Baumgarten, Michael - Die Schlange im Heiligtum
Apg. 5,1-11
Das Gefühl der Brüderlichkeit war in der durch Christum gegründeten und durch den Heiligen Geist geoffenbarten neuen Menschheit so stark, daß die Vermögenden die in der Gemeinde vorhandene und offenbare Vermögensungleichheit nicht ertragen konnten. Sie entäußerten sich daher ihrer Güter und Häuser und übergaben das aus denselben Gelöste den Aposteln, nicht um den Bedürftigen ein Almosen zu verabreichen, sondern um aus dem Schatz der allgemeinen Liebe ein volles Maß mitzuteilen. Unsere Geschichte hebt ein solches Beispiel hervor; ein Israelit levitischen Stammes aus Cypern lebte in Jerusalem und wurde von den Aposteln besonders wegen seiner erbaulichen Redegabe sehr geschätzt. Dieser Mann, der uns auch sonst aus der Geschichte des Paulus bekannt ist, besaß einen Acker, denselben verkaufte er und brachte den Erlös und legte ihn den Aposteln zu Füßen (Apg. 4,36).Diese wundersame, den Tagen des ersten Christentums entsprechende Liebestätigkeit vollzog sich in den öffentlichen Versammlungen der Gemeinde, und weil sie durchaus unbefangen und kindlich war, war die Öffentlichkeit keine Schädigung ihrer Reinheit. Aber selbst in diesem heiligen Kreise gewinnt der Schlangensame Raum. Je größer die Entsagung war, welche sich die Vermögenden auferlegten, desto höher ward sie geschätzt und in der Gemeinde anerkannt und geehrt, und es war Selbstverstand, daß solche, welche in dieser Angelegenheit sich kärglich erwiesen, in der Achtung der christlichen Gemeinde zurückstehen mußten. Christliche Gesinnung und Betätigung ist in dieser Erstlingsgemeinde so alles andere überbietend, daß, wer auf Ehre hält, sich nach diesem Maßstab einrichten muß. Nun ist aber die angeborne Verderbtheit unsers Geschlechts so groß, daß wo wir einen Haufen Menschen sehen, und wäre derselbe auch wie der Berg Sinai mit einem Gehege heiliger Abwehr umgeben, wir nicht umhin können, anzunehmen, daß auch solche darunter sind, in denen das Gift des Bösen sein Werk hat.
Nun gab es in der Christengemeinde zu Jerusalem ein Ehepaar, welches ganz und gar darin eines Sinnes war, daß sie zwar trachteten nach einer Ehrenstufe in der Gemeinde, aber nicht willens waren, das Maß von Entsagung sich aufzulegen, welches der von ihnen begehrten Ehrenstufe nach der Schätzung der Gemeinde entsprach. Es war ihnen so sehr um die Ehre des Menschen zu tun, daß sie die Ehre Gottes, die nicht nach dem Schein, sondern nach der Wahrheit richtet, nichts achten (Joh. 12,43). Ananias und Sapphira besitzen einen Acker, sie wollen mit denen, welche aus Liebe für die Unvermögenden große Opfer bringen, in Reih und Glied stehen. Sie verkaufen ihren Acker, aber anstatt wie die andern tun, den ganzen Erlös herzubringen, überliefern sie nur einen Teil des Erlöses und zwar hat ihre Verabredung genau den Teil bestimmt, den sie daran wenden wollen, um das Übrige für sich zu behalten. Es wird ihnen gesagt, und ohne Zweifel ist es ihnen auch anderweitig bekannt, daß es ihnen völlig frei stand, welchen Teil des Erlöses sie etwa für sich behalten wollten. Nun geht aber die Absicht und die Vereinbarung dieses unseligen Ehepaares dahin, in der Versammlung nur einen bestimmten Teil des Erlöses abzugeben, aber mit dem Vorgeben, daß dieser Teil das Ganze sei. Es liegt also eine förmliche Verabredung dieser beiden Menschen vor, daß sie in der Gemeinde um ein Erhebliches liebetätiger erscheinen wollen, als sie, wie sie selber wissen, es sind.
Petrus durchschaut die Lüge dieses Ehepaares, entweder hat er auf irgend eine Weise Kunde erhalten von dem hier gespielten Betrug, oder eine außerordentliche Gabe der Geistesprüfung hat dem Apostel über dieses entsetzliche Heuchelwerk in der Erstlingsgemeinde Aufschluß gegeben. Ein heiliger Eifer entbrennt in Petrus, und mit dem stärksten Ausdruck der Entrüstung bezeichnet er das Werk der Bosheit, das sich hier vollenden will. „Warum hat der Satan euer Herz erfüllt, den Heiligen Geist zu belügen, denn nicht Menschen, sondern Gott habt ihr belogen.“ Wie kommt Petrus dazu, zu behaupten, daß Ananias nicht Menschen, sondern Gott oder den Heiligen Geist belogen habe? Die Versammlung der Erstlingsgemeinde erscheint hier in dem hellen Licht ihrer ursprünglichen Reinheit. Alles, was man hier sieht und hört, bringt den Eindruck hervor: hier ist gegenwärtig der Heilige Geist und Gott selber, und die Menschen erscheinen nicht in ihrer alten Natur, sondern in der Neuheit der wiedergebornen Menschheit. Das was Paulus von einer besonders erregten Christenversammlung sagt, daß ein Heide betroffen von der Heiligkeit einer solchen Versammlung aussprechen mußte: wahrlich unter euch ist Gott (1. Kor. 14,25), das ist hier in dieser Erstlingsgemeinde die tägliche Erfahrung. Wie entsetzlich, daß dieses Ehepaar in solcher Versammlung den frivolen Mut hat, zu lügen. Diese boshafte Verstockung erweckt in Petrus die Erinnerung an die Schlange im Paradiese, ja, er schaut in dieser Bosheit das Werk des Lügners von Anfang, das das Herz eines christlichen Ehepaares gefangen genommen und erfüllt hat. Es ist das Werk und das Verdienst Christi, daß die Schlange im Heiligtum hier eine andere Wendung in der Menschheit bewirkt, als im Anfang der ersten Menschheit. Hier zeigt sich, daß die neue Menschheit Organ und Werkzeug Gottes und des Heiligen Geistes geworden ist und damit den ganzen richtenden und verdammenden Fluch wider die offenbare Lüge vollzieht.
Petrus ist der Sprecher dieser Versammlung und vollzieht in dieser Eigenschaft das Strafgericht über die beiden offenbaren verstockten Heuchler, indem er durch Aussprechen des Urteils über Ananias und Sapphira zugleich die Strafe vollzieht. Man hat sich gewundert und auch Anstoß daran genommen, daß das Aussprechen des Urteils tödliche Wirkung hat. Man muß sich vergegenwärtigen, daß in der neuen christlichen Menschheit durch das schöpferische Geistesleben auch das Seelenleben gehoben ist, und daß diese Steigerung des natürlichen Seelenlebens auch in denen stattfindet, in denen das Geistesleben nicht persönlich geworden ist, und in diesen ist der Gemeingeist ein Ersatz für die persönliche Einwohnung des Geistes. Wird nun solchen, deren natürliches Leben nicht durch persönliches Geistesleben, sondern nur durch den Gemeingeist gehoben ist, alle Teilnahme an dem Gemeingeist abgesprochen, werden sie aus dem Gemeingeist herausgesetzt, werden sie in den Bann getan, dann wird auch ihr natürliches Leben notwendig in Mitleidenschaft gezogen. Paulus beschreibt das natürliche Leben eines Gebannten als Verderben des Fleisches (1. Kor. 5,5) oder als Züchtigung in dem Reich des Fürsten der Welt (1. Tim. 1,20). Freilich tödlich wirkt das Gemeindegericht über den hartnäckigen Sünder sonst nicht, aber wir dürfen nicht vergessen, an welchem Ort und zu welcher Zeit das, was hier berichtet wird, geschehen ist. In Berücksichtigung von Zeit und Ort können wir das freudige Gemeingefühl dieser Erstlingsgemeinde, wie dasselbe Apg. 2, 16 beschrieben wird, nicht kräftig und hoch genug uns denken. An demselben haben nun Ananias und Sapphira trotz ihrer inneren Unlauterkeit reichen Anteil. Wenn sie nun das strafende Wort des Petrus, dem die ganze Versammlung innerlich beistimmt, vernehmen, das wie ein Schwert sie abschneidet von der auch ihnen abgeleiteter Weise zum Bewußtsein gekommenen Seligkeit, sollen wir uns wundern, daß dieses Schwert ihr Seelenleben tödlich trifft?
Wir sehen hier, Adams Kinder sind auch in der Nähe und Gemeinschaft mit dem Heiligtum nicht geschützt vor dem Bösen, im Gegenteil, es kann sich in ihnen eben in der Berührung mit dem Heiligen das Böse um so intensiver, ja bis zur satanischen Lüge entwickeln. Darin aber offenbart sich die Heiligkeit der Gemeinde, daß sobald das Böse in dem Heiligtum sich vollendet, die dem Grad des Bösen entsprechende Gegenwirkung entsteht und das Böse nicht durch äußere Mittel, sondern durch die der Gemeinde innewohnende Kraft des Wortes ausscheidet. Die Reformatoren stimmen mit unsrer Geschichte überein, indem sie lehren, daß die das Böse ausschließende Macht nicht auf menschlichem Vermögen oder körperlicher Kraftwirkung ruhe, sondern lediglich auf dem Worte. Die Geschichte von Ananias und Sapphira offenbart die innere Widerstands- und Ausscheidungskraft der Gemeinde Christi gegen die Schlange im Heiligtum, und es ist biblische Lehre, daß das Wesentliche dieses Reinigungsprozesses für alle Zeiten der Gemeinde maßgebend sein soll.
Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1912