Beecher, Henry Ward - VIII. Das Grundprinzip des Charakters.
Text: Matth. 19,22.
„Da der Jüngling das Wort hörte, ging er betrübt von ihm; denn er hatte viele Güter.“
Es herrscht eine außerordentliche Verschiedenheit in dem Verhalten, welches unser Heiland den verschiedenen Personen gegenüber beobachtete, die zu ihm kamen. Sehen wir nur auf die äußeren Umstände, so lassen sich die Gründe dieser Verschiedenheiten schwer bestimmen. Wir hätten gewiss aus allerlei Gründe erwarten können, dass der Herr diesen jungen Mann entgegenkommender aufgenommen hätte, als zum Beispiel jenen Zöllner Zachäus, der unter seinen eigenen Landsleuten so übel berüchtigt war, und Jahre lang in der Ungerechtigkeit gelebt hatte. Zachäus hatte sich noch dazu gewissermaßen fern gehalten, und war, wie es den Anschein hatte, mehr aus Neugier als aus wirklichem Herzensverlangen zu dem Herrn gekommen. Dennoch kam der Herr zu ihm, rief ihn an seine Seite, kehrte bei ihm ein, hörte sein Bekenntnis an und erklärte, dass seinem Hause Heil widerfahren sei. Dagegen war der reiche Jüngling liebenswert, und fühlte sich zum Herrn, wie ausdrücklich erklärt wird, hingezogen. Der Heiland „sah ihn an“ - das heißt nicht, dass er eben nur sein Auge auf ihn richtete, sondern er schaute ihn an mit einem jener langen tiefen, durchdringenden Blicke, in welchem sich seine ganze Heilandsliebe aussprach. Dennoch wies er ihn ab oder machte ihm doch solche Bedingungen, welche diese Folge hatten. Scheint es nicht befremdend, dass der Herr diesen Jüngling so wenig ermutigte, da er doch den Zachäus ermutigt hatte? Warum geschah dies nicht? Der reiche Jüngling war doch mit solchen Eifer gekommen - er war gelaufen, er hatte dem Herrn die Frage aller Fragen vorgelegt: „Guter Meister, was soll ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ Er hatte im Verlauf des Gespräches erklärt, dass das ewige Leben das Ziel seines Strebens gewesen sei von Anfang an, er hatte dem Licht und der Einsicht gemäß, die ihm zu Teil geworden war, sich bemüht, alle Gebote zu erfüllen und dennoch weist ihn der Herr zurück? Warum legte er ihm die schwere Forderung auf: „Verkaufe alles, was Du hast, und folge mir nach?“
Diese Frage kann nicht beantwortet werden, ohne dass wir zugleich eine sehr tiefe Frage der Philosophie erörtern. Es ist eine Frage von so allgemeiner Tragweite, dass sie den Gegenstand unserer heutigen Betrachtung bilden soll.
Ich sagte, der reiche Jüngling war liebenswert. Sein ganzes Wesen war anziehend. Aber offenbar hatte er die Grundlage seines Lebens und Charakters auf sein eigenes physisches Wohlergehen gestellt. Er hatte nicht bloß Vermögen, sondern „große Güter,“ - und es ist klar, dass diese für ihn die Hauptsache waren. In dem Augenblick, als an ihn die Frage herantrat: „Was willst Du lieber, geistliche Güter oder diese irdischen?“ eine Frage, die sofort beantwortet werden musste; als die Frage für ihn entstand: „Was ist besser für Dich, Deinem Vermögen oder den Schätzen des Himmels zu entsagen?“ - da wählte er die irdischen Güter. Er ging hinweg „betrübt.“ Er hatte nach dem ewigem Leben gefragt; er wollte gern es gewinnen, er war ja ein ausgezeichneter junger Mann von vielen guten Eigenschaften - aber, alles in allem genommen, sein Leben wurzelte in seinen Gütern. In diesem fand sein Lebensinteresse seinen Mittelpunkt. Er begehrte freilich noch nach etwas Anderem, als nach den Schätzen, die er aufgehäuft hatte, aber diese Letzteren sollten die Grundlage für alles andere bilden, alles andere sollte eine Zugabe zu diesen sein. Als deshalb der Herr, statt ihm einfach zu antworten, statt an die Äußerung des Jünglings, dass er schon so viel Gutes getan habe, und nun eben noch mehr tun wolle, anzuknüpfen, vielmehr eine strenge Scheidung machte, und ihm sagte: „hier sind die irdischen, dort die himmlischen Güter, - nun wähle, - nun gib das eine oder das andere auf, welches von beiden willst Du haben?“ - da musste er sich entscheiden, und er entschied sich für das Zeitliche, für das Irdische. Er war nicht weniger „liebenswert“ geworden - aber der Grundton seines Charakters war zu Tage getreten. Die Grundlage seines Lebens war auf die irdische Wohlfahrt gestellt; als der Ruf an ihn herantrat, etwas Anderes, Höheres zur Grundlage seines Lebens zu nehmen, da wies er dies von sich, und kehrte zu dem Irdischen als zu seinem Mittelpunkt zurück. Der aufrichtige Wunsch, ein gewisses Verlangen nach etwas Höherem war damit bei dem reichen Jüngling nicht ausgeschlossen.
Selbst schlechte Menschen haben oft lebhaftes Verlangen nach dem Guten. Sie bewundern das Gute. Es kann jemand auf tausenderlei Weise der Selbstsucht frönen, und dennoch selbst loses Wohlwollen aufrichtig bewundern. Ja ein selbstsüchtiger Charakter, das heißt, wie schon gesagt, ein Charakter, dessen Grundtendenz auf das eigene Wohlergehen gerichtet ist, kann gelegentlich Regungen des Wohlwollens haben. Es gibt einen Punkt, wo selbst das Wohlwollen der Selbstsucht dienen kann. Ich habe Menschen gekannt, die aus Interesse wohlwollend waren, nicht bloß, weil diese Regungen ihnen eine wohltuende Empfindung hervorriefen, sondern weil sie die Äußerungen von Wohlwollen als etwas für sie selbst Nützliches ansahen. Dieses Wohlgefallen an dem Guten, diese Einsicht in die Nützlichkeit desselben änderte den Grundcharakter der Selbstsucht, der in ihnen war, freilich keineswegs.
Was den reichen Jüngling anbetrifft, so war er in Verhältnissen, die seine Wünsche in hohem Maße befriedigten. Als Herr von ausgedehnten Besitzungen nahm er in seiner Umgebung eine Stellung ein, welche seinem Stolze und seiner Eitelkeit schmeichelten. Er hatte jene Unabhängigkeit und Freiheit, die jeder besitzt, welcher verhältnismäßig unbeschränkt über Mittel zu gebieten hat. Dieses Bewusstsein, oder dieser Besitz war die Grundlage seines Lebens. Im Besitz von allem, was seine Sinne erfreuen konnte, wollte er sich keineswegs dabei zu sehr gehen lassen, aber er wollte diese Lage, in der er sich befand, auch nicht aufgeben. Er wollte dieselbe festhalten, und sein Dasein zugleich mit den Blüten eines geistigen, poetischen Strebens schmücken, himmlische Gefühle sollten sein irdisches Leben gewissermaßen überwölben, er wollte eben beides haben: seinen Fuß auf der Erde, sein Haupt dem Himmel nahe. Zuerst wollte er dies irdische Leben mit seinen Gütern ergreifen und festhalten, und dann auch noch das Himmelreich als einen schönen Schmuck dieses Lebens obenein haben. Die geistlichen Vorzüge und Gaben sollten gleichsam über ihm auf dem Orchester Platz nehmen, und ihm süße Weisen vorspielen, während er selbst unten saß, auf ebener Erde, mit den Dingen dieser Welt auf gleichem Boden, und im Sinnlichen lebend, und seinem eigenen Wohlsein dienend.
So wenig diese Dinge sich vereinigen lassen, so vielfach, ja so allgemein glaubt man doch, sie vereinigen zu können. Zu jeder Zeit haben die Menschen beides, das Himmlische und das Irdische mit einander vereinigen wollen, - aber Christus erklärt das für unvereinbar. „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“
Unser Heiland gab diesem jungen Mann die Lehre, dass das geistige Leben das irdische verdrängen muss. Sie können beide auch wohl neben einander bestehen; aber das geistliche Leben muss im Wachsen sein, und muss das niedere beherrschen. Das geistliche Leben kann nicht bloß eine Zugabe zu dem irdischen sein. Das ist die Lehre, die der Heiland fort und fort gepredigt hat. Wenn jemand das Himmelreich gewinnen will, so muss er dies zur Hauptsache machen, so dass alles andere untergeordnet ist; wenn jemand ein aufrichtiger Christ sein will, so muss seine geistliche Natur die Herrschaft haben, und Alles andere muss sich dem fügen. So lange unsere niedere, sinnliche Natur in uns fortbesteht, dürfen wir nicht erwarten, dass die höhere, geistliche Natur sich zu ihr herniederlassen und sich gleichsam auf ein liebliches Spiel mit ihr einlassen wird. Und doch ist es gerade dies, was die Menschen überall haben möchten. -
Jeder Mensch hat in sich einen herrschenden Mittelpunkt. Es gibt keinen menschlichen Charakter, dem ein solcher Mittelpunkt fehlte. Dieser Mittelpunkt ist maßgebend; der Wert aller anderen Dinge wird nach demselben bestimmt. Oft scheint dies Zentrum zu wechseln und sich zu ändern; aber schließlich ist es überall vorhanden. Dieser Mittelpunkt gibt dem Menschen seinen Charakter; nach ihm bestimmt es sich, ob derselbe hoch oder niedrig, gut oder böse ist. Durch den Charakter jedes Menschen lässt sich eine Art Äquator ziehen: alles, was unter dieser Linie liegt, ist Selbstsucht. Wenn nun das Zentrum des Charakters unter dieser Linie liegt, so ist sein Charakter ein selbstsüchtiger, gleichviel ob sich die Selbstsucht bei ihm in diesem oder jenem Stücke äußert. Liegt dagegen der herrschende und bewegende Punkt in dem Menschen über dieser Linie, so ist sein Charakter ein selbstloser, ein „geistlicher“; wir können einen solchen Menschen in die Reihe der wahrhaftigen Christen rechnen.
Hierbei müssen wir indessen bemerken, dass ein Mensch, dessen Wesen seinen Mittelpunkt über jener Linie der Selbstsucht hat, immerhin auch noch unter Einflüssen aus jener niederen Sphäre stehen wird. Seine edlen Antriebe, sein Wohlwollen werden immerhin noch vermischt sein mit selbstischen Trieben. Aus jenem Zentralprinzip seines Charakters folgt nicht, dass er niemals mehr stolz oder selbstsüchtig oder weltlich sein könne: aber jene Regungen des Stolzes oder der Selbstsucht oder des Weltsinnes sind eben untergeordneter, gelegentlicher Art. Sie sind der Grundrichtung seines Wesens entgegengesetzt. Sie stehen im Widerspruch mit seiner herrschenden Neigung. Sie werden allezeit von seiner eigentlichen Natur, von seinem geistlichen Wesen gerichtet. Er hat ein Ziel und ein Streben, in welchem er lebt, von diesem Streben und von diesem Ziele hat er ein klares Bewusstsein, und er darf Gott als denjenigen anrufen, der da weiß, dass sein innerster Lebenstrieb ein guter, reiner, geistlicher ist.
Andererseits kann ein Mensch einen Charakter haben, der seinen Mittelpunkt in der Selbstsucht hat, und dennoch können ihn außerhalb dieses Mittelpunktes tausend liebenswürdige Empfindungen und Tugenden umstrahlen, tausend Vorzüge, die aber den Mittelpunkt nicht ändern. Die Selbstsucht kann bei ihm im Zentrum wohnen, aber dasselbe ist verdeckt durch liebliche Weinranken, die sich darüber hinziehen. Andere und bessere Charakterzüge haben sich mit der Selbstsucht verbunden, aber die herrschende Macht hat deshalb nicht aufgehört zu sein, was sie war. Die Selbstsucht führt das Zepter ungestört, wenn es auch mit Blumen umwunden ist.
Ich beobachtete im vergangenen Sommer eine Spinne, die ihr Gewebe über eine Ritze im Zaun angebracht hatte, wohin der Wind den Straßenstaub wehte. Die Höhle, wo sie lauerte, war dunkel und schmutzig. Ein andermal bemerkte ich eine Spinne, die sich auf die soeben aufgebrochene Blüte eines „Morgensterns“ niedergelassen hatte, und ihre Fäden über diese prachtvolle Blume zog. In der ganzen Welt gab es keine reizendere Wohnung, keine Stätte die herrlicher mit Schönheit geschmückt gewesen wäre als diese. Aber schließlich war es dieselbe Spinne, gleichviel ob sie in der dunklen schmutzigen Ritze lag, oder im Kelch jener herrlichen Blume. Die Selbstsucht mag ihr Netz weben über die schmutzigen Höhlen, über die schauerlichen Abgründe des Menschenherzens oder über die Blüten der Anmut und der zarten Empfindungen, sie ist und bleibt Selbstsucht. Der Platz ist verändert, die Umgebungen sind verschieden, aber die Spinne wird darum keine andere.
Worauf es uns also ankommt, ist dies, dass in jedem Menschen ein Mittelpunkt ist, um den sich sein Leben bewegt. Es gibt einen Schwerpunkt bei jedem Menschen, und sein Wesen neigt entweder nach der einen oder nach der anderen Seite. Die Grundrichtung des Wesens neigt sich entweder nieder zum Fleisch hin, oder steigt aufwärts zum Geist. Man mag die äußeren Umstände im Leben ändern; man mag sie auf die eine oder andere Weise modifizieren, aber zuletzt ist doch immer eine herrschende Macht vorhanden, welche alle übrigen Kräfte regiert.
Wir haben jedoch ferner zu beachten, dass ein Mensch, dessen geistiges Zentrum in der Selbstsucht liegt, der dabei aber sich mit allerlei christlichen Gaben und Eigenschaften umhüllt, nicht so beurteilt werden darf, als ob alle jene Gaben und Eigenschaften gar nicht in Anschlag kämen. Hier liegt ein Punkt, der in der Predigt schwer zu behandeln ist. Wenn wir Leute sehen, die nach äußeren moralischen Regeln leben; wenn wir davon sprechen, dass diese Art von Moralität nicht ausreicht, so entsteht leicht der Schein, als ob wir die „Moral“ unterschätzten. Ich unterschätze diese Art von Moral so wenig, wie der Steuereinnehmer hundert Dollar unterschätzt, wenn ich zu ihm komme, um meine Steuern zu zahlen, und ihm diese Summe anbiete, während meine Steuerquote fünf hundert Dollar beträgt. Er wird sagen: „Ich nehme es nicht an, es ist nicht genug.“ Er unterschätzt und verachtet die hundert Dollar nicht, sondern er sagt einfach: „Sie müssen mehr geben.“ Ebenso wenig verachte ich die Moralität, wenn ich sage, sie reicht nicht hoch genug. Sie ist gut, so weit wie sie eben reicht. Ein Mensch kann außerordentlich selbstsüchtig Leben, alle seine Gedanken können Gedanken von dieser Welt sein; er kann leben für das, was seine Augen sehen und was sein Ohr hört, und was seinen Sinnen angenehm ist, und dennoch kann er gute Eigenschaften, schätzenswerte Züge in sich tragen. Er kann Poesie und Musik lieben, und edle Triebe besitzen, welche ihn zu einer höheren Stufe im Leben führen: aber alles in allem ist es doch nur eine verfeinerte Form von Selbstsucht, die in ihm lebt. Ich behaupte nicht, dass es nicht besser ist, wenn ein Mensch eine feine statt einer groben Selbstsucht hat. Es ist um vieles besser. Es erleichtert den geselligen Verkehr. Es macht den Menschen den Umgang unter einander bequemer. Wenn ein Mensch in der Selbstsucht lebt, aber er hat zugleich geistiges Streben, ein freundliches Wesen, feine Formen, so sage ich nicht, dass er um dieser Dinge willen nicht besser sei, als wenn er sie nicht hätte: als Mitglied der menschlichen Gesellschaft ist er um sehr viel besser. Er belebt die menschliche Gesellschaft. Er trägt bei zu den sozialen Elementen, welche aus der menschlichen Gesellschaft Rohheit und Härte und Kümmernis mancherlei Art entfernen. Aber er ist nicht an sich, nicht innerlich besser, denn nichts macht den Menschen innerlich besser als allein die Umwandlung in dem Zentrum seines Charakters. Je anziehender die Selbstsucht eines Menschen ist, je mehr Blumen sie schmücken, je freundlichere Klänge sie umschweben, je mehr Sonnenlicht über sie ausgebreitet ist, je mehr sie in leuchtenden Farben strahlt, desto besser ist es für die menschliche Gesellschaft, aber desto schlimmer ist es für den Menschen selbst, weil diese Dinge ihn über sich selbst täuschen, weil sie ihn selbstzufrieden machen; weil sie den Grundschaden verhüllen, weil sie nicht erkennen lassen, was für eine unverzeihliche und grundverderbliche Sache die Selbstsucht ist.
Die große Veränderung, die mit dem Menschen vor sich sich gehen muss, darf deshalb nicht in solcher äußeren Politur bestehen. Sie darf nicht darauf hinaus kommen, dass diese oder jene einzelne Tugend angeeignet wird. Diese Veränderung muss so beschaffen sein, wie Jesus Christus sie fordert.
Wie schön war das Leben Jesu! Wie freute er sich alles dessen, was im geselligen Leben schön und lieblich ist! Denkt an sein erstes Auftreten bei jenem Hochzeitsfest zu Cana in Galiläa, denkt an den innigen Verkehr mit den Brüdern und Schwestern zu Betanien. Wie war er doch so ganz ein Mensch unter Menschen! Aber wie entschieden lässt er das alles bei Seite, wenn er sagt: „Es sei denn, dass ein Mensch von Neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ „Wenn Ihr nicht umkehrt, und werdet wie die Kinder, so könnt Ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Es muss in dem Menschen eine fundamentale Veränderung geschehen. Wie sie beschaffen sein muss? Sie besteht nicht darin, dass man einiges wenige mehr tut, oder einige Vollkommenheiten noch zu den vorhandenen hinzufügt, wie der reiche Jüngling es tun wollte. „Guter Meister, was soll ich tun,“ d. h. was für eine neue Leistung soll ich ausführen? Was für ein neues Gebet soll ich sprechen? Welche neue Tugend soll ich üben? Welche neue Art von Wohltätigkeit soll ich meinen Mitmenschen erweisen? Ich werde mich freuen, zu dem Schatz meiner Vorzüge diesen neuen Vorzug hinzuzufügen! Das war der Sinn, den die Frage des jungen Mannes hatte. Aber der Meister antwortete ihm: „Dein ganzer Charakter beruht auf Deinen äußeren Verhältnissen. Du bist reich, Du hast große Besitzungen, und Du weißt es, Du hast in denselben den Mittelpunkt Deines Lebens. Nun willst Du von diesem Mittelpunkt aus noch verschiedene Vorzüge mehr Dir aneignen. Allein ich sage Dir: „gehe hin, verkaufe das alles, gib es weg, und nimm Dein Kreuz auf Dich und folge mir!“ Das brachte ihn sofort zur Entscheidung. Als er zwischen dem Höheren und Niederen zu wählen hatte, griff er nach dem Niederen und ging hinweg betrübt. Diese Wahl aber legt Christus überall den Menschen vor. Wollt Ihr wahre Christen werden, so verlangt das Christentum nicht etliche Tugenden, die auf der Grundlage der Selbstsucht aufgebaut werden. Es gilt eine Änderung dieser Lebensgrundlage selbst. Es gilt, von dem sinnlichen, von dem niederen, von dem vorherrschend selbstischen Leben, welches von Natur in uns ist, aufzusteigen zu einem höheren. Es gilt in das Königreich Gottes zu kommen, welches das Königreich der Liebe ist. Wohltätige, dienende Liebe, Liebe zu Anderen, nicht zu sich selbst, das muss die herrschende, tonangebende Richtung in Euch werden.
Es kann ein Jeder die Grundtendenz seines Lebens gar leicht selbst herausfinden, darauf kommt es aber nach der Lehre Jesu Christi zu unserem Heile vor allem an.
Lasst mich nun etwas näher erläutern, wie sich das Leben in dieser Beziehung nach beiden Seiten tatsächlich gestaltet.
Ich sehe, wie eine große Menge Menschen ein sinnliches Leben führt, wobei ich indessen nicht von den Irreligiösen, nicht von den offenbar Gottlosen, sondern von Solchen spreche, welche als achtbare, moralische, vortreffliche Menschen angesehen werden. Es gibt viele Menschen, welche mit sich selbst durchaus zufrieden sind, und welche hoffen, dass sie dermaleinst selig werden, und welche doch, wenn man genauer zusieht, im Grunde durchaus nur ein Leben in der Sinnlichkeit, ein Leben in sinnlichen Freuden führen. Es braucht dabei keine Sitte, kein äußeres Lebensgesetz verletzt zu werden. Es braucht das bei keine Unmäßigkeit im Essen und Trinken, Schlafen usw. vorzukommen: dennoch kann die Sinnlichkeit das Lebenszentrum eines Menschen bilden.
Ich kann mir einen Menschen denken, dessen Körperform tadellos ist, der sich einer vorzüglichen Gesundheit erfreut, der alle Freuden genießt, welche Auge, Ohr, Zunge darbieten, und welche aus jener Art von gesellschaftlichen Verbindungen entspringen, die nicht allzu tiefes Gefühl und nicht allzu viel Opfer erfordern. Ein solcher Mensch kann in dem Genuss aller dieser Dinge möglicherweise niemals höher aufsteigen als zu der Schönheit und Verfeinerung des äußeren Menschen, des „Fleisches,“ und zu den Annehmlichkeiten des leiblichen Lebens, so weit sie an sich rein und naturgemäß sind. Ich sehe Tausende von Menschen, welche lediglich in dieser Sphäre leben. Fragt man, in welcher Achtung Leute dieser Art bei der Welt stehen, so findet man, dass sie weder als Übeltäter noch als besonders gute Menschen angesehen werden; sie gelten als Lebemänner. Damit will man sagen, sind sind glückliche, vergnügte, umgängliche Leute. Sie sind vortrefflich dazu, um mit ihnen angeln zu gehen oder Landpartien zu machen. Sie lügen nicht, sie stehlen nicht, sie fluchen nicht, sie sind keine Trinker, keine Verschwender, sie sind nicht neidisch, nicht eifersüchtig, und so könnte man noch eine ganze Liste von negativen Eigenschaften von ihnen aufstellen. Wie tugendhaft müsste man sie nennen, wenn diese negativen Eigenschaften Tugenden wären! Aber, alles in Allem, der Preis ihres Lebens liegt lediglich in einer niederen Sphäre.
Wenn man glücklich ist nur in dem Bereich der Sinne, nur für den Tag, die Stunde, den Augenblick lebt, wenn unser Glück nur darin besteht, dass man alles um sich herum besitzt, was das Leben bequem und angenehm macht, dann lebt man in einem gar engen Bereiche von Glückseligkeit.
Ich habe bisher von dem Sinnenleben gesprochen, wie es in der achtungswertesten Gestalt auftritt. Ist aber diese Art Leben ungenügend, wie viel mehr fehlt demjenigen Leben, welches sich in gemeinen und herabwürdigenden Lüsten bewegt! Aber ich will bei der Spitze, bei der besten Form der Sinnlichkeit stehen bleiben, das ganze Leben dieser Art konzentriert sich in dem Streben, sich selbst wohl zu fühlen ohne Rücksicht auf die Zukunft, ohne Rücksicht auf den Ruf Gottes und auf den Ruf, den die ganze Menschheit an uns ergehen lässt, ohne eine höhere Vorstellung von Menschenwürde, ohne einen anderen Adel, als den, dass man eine klingende Saite ist, auf welcher gespielt wird. Jeder Sinn eines solchen Menschen gleicht einer Harfe, und alles, was der Mensch begehrt, ist nur, dass diese Harfen stets in süßen Melodien ertönen. Leicht zu leben, ist das Ideal solcher Leute. Sie gehen etwa zur Kirche, hören eine Kirchenmusik an und sagen: „Solche ernsten Sachen sind doch sehr schön. Ich lebe sehr glücklich, aber man soll deshalb nicht meinen, dass ich ohne Religion sei. Ich kann solche Orgelmusik und solche Predigten nicht hören, ohne die Bedeutsamkeit der Religion lebhaft zu empfinden.“ Aber das ändert nicht den Mittelpunkt ihres geistigen Lebens. Sie leben für ihr eigenes Selbst. Ich sage nicht, dass sie verbrecherisch oder lasterhaft oder tierisch dahinleben, ich behaupte nur, sie führen ein Leben der Selbstsucht. Christus aber sagt: „Es sei denn, dass ein Mensch von Neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“
Ich kenne eine ganze Menge Menschen, welche nach Reichtum gestrebt, rechtschaffen gestrebt haben. Sie haben ihn gewonnen, festgehalten, gebraucht, - und ich halte es für möglich, wie Jesus Christus seinen Jüngern dies gesagt hat, das auch ein Reicher in das Reich Gottes kommen kann, wenn Gott ihm hilft. „Bei Gott sind alle Dinge möglich,“ spricht der Herr. Aber erst dann, wenn ich sehe, dass an einem Menschen, welcher den gesellschaftlichen Pflichten, den Forderungen der Moral und allen schönen und gerechten Sitten entspricht, und welcher sich inmitten großer Güter und Besitztümer befindet, der göttliche Ruf ergeht, zwischen diesen Dingen und den wahrhaftigen geistlichen Gütern zu wählen; erst dann kann ich sagen, ob ein solcher Mensch noch in der niederen Sphäre, unterhalb jenem geistigen Äquator, in dem gewöhnlichen selbstischen Wesen, oder ob er in einer höheren Sphäre, oberhalb jener Linie lebt.
Zuweilen sagen die Leute: „Ich kümmere mich nicht um Reichtum und Geld. Mich zieht nur die Aufregung an, welche mit demselben verbunden ist. Reichtum ist der Schlüssel, welcher jede Tür öffnet; er ist eine Quelle der Macht, und ich verlange nach Macht.“ Ebenso sagt Mancher, der sich das Trinken angewöhnt hat: „Mir liegt an dem Branntwein gar Nichts; es ist nur die Aufregung, um die es mir zu tun ist.“ Im Allgemeinen, das muss man zugeben, ist es nicht der Glanz des Goldes selbst, den die Menschen lieben, sondern der Glanz, den das Gold über seinen Besitzer verbreitet. Nur dann und wann liebt einer das Gold um des Goldes willen. Wenn wir von der Liebe zum Gold reden, so verstehen wir dabei die Liebe zu dem, was das Gold uns verschafft, was es uns zur Befriedigung unseres Stolzes, unserer Eitelkeit, unserer Sinnlichkeit zu leisten vermag.
Wenn jemand Reichtum besitzt, und er wendet ihn an, wie man auch jede geistige Kraft anzuwenden hat, nämlich zum Dienst Gottes, weil er selbst ein Mensch Gottes ist; wendet z. B. ein Künstler die ganze Kraft seines Genies gewissenhaft an, nicht zur eigenen Verherrlichung, sondern zu Erreichung der höchsten Ziel: dann ist nicht bloß der Mensch selbst auf dem Weg zum Heile und zum Reich Gottes, sondern auch sein Reichtum wird ein mächtiges Mittel des Guten und eine Kraft im Dienst Gottes. Besitzt aber jemand Reichtum, und sein Ehrgeiz, sein Stolz, sein Leben beruht auf demselben, dann ist dieser sein Zentrum, und wer diesen antastet, der tastet den Menschen in seinem innersten Mark an.
Man kann jemandem seine Hand abnehmen, und er bleibt leben; man kann seinen Arm bis zur Schulter abnehmen, und er lebt weiter; man kann ihn noch mehr verstümmeln, und er lebt dennoch; aber es gibt einen Punkt, den man nicht berühren darf, ohne dass der Tod eintritt. So kann man in dem geistigen Wesen eines Menschen dies und das antasten, ohne ihn wesentlich zu verlegen: aber schließlich kommt ein Punkt, den man nicht berühren darf, ohne das Zentrum seines Daseins zu verlegen. Tausende von Menschen leben moralisch, achtbar, gut in gar vieler Beziehung: aber es kommt nicht dazu, dass ihr Leben seinen Mittelpunkt in Gott und in geistlichen Dingen findet. Er hat seinen Mittelpunkt vielmehr im irdischen Besitz. Dort liegt ihre Kraft und Stärke. Das ist der Brennpunkt, in welchem alle ihre Lebensgeister zusammen kommen. Nimmt man ihnen ihren irdischen Besitz, so behalten sie Nichts. Der Besitz von Geld und Gut macht sie nicht zu Sündern; sie mögen vieles Gute an sich haben, wenn man den gewöhnlichen Maßstab menschlichen Urteils anlegt: aber vor Gott und im Hinblick auf die Frage, wie der Charakter des Menschen beschaffen sein soll, muss ich sagen: „Wenn das ganze geistige Leben eines Menschen sich in seinem irdischen Besitz konzentriert, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Er muss von Neuem geboren werden, er muss zu einem höheren Leben, zu einem neuen Lebensmittelpunkte kommen, oder er kann nicht selig werden.“
Das ist eine sehr ernste Wahrheit. Wenn so manche junge Männer ihre Hand nach dem Reichtum ausstrecken; wenn sie Pläne machen, wie sie zu Vermögen kommen wollen; wenn so manche junge Männer nach diesem glänzenden, blitzenden, goldenen Zentrum verlangen: so ist es eine sehr ernste Wahrheit, dass man bei aller Rechtschaffenheit, deren man sich beim Erwerb befleißigt, dennoch seine Seele verlieren kann, einfach deshalb, weil der Reichtum das Zentrum des Lebens geworden ist. Es heißt nicht, dass der reiche Jüngling in unserem Text von seinem Besitze einen schlechten Gebrauch gemacht hat, - er hat ohne Zweifel einen ganz löblichen, achtungswerten Gebrauch von demselben gemacht. Der Punkt, auf den es ankommt, ist, dass Gott verlangt, das Zentrum des Lebens soll geistlicher Art sein, und nicht unten in der niederen Sphäre der Sinnlichkeit, des Fleisches liegen.
Was ich hier in Bezug auf die Liebe zum Geld gesagt habe, gilt in gleicher Weise von dem, was wir Selbstvergötterung nennen können. Stolz und Selbstbewusstsein und selbstisches Wesen ist nicht bloß im Gebiete der Sinnlichkeit: zu suchen. Sie sind ebenso sehr der Fluch des intellektuellen. Lebens. Selbstsucht in geistigen Gaben ist unter Poeten und Künstlern nicht allein eine höchst verwerfliche, sondern leider auch eine höchst allgemeine Sache. Reiche Leute verhalten sich in Bezug auf ihren Reichtum nicht mit größerer Selbstsucht als geistig begabte Menschen in Bezug auf ihre Geistesgaben. Wie oft suchen sie ihre ganze Lebensfreude in der Befriedigung ihres Ehrgeizes! Wie oft setzen sie alles an den Beifall der Welt, an die Bewunderung, die sie zu gewinnen trachten! Ihre Schätze von Gelehrsamkeit, ihre Beredsamkeit, ihr poetisches Talent, ihre Dialektik, - alles das sind Dinge, von denen ihre Selbstsucht lebt, nur dass sie den höheren Kräften des menschlichen Geistes angehören. Wenn man hier noch einen Unterschied machen will, so gelten die furchtbaren Drohungen, welche der Herr gegen jede Art von Selbstsucht richtet, nur um so mehr, je höher die Gaben sind, die jemand empfangen hat. So rein jemand lebt, so sicher er auf sein Heil rechnet, weil er den niederen Lüsten und Neigungen nicht nachgegeben hat, so gewiss ist es doch, dass so lange er in den göttlichen Dingen nicht sein Lebenszentrum gefunden hat, er von Neuem geboren werden muss, wenn er in das Reich Gottes kommen will.
Und nun frage ich Euch: habe ich klar gemacht, warum Christus so und nicht anders gesprochen als wie er es getan? Versteht Ihr nun, was er meinte, wenn er sagte, dass jeder Mensch eine Änderung in sich selbst erfahren muss? Begreift Ihr, dass dies nicht heißen soll, dass jeder Mensch notwendigerweise von Natur ein Elender, ein Lasterhafter ist, nach menschlichen Begriffen? Versteht Ihr es, dass ein Mensch leben kann, geschmückt mit mancherlei Schönem, mancherlei Tugenden, mancherlei guten Eigenschaften, mancherlei bemerkenswerten Vorzügen, und dass er dennoch in höchstem Maße selbstisch und weltlich sein kann? Erkennt Ihr, dass ein Mensch das ganze Reich des Schönen, Reinen, Wahren durchforschen und aus demselben sich ganze Ladungen von Blüten und Blumen aller Art einheimsen kann, um das selbstische Haus seiner Seele zu verschönern und zu schmücken, und dass er dennoch keine Hoffnung auf Heil hat, es sei denn, dass er durch die Kraft des Heiligen Geistes und in der Nachfolge Christi sein Lebenszentrum ändere, dass er es aus dem Reich der Selbstsucht verlege in das Reich wahrhaftiger Güte? Diese Veränderung muss jeder in sich erleben, der Niedrigste wie der Höchste. Bei Manchen sieht man deutlicher als bei Anderen, wie nötig dies sei; aber not tut es Allen, und Alle müssen sterben, bei denen diese Veränderung nicht eintritt. Sie ist der Reisepass in das himmlische Land. Ohne sie ist der Eintritt dort nicht gestattet. Die Linie, von der ich gesprochen habe, geht als eine Scheidelinie durch das ganze Universum. Oberhalb leben die, welche in wahrhaftiger, umfassender Güte und Hingebung für Andere leben, und unterhalb sind die, welche ein Leben der Selbstsucht führen. Und auf beiden Seiten geht es im Stufengang aufwärts oder abwärts. Die welche oben sind, steigen aufwärts zu immer größerer Güte, zu immer vollkommeneren Formen von Selbstverleugnung, und gewinnen Kraft, immer lichter und strahlender und stärker und seliger zu werden, und mit immer reicheren und beseligenderen Gaben Anderen zu dienen.
Das sind die Dinge, über welche Freude ist im Himmel. Man kommt dahin nicht durch große Gestalt oder hohe Gaben, oder irgend etwas anderes, was sich messen und wägen lässt. Es ist das reine, wahre, neue Herz mit seiner wunderbaren Macht, es sind die unaussprechlichen Wirkungen, deren ein vom Feuer der Liebe erfülltes Herz fähig ist, was die Menschen zu Fürsten und Thronen und Gewalten, zu Engeln und Erzengeln in dem himmlischen Reich macht.
In unserer Versammlung befinden sich Viele, welche den Ernst dieser Gedanken gefühlt haben. Wenn man nach einem Nachtregen am Morgen ausgeht, so kann man an keinen Busch oder Baum anstreifen, ohne dass ein Regenschauer auf uns niederfällt. Ich meine, diese Kirche ist gleich einem solchen Baume, dessen Zweige vom Tau der Frühe bedeckt sind. Wenn Ihr ihn berührt, so fallen die Tropfen auf Euch nieder. Ich sehe, wie die göttlichen Wahrheiten Viele von Euch jeden Sonntag bis zu Tränen rühren. Ich weiß, dass Ihr dem Gottesdienst, den Gebeten, den Gesängen, der Predigt folgt, und dass Ihr Eure Luft daran habt. Es fehlt Euch nicht an religiösen Empfindungen, es fehlt auch nicht an geistlichen: Gedanken bei Euch. Diese Bänke sind besetzt mit jungen Männern und Frauen, die alle zu Christo kommen und fragen: „Meister, was soll ich Gutes tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ Aber Christus sagt zu Jedem unter Euch heute durch meinen Mund: Ihr sollt nicht eine gute Tat zu anderen hinzufügen, sondern was Euch Not tut, ist, dass Ihr von dem Zentrum der Selbstsucht aufsteigt und übergeht zu dem Lebenszentrum wahrhaftiger, göttlicher Güte, durch die Kraft des Heiligen Geistes, ohne die kein Mensch zu dem höheren Leben gelangen kann.
Ihr müsst ein neues Herz erlangen (denn das ist's, wovon ich rede), einen neuen Lebensgrund und Lebensquell, so dass alle Eure Antriebe, Vorsätze, Bestrebungen von dieser höheren Quelle ausgehen, einen neuen Maßstab, neue Grundsätze, neue Forderungen für Euer Leben. „Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur, das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden!“ Das ist die Lehre, die frohe Botschaft des heutigen Tages. O seliges Licht, o wunderbare Freiheit!
„Ihr müsst von Neuem geboren werden!“ Ich meine, wenn Ihr nur wüsstet, was es um dieses höhere Leben ist, was es wirkt, welche Freuden es gibt, wie süß der Weg dahin und wie selig das Ziel, dann hätte ich nicht nötig zu sagen: Ihr müsst von Neuem geboren werden. Ihr selbst würdet die Hände emporstrecken und mit bebenden Lippen rufen: „Können wir nicht zu dieser neuen Geburt kommen? Wird uns nicht auch diese Lebenskrone zu Teil werden?
Es ist der seligste Ruf, der nur immer ergehen kann. Es ist die Befreiung von dem trüben, dumpfen Tierleben, dem jeder in dieser Sphäre der Sterblichkeit zunächst angehört. Wir sind vom Staub geboren, wachsen heran auf dem Weg natürlicher Entwicklungen, steigen auf zu der Linie des animalischen Lebens, überschreiten auch diese und steigen höher: und siehe, hier ist der Punkt, wo der Übergang geschehen muss in ein anderes Reich, zu einer höheren Schöpfung. Wir müssen durch den heiligen Geist befreit, verändert, erhoben werden, um diesem anderen Reich anzugehören. Dann werden wir Kinder, Söhne Gottes, und sind nicht länger Gäste und Fremdlinge und Pilgrime, fern von der Gemeinde Israel, sondern sind zur Heimat gekommen durch die Macht der Liebe, geleitet von dem heiligen Geist, geführt von dem Licht der Wahrheit von den alten Irrwegen hinweg zu dem rechten Wege, da wir leben für die Liebe und für die wahrhaftige Güte. Dieser selige Ruf aber ergeht an einen Jeglichen unter uns.
Viele von Euch meinen, dass sie Christen seien. Ich glaube auch, dass Manche von Euch es wirklich sind, wenngleich in Schwachheit. Aber ich fürchte, dass Viele von Euch es noch nicht sind. Seid Ihr Christen, weil Ihr in Eurer Kindheit die heilige Taufe empfangen habt? Die innere Umgestaltung, von der wir gesprochen, geschieht nicht in Kraft des Wassers, sondern in Kraft des Geistes. Seid Ihr Christen, weil Ihr heilige Tage und kirchliche Ordnungen beobachtet? Diese Dinge sollt Ihr nicht vernachlässigen, aber habt Ihr damit das neue Leben des Heils gewonnen? Seid Ihr Christen, weil Ihr rechtgläubig seid, und am Katechismus und am Glaubensbekenntnis festhaltet? Nein, Glaubensbekenntnisse und Katechismen sind einfach Erziehungsmittel. Sie sind Elementarbücher, durch welche Gott Euch lehren will, wie Ihr zu dem höheren und edleren Leben gelangen sollt. Welches ist der Lebenspunkt in Euch? Welches die regierende Macht? Welches der Mittelpunkt Eures Lebens und Charakters?
Wäre es nicht wohlgetan für jeden von Euch, christliche Brüder, heimzugehen und diese einfache Frage in Eurem Herzen zu bewegen: Wo liegt der Mittelpunkt meines Lebens? Wo ruhen meine Wurzeln? Was bin ich? Bin ich ganz und gar auf Gott und auf die Ewigkeit und auf die Welt des Geistes Gottes gerichtet, oder lebe ich für die Sinne und für diese Welt? Es ist eine ernste, dringende, es ist eine unendlich heilsame Frage, die ich Euch an das Herz lege.
Zu denen unter Euch, welche der christlichen Gemeinde noch nicht angehören, wie zu denen, welche bereits Glieder derselben sind, sage ich: „Es sei denn, dass Ihr umkehrt und werdet wie die Kinder, so könnt Ihr nicht in das Himmelreich kommen.“
Ihr müsst von Neuem geboren werden. Ihr müsst geboren werden aus dem Wasser und Geist. Keiner ist hier gegenwärtig, der besser wäre, als Nikodemus war, und dennoch gerade zu ihm sagte der Herr sein: „Ihr müsst von Neuem geboren werden.“
Möge Euch Gott durch die Kraft seines Heiligen Geistes diese Frage wichtig machen. Ihr, die Ihr verlangend nach einem Leben in Gott blickt, die Ihr hofft, dass Ihr einst in die selige Gemeinde Jesu eingehen werdet, möge Gott Euren Blick auf Jesum selbst lenken, um das Geheimnis seines Lebens zu erkennen, und die verborgene Herrlichkeit seiner Selbsterniedrigung zu verstehen, in welcher er sich herabließ zu den schwachen und sündigen Menschen, um sie durch die Kraft seines eigenen Wesens zu erlösen. Möge Gott Euch denselben Sinn der Selbstverleugnung verleihen, und Euch das Geheimnis verstehen lehren, die Seligkeit zu finden nicht in dem was Ihr nehmt, sondern in dem, was Ihr gebt. Möge Gott durch die Kraft solcher Selbstverleugnung jene Geburt zum Leben, zur Wahrheit und Heiligkeit in Euch wirken, die Euch machen wird zu wahrhaftigen Kindern Gottes.