Beste, Wilhelm - Wegweiser zum inneren Frieden - 7. Verkennung.
Es gibt viele gute Menschen, zwar nicht nach dem strengen Begriff (denn diesem gemäß ist Niemand gut, denn der einige Gott1)) - doch nach dem hergebrachten Sinne des gewöhnlichen Lebens. Aber es gibt wenige Edle, d. h. wenige Menschen, deren Tugenden das Maß der Anforderungen überschreiten, welche die Welt zu stellen sich berechtigt glaubt. Und wie selten werden diese Wenigen von ihr gewürdigt! Gute Menschen werden fast nie, edle fast immer verkannt. Denn für jene ist der Maßstab eben so allgemein vorhanden, als er für diese selten ist. Was jene tun, traut sich die Welt allenfalls selbst zu; sie begreift es. Was die Edlen tun, erweckt ihren Verdacht, weil sie sich selbst nicht für fähig hält, desgleichen zu tun. Es gehört aber zum Wesen der Edlen, dass die Verkennung sie nicht entadelt. Wer erhaben sein will, muss auch erhaben sein über den Beifall der Welt. Reicher Ersatz ist ihm gegeben in dem Trost des Herrn: „Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen, und reden allerlei Übles wider euch, so sie daran lügen. Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel wohl belohnt werden. Denn also haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.“2) Reicher Ersatz! O schon dämmerte in meiner Seele der Hochmut; denn ich war im Begriff, mich dieser Verheißung zu getrösten. Ich war im Begriff, mich für etwas Besonderes zu halten, weil der große Haufen mich verkannte. Aus der Verkennung sog ich Vorstellungen von dem Adel meines Wesens. Verzeihe mir, mein Gott, den Hochmut meines Herzens und gib mir den Geist der Selbstprüfung. Es ist wahr, und ich will es mir darum nicht verbergen, dass die Menschen gerade das Beste, das Du in mein Herz gelegt, verkannt und verlästert haben. Daher kam es, dass eine Vorstellung meiner Herrlichkeit mich anwandelte. Aber ich vergaß, an das Schlechte in mir zu denken, vergaß, dass gerade das Schlechteste in mir die Welt nicht kannte. Wenn ich hieran denke, vergehen mir die Gedanken an meine Herrlichkeit. Bin ich auch unschuldig in Dem, was die Welt an mir tadelt, so bin ich doch schuldig in Dem, was sie nicht an mir tadelt. Hab' ich Vorzüge, welche die Welt verkennt, so habe ich doch auch Fehler, welche sie nicht kennt. Eins gegen das Andere gerechnet entspricht mein Ruf meinem Wesen. Ja, ich fürchte, er ist besser, als ich. Ich möchte nicht, dass meine ganze Innenwelt offenbar würde. Geschähe es, ich würde vor der Welt zu Schanden. Drum will ich ruhig hinnehmen die Verkennung der mir von Gott geschenkten Güter und mich nicht blähen im Bewusstsein gekränkter Ehre. Ich habe jede Schmach, die mich getroffen, verdient, wenn nicht durch Offenbares, doch durch Verborgenes. Einer Verheißung der Belohnung kann ich - mögen's Andere können - mich nicht getrösten.
Mein Trost ist, nachdem ich mich selbst erkannt habe, allein die freie Gnade Gottes.