Calvin, Jean – Hiob 9, 27 – 35.
27) Wenn ich bei mir sage: Ich will meiner Klage vergessen, ich will meinen Zorn stillen, ich will mich erquicken, 28) so fürchte ich meine Not; denn ich weiß, du wirst mich nicht unschuldig sprechen. 29) Bin ich gottlos, warum mühe ich mich denn so vergeblich? 30) Wüsche ich mich gleich mit reinem Wasser und säuberte meine Hände mit Lauge, 31) so wirst du mich doch in den Schmutz tauchen, und meine Kleider machen mich unrein. 32) Denn er ist nicht ein Mensch wie ich, dem ich widersprechen dürfte, dass wir zusammen vor Gericht gingen. 33) Wer ist Schiedsrichter, der seine Hand zwischen uns beide legte? 34) Er nehme seine Rute von mir weg und schrecke mich nicht mehr! 35) Alsdann werde ich reden und mich nicht mehr fürchten; nun aber halte ich an mich, weil es nicht also ist.
Weil Hiob es mit Gott zu tun hat, darum kann er in seiner Not und Traurigkeit keine Erquickung finden, so ernstlich er sich auch darum müht: Gott hält ihn in harten Fesseln, so dass er in sich selber keine Ruhe findet. Haben wir´s mit Menschen zu tun, so können wir noch irgendeine Ausflucht suchen, uns unter irgendeiner Decke verbergen und denken: Ich will schon einen Weg finden, um seinen Händen zu entrinnen; und wäre er ein Löwe mit aufgesperrtem Rachen, ich wollte ihm wohl entwischen. Steht uns aber Gott als unser Widerpart gegenüber, so bleibt uns nichts übrig als das Bekenntnis: Gott ist´s, der mich straft und betrübt; wir mögen laufen, wohin wir wollen, bis in die fernsten Winkel der Erde, ja bis an die Wolken fliegen – Gott ist doch noch viel höher; wir mögen hinabsteigen bis in den tiefsten Abgrund – seine Hand reicht auch bis dahin; und führen wir über´s Meer – seine Hand erstreckt sich noch viel weiter! Wenn wir es mit Gott zu tun haben, helfen keine Ausflüchte; fordert er uns vor sich, so müssen wir vor seinem Angesicht erscheinen, und mit Aufschieben gewinnen wir nichts. Bei den Menschen ist viel Heuchelei, wir aber wollen ehrlich vor Gott hintreten, unsere Herzen vor ihm ausschütten. Wir können nichts dagegen tun: er untersucht uns bis ins Mark, und wir mögen machen, was wir wollen, verbergen können wir vor ihm nichts.
Nun aber war gegen Hiob die Anklage erhoben, er habe sich Gott gegenüber rechtfertigen wollen und würde doch nichts damit gewinnen; darum fährt er fort: Bin ich gottlos, warum mühe ich mich denn so vergeblich? Damit gibt er sich der Verdammnis schuldig – freilich nicht im Sinne der Anklage seiner Freunde, die zu ihm redeten, als wären sie Feinde. Sie erklärten ihn ja für einen schlechten, verdammten Menschen, einen Verächter Gottes und Verworfenen. So aber nennt er selbst sich nicht, sondern er meint: Ja, wenn ich mich der verborgenen Gerechtigkeit Gottes unterstelle, dann bin ich gottlos; denn dass ich mich verteidige, hilft mir nichts. Gott mag uns wohl anerkennen als solche, die ihm gedient und ihn geehrt haben, aber wenn es auf seine geheime Gerechtigkeit ankommt, die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt und die ihm gefällt, so sind wir nichts, und alles, was in uns ist, ist wertlos. Gemessen an der Richtschnur seines Gesetzes ist keine sterbliche Kreatur gerecht; denn wo ist die vollkommene Liebe, die dort gefordert wird? Dass wir unsern Gott lieben von ganzem Herzen und unsern Nächsten als uns selbst? Aus dem Worte: „Verflucht sei jedermann, der nicht bleibt in alledem, das geschrieben steht im Buches des Gesetzes, dass er´s tue“ (Gal 3, 10), zieht Paulus den Schluss, dass es keine Hoffnung auf Seligkeit gibt, wenn man bei den Werken stehen bleibt. Wenn aber die Übertreter des Gesetzes verflucht sind, sind darum alle Menschen verflucht? Ganz gewiss; denn findet man wohl auch einen einzigen, der nach Gottes Gesetz gelebt hätte? Ich meine: vollkommen gelebt hätte? Denn haben wir auch nur in einem einzigen Punkte gefehlt, so sind wir in allem schuldig, wie Jakobus sagt: „So jemand das ganze Gesetz hält und sündigt an einem, der ist´s ganz schuldig“ (Jak 2, 10). Haben wir die Majestät Gottes verletzt und seiner Gerechtigkeit zuwider gehandelt, - müssen wir dann nicht elend stecken bleiben?
Nun aber gibt es doch Leute, die in der Furcht Gottes wandeln – freilich nicht von Natur; denn alle Heiligkeit vor Menschen ist nur Heuchelei und Lüge; aber wenn Gott ihnen das Herz anrührt und sein Gesetz hineinschreibt, dann gehorchen sie ihm. Auch das ist jedoch kein völliger Gehorsam und keine solche Reinheit, dass wir mit aufgerichtetem Haupte vor ihn treten könnten, um unsern Freispruch zu erlangen. Aber das ist sicher: Es gibt einen großen Unterschied zwischen den Gottesverächtern und den Gläubigen; denn mag auch ein Gläubiger noch so schwach sein, mag er auch längst nicht so richtig wandeln können, wie er es wohl wünschte, nichtsdestoweniger hat er doch den Wunsch, Gott zu dienen, er sehnt sich darnach, er gibt sich Mühe darum; ein Ungläubiger aber lacht über das alles, er verwirft Gott und fragt nicht nach ihm, er tut, was ihn gelüstet. Also kann man wohl manche Leute „gerecht“ nennen, die es doch nicht verdienen, vor Gott als gerecht zu gelten. Es ist nicht so, dass sich hier bei Menschen eine vollkommene Gerechtigkeit fände, dass Gott ihnen etwas schuldig wäre und sie es ruhig auf einen Prozess mit ihm ankommen lassen könnten. Nein, wir sprechen von einer Gerechtigkeit, die Gott aus lauter Güte sich gefallen lässt; wir sprechen von einer Gerechtigkeit, die nur eine halbe Gerechtigkeit ist und die mit Fug und Recht könnte verdammt werden – und doch nicht verdammt wird, weil Gott die Fehler und Unvollkommenheiten an seinen Gläubigen nicht anrechnet.
Hiob nennt sich gottlos, aber nicht in dem Sinne, wie man einen zuchtlosen Menschen gottlos nennt. Im Vergleich mit den Menschen konnte eine geradezu engelgleiche Frömmigkeit aufweisen. In welchem Sinne verdammt er sich denn als einen Gottlosen? Das ist durchaus ehrlich gemeint. Wenn er sich an der verborgenen Gerechtigkeit Gottes misst, dann muss er zu Boden sinken und bekennen: Herr, deiner Gnade verdanke ich es, dass ich mich zu deinem Dienst ergeben habe; habe ich ihn nicht so vollkommen ausgeübt, wie ich gern wollte, so war es doch meine Absicht, und ich habe allen Fleiß daran gewandt; schuldig bin ich in vielen Dingen, aber von dir bin ich nie gewichen. Das alles könnte Hiob in Wahrheit bekennen, aber angesichts dieser strengen Gerechtigkeit muss er den Mund schließen.
Dass wir einen schönen Schein haben – ich meine nicht vor den Menschen, sondern vor den Engeln des Paradieses – und dass wir uns viel Mühe geben, Gott ohne Falsch zu dienen, das reicht nicht aus, um uns gerecht zu sprechen. Wenn wir Gott Rechenschaft geben müssen, so bleibt von all unserer Gerechtigkeit nichts übrig. Paulus redet nur von seinem Amt, nicht etwa von seinem ganzen Leben, wenn er sagt: „Ich bin mir nichts bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt“ (1. Kor 4, 4). Hier redet er lediglich davon, dass er das Evangelium mit gutem Eifer gepredigt hat; aber soviel ist sicher: Er bekennt, dass er darin nicht gerechtfertigt ist; denn Gott wird wohl Mängel an ihm finden, von denen er selber nichts weiß. Wenn Paulus allein über sein Apostelamt zu einem solchen Urteil gelangt, wie wird´s dann uns ergehen, wenn unser ganzes Leben der Prüfung unterworfen wird? Wenn Gott uns nicht um dies und das, sondern um das Ganze den Prozess macht, auch um unsere Worte und Gedanken, und nicht um unsere Werke allein, was wird aus uns werden? Dabei aber müssen wir immer darauf achten, dass Hiob nicht allein von der Strenge des Gesetzes redet, die uns alle, wie wir sind, in den Abgrund versenkt, sondern dass er noch weitergeht zu einer uns unbekannten Gerechtigkeit.
Nun aber fügt er hinzu: Warum mühe ich mich denn so vergeblich? „Ich gebe mich verloren, ich bekenne, dass ich ein Sünder bin, ich bekenne, dass ich gottlos bin – aber warum mühe ich mich denn so vergeblich? Gott verfolgt mich ja; bin ich verdammt, so ist ja doch alles verloren – sollte Gott mich dann nicht mit einem Streich zu Boden schlagen? Warum tilgt er mich denn nicht einfach von dieser Welt hinweg? Warum hat Gott denn ein Vergnügen daran, mich in meinen Schmerzen schmachten zu lassen? Ich bekenne ja, dass ich der Verdammnis wert bin – was will er noch mehr?“ So redet Hiob wie ein Mensch ohne Zucht und Maß. Ja, die Gläubigen, mögen sie noch so ernstlich gegen ihre Anfechtungen streiten, geraten immer wieder in solche Erschütterungen hinein und kommen in derartige Stürme, dass sie nicht mehr ein noch aus wissen. Hiob aber wird noch mehr dazu angestachelt durch die, die ihn schmähen, als wollte er sich vor Gott rechtfertigen.
Das spricht er noch deutlicher aus, wenn er nun fortfährt: Wüsche ich mich gleich mit reinem Wasser und säuberte meine Hände mit Lauge, so wirst du mich doch in den Schmutz tauchen, und meine Kleider machen mich unrein. Damit will Hiob seinen Gedanken bestätigen: Wenn wir unser Leben ganz genau erforschen und dabei finden, dass Gott uns die Gnade verliehen hat, in seiner Furcht zu wandeln und ihm zu gehorchen, so ist doch das alles nichts. Denn Gott hat seine verborgene Majestät, und zu dieser Majestät gehört eine Gerechtigkeit, die uns unbegreiflich ist. Gewiss, auch in seinem Gesetz hat uns Gott ein Muster und Abbild seiner Gerechtigkeit gegeben, aber das ist nur unserer Fassungskraft angepasst. So hoch kann unser grober Verstand gar nicht steigen, dass er begreifen könnte, was in Gott in vollkommenem Maße vorhanden ist. Also ist die Gerechtigkeit im Gesetz Gottes eine Gerechtigkeit, deren Forderung der Fähigkeit des Menschen angepasst ist. Wir nennen sie wohl eine „vollkommene“ Gerechtigkeit, können sie auch mit vollem Recht so nennen – die Schrift nennt sie ja auch so -: sie ist vollkommen in Beziehung auf uns, das heißt, auf uns als Kreaturen. Ich meine nicht: in Beziehung auf uns als Sünder und in Adam Verfluchte, sondern als Kreaturen Gottes, ja, um noch deutlicher zu sein: in Beziehung auf die Engel. Es ist eine Gerechtigkeit, die Menschen und Engel Gott leisten müssen als seine Kreaturen. Es ist aber in Gott noch eine höhere Gerechtigkeit, also eine Vollkommenheit, die wir gar nicht erreichen, zu der wir auch nicht annähernd gelangen können, bis dass wir ihm ähnlich sind, bis dass wir die Herrlichkeit schauen, die uns jetzt verborgen ist und die wir jetzt nur sehen „durch einen Spiegel in einem dunklen Wort“ (1. Kor 13, 12); alsdann werden wir wohl andere Leute sein als heute. Darum meint Hiob hier, trotz all seines Waschens würde er nicht rein werden.
Unter dem Wasser und der Lauge versteht Hiob alle menschliche Reinigkeit, so wie es auch im Ps 26, 6 heißt: „Ich wasche meine Hände in Unschuld.“ Dabei denkt David an die Zeremonie des Gesetzes, durch die sich die Leute zu reinigen hatten, wenn sie zur Anbetung in den Tempel gingen. Kann aber das Wasser eine geistliche Abwaschung unserer Seele sein? Nein! Deshalb ist die Zeremonie des Gesetzes als ein Bild dessen zu verstehen, was in uns geschehen muss, nämlich, dass wir allen bösen Begierden absagen und ein reines Herz haben, dass wir allen bösen Werken den Abschied geben und alle unsre Glieder zum aufrichtigen Dienst Gottes ergeben. Das ist die Reinigung, von der Hiob redet. Kurzum, er will sagen: Wenn ich mich auch noch so sehr bemühe, Gott zu dienen und weiß wie Schnee zu sein, dennoch wird Gott immer etwas an mir zu tadeln finden: So wirst du mich doch in den Schmutz tauchen. Aber das ist doch nicht Gottes Amt, uns mit Schmutz zu beflecken? Er ist doch der Brunnquell aller Heiligkeit, ja gerade in unserer Befleckung nehmen wir doch zu ihm unsere Zuflucht, dass er uns wasche und reinige! Wie kann Hiob denn sagen: Gott tauche ihn in den Kot? Er meint: Gott wird an ihm eine Befleckung entdecken, die zuvor nicht erkennbar war. Auf welche Weise aber entdeckt er die Befleckung? Nicht allein durchs Gesetz. Freilich ist das Gesetz ausreichend, um uns zu verdammen; darum heißt es auch „das Amt, das durch den Buchstaben tötet“ (2. Kor 3, 7). Haben wir nur das Gesetz sind wir rettungslos verloren. Macht uns Gott den Prozess aufgrund des Gesetzesbuchstabens, so wird er schon Unreinigkeit genug an uns finden. Aber Hiob geht noch weiter: Auch wenn wir alles erfüllt hätten, was Gott im Gesetz befiehlt – was ja doch unmöglich ist -, so könnten wir deshalb doch nicht vor ihm bestehen. Aber setzen wir den Fall, Hiob wäre wie ein Engel, so dass er nach der Gerechtigkeitsforderung des Gesetzes vor Gott bestehen könnte, so würde er dennoch nach der geheimen Gerechtigkeit in Gott immer als Schuldiger dastehen; steht doch geschrieben, dass auch die Engel, wenn er mit ihnen ins Gericht geht, nicht vor ihm bestehen können (4, 18; 15, 15). Da muss wohl alles Fleisch demütig werden!
Wenn uns Gott nur mit seiner verborgenen Gerechtigkeit drückte, was würde geschehen? Wir würden es machen wie die wilden Rosse, würden unsere Hörner gegen Gott erheben, wie es die Ungläubigen machen; sie lästern ja mit vollem Munde, obschon sie davon überzeugt und von ihrem eigenen Gewissen überführt sind, dass sie nichts dagegen vorzubringen haben; gleichwohl hören sie nicht auf, mit offenem Maul Gott zu lästern, gegen ihn zu murren und ihm ins Angesicht zu trotzen. Und deshalb muss Gott zu unserer Verdammung einen Maßstab anlegen, der unserer Natur angepasst ist, um unsere Vermessenheit und Heuchelei von uns zu nehmen. So weist er uns an das Gesetz, um uns zu zeigen, dass wir völlig verloren sind, als wollte er sagen: Ich will nicht viel Worte machen, ich halte euch nur den Spiegel meines Gesetzes vor; darin mag sich ein jeder beschauen, ob ihr wirklich so schön seid! Stehen wir nun vor dem Gesetz still, so sieht ein jeder seine Befleckung, und wo es uns vordem bedünken wollte, in uns sei lauter Leben, Seligkeit und Wunder, sehen wir jetzt: wir sind tot! Wie auch Paulus sagt: „Ich aber starb“ (Röm 7, 10). So geht es uns, wenn wir das Gesetz richtig verstehen; denn viele haben freilich eine Decke vor ihren Augen: sie reden sich ein, sie hätten Gott aufs beste gedient; wird ihnen das Gesetz vorgelesen, so denken sie, sie hätten ihm längst genuggetan, und haben sich doch überhaupt noch nicht ernstlich damit befasst. Solche Leute haben die Decke vor ihren Augen. Wenn wir aber bedenken, was wirklich das Gesetz Gottes ist, so finden wir in uns lauter Schmutz und Unrat. Darum greift uns Gott mit dem Gesetz an. Hier aber haben wir ein Wort, das noch weit darüber hinausgeht; auch für die Vollkommensten gilt das Wort Hiobs: Keine Gesetzesgerechtigkeit ist ausreichend, um vor Gott zu bestehen, wenn er nach seiner Strenge mit uns handelt.
Hier möchte man nun einwenden: Sollte denn Gott die Menschen verdammen, wenn sie erfüllt haben, was er ihnen vorschreibt? Nein, es handelt sich nicht darum, was Gott tun wird, sondern darum, was er tun könnte. Nun, er will es auch gar nicht. Dass muss uns genug sein: Wenn wir unser Leben nach Gottes Gesetz eingerichtet hätten, so würden wir vor ihm auch als Gerechte gelten, das ist ganz gewiss. Denn es steht geschrieben: „Welcher Mensch meine Satzungen tut, der wird dadurch leben“ (Lev 18, 5). Diese Verheißung kann nicht täuschen noch trügen. Aber dem sei wie ihm wolle, das eine bleibt jedenfalls bestehen: Wenn wir das Gesetz auch vollkommen erfüllt haben, so braucht Gott doch damit nicht zufrieden zu sein, wenn er nicht will; er sieht bei sich selber eine derartige Vollkommenheit, dass alles, was wir beibringen können, nichts ist. Doch ist damit nicht gesagt, dass er es so macht. Aber alle unsere Reinheit ist lauter Schmutz, wenn Gottes Gerechtigkeit darüber kommt.
Denn Gott ist nicht ein Mensch wie ich, dem ich widersprechen dürfte, dass wir zusammen vor Gericht gingen. Wäre Gott ein Mensch, dann wollte ich reden und mich nicht fürchten. Wäre Gott ein Mensch, dann wollte ich reden und mich nicht fürchten. Wenn Gott mir das erlaubte, dass ich ihn möchte vor Gericht laden, ja, wenn ein Schiedsmann über uns beiden wäre, dann könnte ich frei und kühn den Mund gegen ihn auftun. Das ist aber eine sehr gefährliche Anfechtung, und wären Hiob die Worte von Herzen gekommen, so wäre es eine fluchwürdige Gotteslästerung gewesen. Er leugnet nicht, dass ihm diese Versuchung genaht ist, aber er hat ihr tapfer Widerstand geleistet. Es könnte aber leicht geschehen, dass auch wir in solche Versuchung kämen; denn das will der menschlichen Vernunft gar nicht eingehen, dass auch ein voller Gehorsam gegen das Gesetz dennoch nicht zum Freispruch vor Gott führen sollte. Die Menschen haben hier immer etwas dreinzureden, zum mindesten aber möchten sie sich selber beklagen und bejammern: Kann uns Gott wirklich so streng behandeln, und soll das gar nichts sein, dass wir sein Gesetz erfüllt haben? Aber wir müssen uns im Zaum halten; wir müssen uns damit zufrieden geben, dass wir Gottes Gerechtigkeit zurzeit nicht verstehen. Aber warum ist sie uns verborgen? Damit wir sie anbeten!
Denn uns geziemt eine zwiefache Art der Anbetung und des Lobpreises Gottes. Der erste Grund zum Lobpreis liegt darin, wie er sich uns offenbart: in seinem Gesetz gibt er sich zu erkennen als den Richter, der uns verdammt, in seinem Evangelium als den Vater, der uns freispricht. Wenn Gott unsere Verfehlung mit dem Fluch bedroht, so haben wir darin Anlass, ihn zu preisen und anzuerkennen, dass er auf jeden Fall gerecht ist; denn wenn wir auch verloren gingen, so hätten wir doch keinen Grund, darüber zu murren. Ruft er uns aber zu sich, uns in unserm Herrn Jesus Christus seine Gnade anzubieten, und erklärt er uns, dass er nichts anderes begehrt, als sich mit uns zu versöhnen, so ist das ein noch viel herrlicherer Anlass, ihn zu rühmen in seiner Gerechtigkeit, weil er uns aus der Hölle herausgerissen und uns die Hand entgegengestreckt hat. So haben wir denn Gott zwiefaches Lob zu spenden, wenn er sich uns offenbart durch sein Wort.
Ebenso ist es mit seinen Werken. Trägt uns Gott mit Geduld und Barmherzigkeit – nun, er könnte uns doch auch mit seinem Wetter erschlagen; und tut er es nicht, so ist es lauter Gnade. Züchtigt er uns aber um unsere Fehler, um uns zur Buße zu bringen, - ist das nicht auch Grund genug, ihm einen Lobgesang anzustimmen? Also in Gottes Wort und Werk liegt Grund genug für uns, ihn zu preisen. Aber darüber müssen wir noch hinausgehen: Auch wenn sich Gott vor uns verbirgt, müssen wir ihn preisen, auch wenn er uns weder Gerechtigkeit und Güte zeigt und überhaupt nichts, wovon man denken sollte, dass man ihm deshalb Lob und Dank schuldig wäre! Wenn zum Beispiel die Schrift davon redet, dass er erwählt, die er will, und die andern verwirft, dass er also über die Menschheit verfügt nach seinem Gutdünken – ja, auch wenn er die Frommen plagt und immer weiter plagt, so dass es aussieht, als ginge alles verkehrt in der Welt und als verberge sich Gott, so dass wir nichts mehr von Gerechtigkeit und Güte, Kraft und Weisheit sehen: dennoch müssen wir ihm die Ehre geben, die wir ihm schuldig sind.
Das also muss uns ein herzliches Anliegen sein: offenbart sich uns Gott, so müssen wir ihn preisen, und verbirgt er sich, so müssen wir seine unbegreiflichen Geheimnisse preisen. Auf keinen Fall aber dürfen wir sagen: Wenn ich nur mit ihm streiten dürfte, so wollte ich meinen Prozess wohl gewinnen!
Nun lesen wir allerdings hie und da in der Heiligen Schrift, dass Gott sagt: „So kommt denn und lasset uns miteinander rechten“ (Jes 1, 18), und: „Nun richtet, ihr Bürger von Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberge“ (Jes 5, 3). Warum spricht Gott so? Um den Gottlosen das Maul zu stopfen, die gegen ihn erbittert waren und meinten, wenn die Menschen mit ihnen zufrieden wären, so hätten sie gewonnen! Darum sagt der Herr: „Ihr sollt nicht meinen, ich behandle euch wie ein Tyrann, als solltet ihr gegen Recht und Billigkeit unterdrückt werden; kommt her, ich will tun, als wäre ich ein Mensch wie ihr, eine bloße Kreatur; ich will mich meines Rechts begeben, meiner Alleinherrschaft, ja meiner göttlichen Majestät. Es ist mir recht, wenn ihr in diesem Falle an alles das nicht denkt – aber es wird euch nichts helfen, euren Prozess verliert ihr immer!“ So lässt sich Gott denn in einen Rechtsstreit ein; aber wenn er so redet, so geht das gegen die Verächter, die ihm trotzen und Aufruhr gegen ihn machen. An denen wird er genug zu verdammen finden. Hiob aber – wohin stellt er sich? Er stellt sich zu denen, die Gott dienen wollen und unter dem Gehorsam seines Gesetzes wandeln! Aber dabei täuscht er sich noch sehr; denn so vollkommen ist keiner, dass nicht Gott viel an ihm auszusetzen hätte – schon nach der Regel, die er uns im Gesetz gegeben hat.
Gott gibt uns wohl Gelegenheit, zu ihm zu kommen, aber nicht, mit ihm zu rechten, sondern zu bekennen, dass wir auf jeden Fall alle vor ihm schuldig sind. Auch keine Schiedsmänner dürfen wir suchen wollen, die uns im Prozess zur Seite stehen; sondern Jesus lasst uns suchen, dass er unser Mittler sei, der die Sache zum guten Ende bringe! Wir sollen Gott bitten, er möge ein Mittel finden, um uns mit seiner Majestät zu versöhnen. Gott ist fern von uns getreten und hat sich von uns geschieden. Wie kommt das? „Eure Untugenden scheiden euch und euren Gott voneinander“ (Jes 59, 2). Was bleibt uns da noch für Hoffnung? Nur dass Jesus Christus zwischen beide Teile trete; er muss Schiedsrichter sein, nicht dass er sich über Gottes Majestät erhöbe und Gott uns untertan machte, sondern um durch seine Mittlerschaft uns mit Gott zu versöhnen, uns als unser Haupt zu sich zu ziehen und uns so mit Gott zu verbinden, dass wir „in ihm eins seien“ (Joh 17, 11). Darum müssen wir uns demütigen und sprechen: „Herr, wir kommen zu dir, nicht um mit dir zu rechten oder um auf etwas zu pochen, was in uns, in unserer Person wäre, sondern weil du uns gnädig bist und uns im Namen deines Sohnes Jesus Christus zu Gnaden annehmen willst. Das allein soll unser Ruhm sein, diese unendliche Güte, die du in deinem eingeborenen Sohn entfaltet hast, da du ihn für uns in den Tod gabst. Nun zweifeln wir nicht, dass du uns annimmst, und wenn wir auch noch so unwürdig sind.“