein werde, sondern dass sie durch diese Vorzüge sogar weithin berühmt werden solle: so groß wird die Gerechtigkeit sein, dass die Kunde von ihr sich nach allen Seiten verbreiten wird. Wir wissen, dass gerade heuchlerische Frömmigkeit sich gern mit Titeln und Namen schmückt, die den Menschen Eindruck machen sollen; hier aber führt Jesaja Gott selbst redend ein und seine Meinung ist daher, dass die Stadt in Wirklichkeit eine solche fromme und gerechte Stadt sein werde, wie sie nach außen hin gepriesen wird. Auch das gehört zu den Früchten wahrer Bekehrung: wenn Jerusalem sich in aufrichtiger Frömmigkeit dem Herrn wieder zugewendet hat, wird seine Erneuerung auch von den Menschen bezeugt werden.
V. 27. Zion muss durch Recht erlöset werden. Mit diesen Worten bekräftigt der Prophet das im Vorhergehenden Gesagte. Es schien fast unglaublich, dass die Gemeinde wirklich noch einmal zu ihrem früheren Zustande würde hergestellt werden können; daher hebt er hervor, dass solches allerdings nicht in der Macht menschlichen Willens stehe, dass aber Gott in seiner Gerechtigkeit solches durch das Gericht vollführen werde. Weil Gott gerecht ist, lässt er nicht zu, dass die Gemeinde der Gläubigen zugrunde gehe. Der Prophet rät den Frommen, die menschlich-natürlichen Überlegungen fahren zu lassen, und die Hoffnungen auf das Heil der Kirche Gottes ganz und gar auf ihn allein zu setzen. Anderseits aber sollen sie auch nicht aufhören, das Beste zu hoffen, wenn sie gleich überall statt Hilfe nur Hindernisse sehen könnten. Ganz unrichtig denken hier manche bei „Recht“ und „Gerechtigkeit“ an die wohl geordneten Zustände Jerusalems nach seiner Bekehrung. Die Meinung ist vielmehr nur: Obwohl Menschen keine wirkliche Hilfe schaffen können, so ist doch Gottes Gerechtigkeit groß und mächtig genug, um der Gemeinde Rettung und Heil zu sichern. Und in der Tat: wenn wir auf uns selbst sehen, was für Hoffnungen könnten wir dann haben? Wie viele Dinge würden uns in den Weg kommen und unser Vertrauen schwächen! Nur an der Gerechtigkeit Gottes hat der Glaube einen festen Grund und Halt. Im zweiten Gliede ist auch angedeutet, wie der Herr seiner Gemeinde die Erlösung bringen wird: die „Gefangenen“, d. h. die, welche in der Fremde und in Verbannung leben und in alle Länder zerstreut sind, sollen wiederum gesammelt und zurückgebracht werden.
V. 28. Dass die Übertreter und Sünder zerbrochen werden. Die Heuchler sollen nicht glauben, dass sie irgendeinen Anteil und Gewinn von solchen Verheißungen haben könnten. Darum kündigt der Prophet ihnen an, dass sie vernichtet werden, sobald der Herr seiner Gemeinde die Erlösung erscheinen lassen wird. Zu allen Zeiten nämlich gibt es Heuchler in der Gemeinde des Herrn, ja sie nisten sich bei ihr im innersten Schoße ein, aber es ist ihnen nur um den äußeren Schein zu tun. Was Gott verheißt, beziehen sie ganz zuversichtlich auch auf sich, - der Prophet aber zerschlägt ihnen diese ihre Zuversicht, wofern man überhaupt hier von „Zuversicht“ reden darf, wo es sich nur um eine Äußerung trotziger und anmaßender Gesinnung handelt. Hier können wir sehen, wie die Lehrer des göttlichen Wortes Weisheit bedürfen, um die Gottlosen mit dem göttlichen Gerichte zu erschüttern, den Frommen das Herz zu erleichtern, sie auch hin und wieder zu trösten, damit sie nicht ganz zusammenbrechen und dahin sinken. Wenn aber die tröstlichen Verheißungen, an denen sich die Gläubigen aufrichten sollen, von den Gottlosen ergriffen werden, wenn diese in eitlem Vertrauen darauf ihre Herzen erheben, dann muss man dem Beispiel Jesajas folgen und seine Worte so einrichten, dass weder den Bösen Anlass zur Selbstüberhebung, noch den Frommen Anstoß zur Verzagtheit und Verzweiflung gegeben wird. So spricht hier der Prophet von der künftigen Erlösung der Gemeinde; trotzdem aber lesen wir mitten unter solchen tröstenden Worten auch Drohungen gegen die Sünder, denen er den Untergang androht, damit sie wissen, dass jene Verheißungen Gottes sie nichts angehen.
Indem er aber auf diese Weise die Gottlosen dem Verderben überliefert, stellt er eben dadurch auch Gottes Gnade gegen die Frommen umso heller ans Licht. Denn nie sieht man diese klarer, als wenn der Herr die Seinigen beim Untergang der andern unversehrt bewahrt, wie es im 91. Psalm (V. 7) beschrieben ist: „Ob tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen.“ Und wenn es den Frommen schwer betrüben muss, dass die Gemeinde Gottes durch das Gericht so gar klein wird, so tröstet und lindert der Prophet die Traurigkeit hierüber mit dem Gedanken, dass ohne Beseitigung alles dessen, was krank ist, niemals das Ganze wirklich gesund sein kann.
V. 29. Denn sie müssen zu Schanden werden usw. Dieser Vers enthält nicht sowohl eine Begründung als eine Erklärung des Vorhergehenden; er nennt uns aber, indem er die Androhung des Untergangs wiederholt, zugleich den Grund, der zu diesem Ende der Gottlosen führen musste. Es ist die Abgötterei, welche denen, die sie treiben, das Unheil bringt. Die Götzenbilder, will Jesaja sagen, die ihr euch zum Heile ansammelt, gerade sie werden das Verderben herbeiführen. Mit den Eichen und den Gärten meint der Prophet alle die abgöttischen und selbst gemachten Gebräuche, welche unter solchen Bäumen und in Gärten oder heiligen Hainen vom damaligen jüdischen Volke geübt wurden. Wenn auch unter den Juden zu jener Zeit alle möglichen Arten von Abgötterei getrieben wurden, so war es doch offenbar besonders gebräuchlich, sich Bäume und Haine auszusuchen, um daselbst Opfer darzubringen. Ob man bei den „Gärten“ an wirkliche Gärten oder genauer an Haine zu denken hat, wie etliche übersetzen wollen, macht nicht viel aus, denn gemeint sind jedenfalls vor allem die Altäre und sonstigen Vorrichtungen, welche man zum Zweck des Opferns an solchen Orten zu errichten pflegte. Wenn nämlich auch bei solchen Dingen nicht gerade die Absicht herrschte, offen vom wahren Gott abzufallen, so waren es doch neue religiöse Gebräuche, die man sich ausdachte, und ähnlich, wie bei den Papisten, weiht man einzelne Orte, als ob Gott an dem einen Orte mehr Wohlgefallen fände als am andern. – Übrigens geht die Rede von der dritten Person plötzlich in die zweite über: da ihr Lust zu habt. Der Prophet wendet sich also zur Verstärkung des Tadels direkt an seine Hörer. Dass sie „Lust“ an diesen Hainen und Gärten haben, beschreibt jenen törichten Eifer, mit dem überall gerade abergläubische Gebräuche befolgt werden. Von ganzem Herzen sollten sie Lust haben und hängen an ihrem Gott, sie aber stürzen sich in blindem Eifer auf ihren selbst erdachten Gottesdienst, wie von einer viehischen Begierde getrieben. Aber so ist die menschliche Natur einmal angelegt: wer Gott verlässt, muss sich an Abgötter halten; und nicht selten vergleicht die heilige Schrift diese falsche Begierde mit ehebrecherischer Liebe, die alle Vernunft und alles Schamgefühl bei Seite setzt. Wenn darum von böser Lust und Hurerei die Rede ist, ist dies oft von Abgötterei zu verstehen, nicht etwa nur von sittlicher Ausschweifung. Hier geht es aus dem zweiten Gliede, wo von den Gärten gesprochen wird, hervor, dass der Prophet an unserer Stelle auch an die eigenmächtigen Änderungen der Verehrung Gottes gedacht hat. Sie stand im klaren Widerspruch zu der Vorschrift des Gesetzes. Mag der Unglaube sein Treiben mit noch so schönen Namen schmücken, das bleibt doch bestehen, dass Gehorsam besser ist als Opfer. Daher fasst Paulus (Kol. 2, 23) mit der Bezeichnung: „selbst erwählte Geistlichkeit“ alle Arten falscher Verehrung Gottes zusammen, wie die Menschen sie sich ohne göttlichen Befehl ausdenken. So beklagt sich Gott an unserer Stelle darüber, dass die Juden sein Wort verachten und sich mit Dingen abgeben, die sie sich selbst ausgedacht haben. Eure Sache – so will er etwa sagen – wäre es gewesen, mir zu gehorchen; ihr aber wolltet nach eurer eigenen Wahl, oder richtiger, nach eurer zügellosen Begierde handeln! Und diese eine Tatsache genügt, alle menschlichen Fündlein zu verurteilen: die Art und Weise, Gott zu dienen, hat sich nicht der Mensch zu wählen, sondern Gott hat sie zu gebieten. Damals aber hatte Gott befohlen, an keinem andern Ort als in Jerusalem ihm Opfer darzubringen. Die Juden glaubten, dass sie auch an andern Orten ihn erfreuen könnten, vollends waren die Heiden in diesem falschen Wahn befangen. Wäre es nur dabei geblieben! Allein wir sehen, wie die Papisten in Irrtümern ganz der nämlichen Art festgehalten werden. Kurz, die Erfahrung zeigt, dass Verirrungen dieser Art allen Jahrhunderten gemeinsam sind. Aber es könnte eingewendet werden, an dem Orte liege doch nicht so viel, dass Gott die ihm anderwärts dargebrachten Opfer so zu verabscheuen brauchte. Allein man muss demgegenüber darauf achten, aus welchem Grunde Gott nur einen Altar als den seinigen anerkennen wollte. Der eine Ort sollte, so lange das Volk noch unerzogen war, ein Unterpfand seiner geheiligten Einheit sein, damit die Gottesanschauung in dieser Hinsicht unverändert dieselbe bleibe. Sehen wir aber von diesem speziellen Grund ab, so kommt auch noch der schon oben erwähnte allgemeine Gesichtspunkt in Betracht: Gott gab eine Menge von Einzelbestimmungen über die verschiedensten Dinge, damit die Juden sich besser an den Gehorsam gewöhnen sollten. Denn da sich Aberglaube mit dem Scheine des eifrigen Gehorsams umgibt, so ist stets die Gefahr vorhanden, dass die Menschen an ihrem selbst erdachten Treiben Gefallen finden. Da aber die Grundlage der rechten Gottesverehrung der Gehorsam ist, so folgt, dass die eigenmächtige Entscheidung des Menschen der Ursprung alles Abfalls, aller Abgötterei und alles Aberglaubens sein muss.
Zu erwähnen ist noch, dass Jesaja sich hier über die Verletzung der Gebote der ersten Tafel in ähnlicher Weise beschwert, wie er vorhin die Verletzung der Pflichten gegen den Nächsten getadelt und dem Volke seine Vergehungen nach der zweiten Tafel vorgehalten hatte. Denn da die vollkommene Gerechtigkeit im Halten des Gesetzes besteht, so predigen die Propheten, wenn sie ihre Zeitgenossen ihrer Sünde überführen wollen, bald von dieser, bald von jener Tafel des Gesetzes. Immer aber ist zu beachten, dass sie nur einzelne Arten von Vergehen herausgreifen, aber damit die Übertretung des ganzen göttlichen Gebotes umfassen.
V. 30. Wenn ihr sein werdet wie eine Eiche mit dürren Blättern. Man könnte auch übersetzen: denn ihr werdet sein. Der Prophet spielt absichtlich an auf jene Haine, in welchen sie unberechtigter Weise Gottesdienst taten. Er schilt das falsche Vertrauen, das sie auf diese Haine setzen, und droht ihnen Dürre: ihr freuet euch, spricht er, an euren Gärten und Bäumen, aber ihr sollt werden wie trockene und verfallene Bäume. Gott spottet der eitlen Sicherheit der Götzendiener, die sich wunderbar brüsten mit ihren selbst erdachten Dingen, die glauben, der Himmel stünde ihnen offen, wenn sie nur ihre Gebräuche eifrig befolgten.
V. 31. Wenn der Gewaltige wird sein wie Werg. Der „Gewaltige“ ist eine Bezeichnung Gottes, - hier des Götzen. Der Satz will also sagen: derjenige, der eure Stärke und Kraft war, wird für euch werden wie Werg.
Und sein Tun wie ein Funke. Statt „sein Tun“ ist nach dem Grundtext vielleicht zu übersetzen „sein Bildner“, nämlich der Bildner des Götzenbildes. Manche Ausleger wollen hier angedeutet finden, dass die Götzendiener ihre Torheit einsehen und voll Scham ihre Bilder verbrennen werden. Danach bezöge sich der Vers auf die Buße des Volks. Mir aber scheint ein anderer Sinn vorzuliegen. Denn wie das Feuer aus trockenem Brennmaterial hervorspringt, so wird Gott, will der Prophet sagen, euch und eure Götzenbilder auf einen Haufen sammeln, wie wenn ein Scheiterhaufen errichtet werden soll, damit ihr mit ihnen zusammen verzehrt werdet. So sind die Bilder wie Werg, die Menschen wie der Funke, und beide verzehren sich gegenseitig in einem und demselben Brande.
Dass niemand lösche. Es ist zu beachten, dass die Propheten, wenn sie des Zornes Gottes Erwähnung tun, ihn stets mit äußeren Bildern darstellen. Denn ihn mit Augen oder irgendeinem andern Sinn wirklich zu erfassen, ist ja unmöglich. So wird also der Zorn Gottes, der die Gottlosen verzehrt, mit einem Feuer verglichen, das alles vertilgt. Damit ist nun zur Genüge klar gelegt, was der Prophet sagen will: nämlich, dass alle Gottlosen, welche Zuversicht immer sie haben mögen, zu Grunde gehen werden. Ja, ihr Verderben wird umso schlimmer sein, weil sie ihre Zuversicht auf falsche und nichtige Dinge setzen; und gerade von der Seite her, von welcher sie Heil erwarten, ist ihnen das Verderben sicher. Denn Götzenbilder und alle abgöttischen Dinge sind nur Reizmittel für Gottes Zorn, und unauslöschlich ist der Brand, den sie entfachen.