Arndt, Friedrich - Die sieben Worte Christi am Kreuz – 5. Predigt.
Herr Jesu Christ, Dein theures Blut ist meiner Seele höchstes Gut; das stärkt, das labt, das macht allein das Herz von allen Sünden rein. Dein Blut, mein Schmuck, mein Ehrenkleid; Dein Unschuld und Gerechtigkeit macht, daß ich kann vor Gott besteh'n und zu der Himmelsfreud eingehn! O Jesu Christe, Gottes Sohn! mein Trost, mein Heil, mein Gnadenthron, Dein theures Blut, Dein Lebenssaft giebt mir stets neue Lebenskraft. Herr Jesu, in der letzten Noth, wenn mich schreckt Teufel, Höll und Tod, so laß ja dies mein Labsal sein: Dein Blut macht mich von Sünden rein. Amen.
Text: Joh. XIX., V. 28. 29.
Darnach, als Jesus wußte, daß schon alles vollbracht war, daß die Schrift erfüllet würde, spricht er: Mich dürstet. Da stund ein Gefäß voll Essig. Sie aber tränkten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Stecken und hielten es ihm dar zum Munde.
Es ist dies das kürzeste unter allen Worten des Herrn am Kreuze; in seiner Kürze ist es jedoch nicht minder inhaltschwer, als die früheren. Laßt uns sehen, was es alles umschließt, und wie hinter der nächsten leiblichen Bedeutung desselben noch eine tiefere geistige Bedeutung verborgen liegt. Laßt uns dem Texte gemäß, betrachten 1) den Durst Jesu am Kreuze, und 2) seine Stillung.
I.
Es war gewiß kein Wunder, daß der Durst endlich den Herrn zu quälen anfing und so brennend wurde, daß er sein Bedürfniß den Kriegsknechten klagen und sie um Befriedigung desselben anrufen mußte. Ein und zwanzig Stunden waren schon ohne die mindeste Labung seit dem Genüsse des Osterlammes verflossen, und was Jesus seitdem Unsägliches gelitten, war durchaus geeignet gewesen, dieses Bedürfniß zu wecken und zu beleben. Denken wir zurück an Gethsemane's angstvolle Nacht mit ihrem Ringen, Beten und Angstschweiß, der in blutigen Tropfen die Erde benetzte; denken wir an den herzzerreißenden Abschied von den Seinen in den Stunden unmittelbar vorher, und an die Verhöre, die Verdammungsurtheile, die Geißelungen, unter denen er den Morgen zugebracht, an das schwere Kreuz, das er nach Golgatha getragen, und unter dessen Last er ohnmächtig erlegen; denken Wir endlich daran, daß er zuletzt sechs Stunden am Kreuze zwischen Erde und Himmel schwebend, aus Händen und Füßen blutend, von Fieberschauern gefoltert, und unter einem Himmelsstrich, der viel heißer ist als der unsrige, den brennenden Sonnenstrahlen in den Mittagsstunden ausgesetzt, ermattet, erschöpft von allen Mißhandlungen und Schmerzen, so wie vom Blutverlust da gehangen, ohne daß irgend ein Labsal ihn erquickt hatte: was war natürlicher, als dieser Durst? - Gesteigert mußte er aber noch insbesondere dadurch werden, daß zu den äußern Qualen des leiblichen Todes, welche sein Gebein durchschauerten, nun noch Seelenqualen ohne Zahl seine letzten, sinkenden Kräfte in Anspruch nahmen. Wie sehr hatte schon die in der Nacht überstandene Angst in Gethsemane ihn aufreiben müssen, die so groß war, daß ein Engel vom Himmel kam, um ihn zu stärken! Wie noch viel furchtbarer und verzehrender mußte der dreistündige Zustand der Verlassenheit von Gott am Kreuze sein, den er so eben überstanden hatte! Ach, da mußte ja buchstäblich an ihm sich erfüllen die prophetische Schilderung: „Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich zertrennet; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs. Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Junge klebet an meinem Gaumen; und Du legest mich in des Todes Staub“ (Ps. 22; 15, 16). - Es ist überdies eine alte Erfahrung, daß Sterbende oft in ihrem Todeskampfe von einem heftigen Durste gequält werden: um wie viel mehr mußte dies aber der Fall sein bei dem langsamen, martervollen Tode und der stundenlangen Verblutung und der brennenden Fiebergluth, die der Herr erduldete! Es sagen die Männer, welche der menschenfreundlichen Kunst, Kranke zu heilen, ihr Leben widmen, aus, daß die Kranken nichts mehr foltere, als der Durst, dieses Zeichen gänzlicher Ermattung und Kraftlosigkeit: um wie viel brennender mußte aber dieser Durst von Christo empfunden werden, dessen Leib und Seele bis zur Erschöpfung von den brennendsten Schmerzen durchwühlt war. - Erwägen wir endlich, daß es hier kein gewöhnlicher Mensch, kein gewöhnlicher Kranker und Sterbender ist, der den letzten Augenblick des Fiebers und der Angst nach Erquickung lechzet; sondern daß es der ist, der die Quellen des ewigen Lebens und lebendiges Wasser hat, der vor drei Jahren Wasser in Wein verwandelt und Fünftausende mit fünf Broden und zween Fischen gespeiset, der alle Durstigen zu sich rief, auf daß sie nimmer wieder dürsteten, dem alle Quellen und Brunnen, alle Ströme und Meere der Erde zu Gebote stehen, und der noch vor wenigen Stunden den Durst seiner Jünger gestillt hat im Genuß des heiligen Abendmahls, und daß eben dieser Jesus, dem Himmel und Erde gehört, jetzt der Allerverachtetste und Unwertheste ist, voller Schmerzen und Krankheit, und so verlassen und arm, daß er auch nicht einen Tropfen kalten Wassers hat, zu stillen den heißen Durst seiner lechzenden Junge: o wo wäre da noch ein Leidenskelch auf Erden, den er nicht bis auf die Hefen geleert hätte? Wer wollte, wer könnte da nun noch trostlos klagen über zeitliches Ungemach und über irdisch-vergänglichen Schmerz, so lange er ausschaut auf Jesum, den Anfänger und Vollender unseres Glaubens, den Dulder ohne gleichen, der in allen Schmerzen uns gleich geworden ist, der beides gefühlt hat, Hunger in der Wüste und Durst am Kreuze, und der nun weiß, wie den Seinen zu Muthe ist und Mitleid hat mit ihrer Schwachheit? Wie er von seinem Gott drei lange Stunden verlassen sich fühlte, auf daß wir nimmer von ihm möchten verlassen werden: st hat er auch für uns gerufen: „Mich dürstet“, damit wir nicht verschmachten sollten in unseres Todes Leiden und im Gerichte vor ihm.
Es war nun etwas Gewöhnliches, den zum Kreuzestode Verurtheilten kurz vor ihrer Hinrichtung ein Getränk darzureichen, das, mit Bitterstoff gefüllt, nicht nur ihren Durst stillen, sondern auch ihre Sinne betäuben und die Schmerzen dadurch weniger empfindlich machen sollte. Diesen Myrtentrank hatten daher am Anfange der Kreuzigung die römischen Soldaten dem Herrn, wie den beiden Uebelthätern zu seiner Seite, angeboten. Jesus aber, „da er es kostete, wollte er es nicht nehmen.“ Er zog es lieber vor, den brennenden Durst seines Körpers noch länger zu bezwingen und die schmerzliche Entbehrung der notwendigen Erquickung still zu ertragen, als in einem bewußtlosen und betäubten Zustande dem Tode entgegen zu gehen; in voller Besinnung wollte er sterben; in voller Besinnung noch diejenigen erquicken, die seines Trostes und Segens bedurften; in voller Besinnung den letzten Kampf mit dem ewigen Tode bestehen, und dann im Gebet und im Aufblick zu Gott seine Seele in des Vaters Hände befehlen. Jetzt aber, nachdem er wußte, daß Alles vollbracht war, Alles an ihm vollzogen und geschehen war, was nach der ewig-weisen Veranstaltung des Vaters an ihm geschehen sollte, und nur Eins an dem noch fehlte, was im alten Testament vom sterbenden Messias geweissagt war, damit die Schrift erfüllet würde, vollendete er dies Eine auch noch, rief: „Mich dürstet“, und dann sprach er: Nun ist Alles vollendet, es ist vollbracht! Wie, Geliebte? müßt Ihr nicht bewundern diese Herrschaft, welche sein Geist über den Leib ausübte? nicht bewundern diese Erhabenheit und Größe, die stundenlang im Todeskampfe eine Erquickung zurückweisen konnte, welche seine sinnliche Natur mit Ungestüm verlangte, weil er lieber den heftigsten körperlichen Schmerz ertragen, als ohne Klarheit des Geistes sterben, lieber den empfindlichsten Mangel aus der Acht lassen wollte, um nur die Schrift nicht unerfüllt zu lassen und den Rathschluß Gottes zur Erlösung der Welt zu vollenden? Wie elend erscheinen wir ihm gegenüber, die wir uns so leicht durch einen körperlichen Schmerz oder eine geringe Unpäßlichkeit überwältigen lassen, daß wir darüber im höchsten Grade verstimmt und den Unsrigen eine recht große Last werden, daß wir darüber sogar Gott vergessen und die Kirche versäumen und den Sonntag entweihen und unsere arme Seele verderben! die wir so oft dem Vergnügen und Genüsse die Arbeit und Berufspflicht hintansetzen, durch Unmäßigkeit im Essen und Trinken Leib und Seele beschweren, so daß wir unfähig werden, am späten Abend oder in der Mitternacht unser Gemüth zu sammeln und mit frommen, heiligen Gedanken uns zur Ruhe zu begeben; oder die wir gar - ja, es sei Gott laut geklagt! - selbst in dieser wehmüthig ernsten Passionszeit in völlig unkirchlichem Sinne, in geräuschvollen Vergnügungen die halbe Nacht durchschwärmen, und dadurch nicht nur jedem frommen, kirchlichen Gemüthe großes Aergerniß bereiten, sondern auch unsere eigne Seele so zerstreuen, daß Tage dazu gehören, ehe wir wieder zu uns kommen! O Herr, Herr, blutiger Versöhner, wenn die Versuchungsstunde wieder naht, und wir daran sind, zu straucheln und zu fallen, wenn der Lustbecher unsere Augen blendet und das Weltgeräusch unsere Ohren betäubt, oder ein geringes irdisches Leiden uns ungeduldig, mißmuthig, lieblos macht: dann erscheine vor unseren Geistesaugen in Deiner Jammergestalt am schmachvollen Kreuze, dann rufe es uns ins Ohr, rufe es uns in die Seele hinein, daß es schneide durch Mark und Bein, rufe uns dann zu Dein wehmüthiges, herzzerreißendes: „Mich dürstet.“
Doch der Ausruf des Herrn: „Mich dürstet“ war keine Klage des Kleinmuths, sondern der Ausdruck der Gewißheit, daß auch die größten Leiden des Leibes und der Seele vom alten Testament vorherverkündigt waren. Der Herr dachte jetzt nur an sein Erlösungswerk, alles Andere schwieg in ihm und war demselben untergeordnet. Der leibliche Durst, an welchem Jesus schon lange gelitten und welchen er jetzt äußerte, entsprach seiner geistlichen Verlassenheit von allem göttlichen Tröste. Letztere war nun aber überstanden, die Seele hatte schon überwunden; es war nur noch der Leib, der da duldete; die Seele Jesu hatte schon die Vorahnung, ja die Gewißheit des Sieges; unmittelbar darauf rief sie: „Es ist vollbracht; Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist;“ sie hatte nichts mehr zu erfüllen, sie dürstete nur noch nach völliger Vollendung des göttlichen Werks, nach unserer Aller ewigen Seligkeit. Wenn daher Jesus zunächst nur den leiblichen Durst mit dem fünften Worte meint: so lag doch zugleich dahinter, weil er ihn erst jetzt aussprach, und nur aussprach^ damit die Schrift erfüllet würde, auch ein geistiger Durst seiner Seele, ein Seelenbedürfniß, und es dürstete und verlangte ihn zugleich nach völliger Vollendung, nach dem Bewußtsein und Gefühl des ewigen Vereintseins mit Gott, welches in seiner Verlassenheit ihm entzogen gewesen war, nach der völligen Erfüllung der Schrift, nach der Vollbringung seines versöhnenden Opfers, nach dem Augenblick, wo er das Haupt neigen durfte zum Todesschlummer und nach Ablegung der Knechtsgestalt eingehen konnte ins Allerheiligste des Himmels durch sein Blut. Darnach, als Jesus wußte, daß schon Alles vollbracht war, daß die Schrift erfüllet würde, sagt unser Text, spricht er: Mich dürstet. Vollbracht war ja Alles, was er vollbringen sollte, erworben und zu Stande gebracht war die Erlösung der sündigen Menschheit, der letzte Tropfen des bittern Kelches war ausgetrunken: daß der Tod nun komme und ihn von allem Uebel erlöse, danach verlangte ihn. - Aber das nicht allein. Unmöglich konnte der Erbarmer an sich allein denken, seine göttlich liebende Seele dachte dabei zugleich an uns. Für uns verlangte er das Wasser der Gnade und des Lebens; für uns äußerte er das Bedürfniß des leiblichen Durstes, damit die Schrift in allen ihren Theilen erfüllt würde, und fortan sein Opfer allen Menschen zum Heil gereichen, Alle ihn erkennen, an ihn glauben, mit ihm sich verbinden und in ihm das ewige Leben suchen und finden möchten. Ihn dürstete nach unserer Seligkeit. Wie er den Schächer am Kreuz gewonnen hatte als den Erstling, der auf Golgatha für den Himmel reifte, als die erste Frucht seiner Todesschmerzen: so verlangte ihn nun auch nach der Seligkeit Aller, daß er Samen sehen, die Kinder sehen möchte, die ihm durch seinen Tod und seine Schmerzen sollten geboren werden wie der Thau aus der Morgenröthe zu seinem Erbtheil und zur Freude und Labsal seines Herzens. Vor den Augen seiner Allwissenheit standen die Millionen Menschen in ihrem Elende, in ihren großen Sünden und ewigen Strafen; er sahe sie winselnd daliegen in ihrem Blute, und es jammerte ihn derselben; je unaussprechlicher seine Liebe gegen die Sünder war, desto mehr jammerte ihn derselben, und er dürstete danach, sie selig zu machen im Glauben. Seine Liebe, die Liebe des Menschensohns, die in unsere ganze Noth einging, erregte in ihm diesen Durst nach Vereinigung mit uns und nach unserer Beseligung. Er sah auch das Haus seines Vaters, sein himmlisches Erbe; aber konnte er nicht seine Herrlichkeit theilen mit den Seinigen, so war sie für ihn auch keine Herrlichkeit; darum verlangte ihn danach, daß, wo er sei, auch die bei ihm sein möchten, die der Vater ihm gegeben, auf daß sie seine Herrlichkeit sähen. Wie er früher schon gesprochen: „Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden; was wollte ich lieber, denn es brennete schon?“ wie er sich immer den Arzt der Kranken, den Heiland der Sünder, den Erquicker der Mühseligen und Beladenen genannt hatte: so ruft er auch jetzt in dieser Liebessehnsucht aus: Mich dürstet. Wie er früher verheißend gesprochen: „Wenn ich erhöhet werde von der Erde, will ich sie Alle zu mir ziehen“: so ruft er jetzt, wo dieser Augenblick seiner Erhöhung gekommen war, aus: Mich dürstet; das heißt, hätte ich sie doch Alle schon zu mir gezogen! wären Aller Herzen doch mein, daß sie rein würden durch mein Blut! Heißer noch, als der Durst seines Mundes, war dieser unausgesprochene, aber dahinter verborgen liegende Durst seiner Seele. Sein ganzes Erdenleben war ein stetes Verlangen und Sehnen nach uns gewesen, ein stetes Bestreben, unser Verlangen nach ihm und seiner Gnade zu wecken. Keinen Augenblick hatte es da gegeben, der nicht dem Heile der Menschheit angehört hätte. Kein Opfer war ihm zu groß, keine Tageslast und Hitze ihm zu drückend, keine Anstrengung zu ermüdend, kein Weg zu weit, wo es galt, Menschenseelen zu fangen und Sünder selig zu machen. Als das samaritische Weib an den Jakobsbrunnen kam, um Wasser zu schöpfen, bat er sie: „gieb mir zu trinken“, das heißt offenbar dasselbe, was er im Texte aussprach: „mich dürstet“, und er meinte damit nicht blos die Stillung seines, leiblichen Bedürfnisses, er meinte damit vor Allem sein Verlangen nach dem Seelenheil dieses Weibes, sein Verlangen, in ihr den Durst nach Gerechtigkeit und Wahrheit zu wecken, denn er sprach gleich darauf: „Wenn du erkanntest die Gabe Gottes, und wer der ist, der zu dir sagt: gieb mir zu trinken, du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser.“ (Joh. 4, 10.) So fiel bei ihm immer Leibes- und Seelenverrichtung zusammen; bei Allem, was er that, und was er litt, that und litt er ganz; und ihn dürstete daher am Kreuze zugleich nach leiblicher und geistlicher Erquickung; die größte geistige Erquickung war aber für ihn und konnte nur sein die Rettung der verlornen Welt. Ihn dürstete, wie ein großer Kirchenlehrer sagt, nach unserem Durste.
II.
Wir betrachten nunmehr die Stillung des Durstes unseres Herrn. Von wem konnte er wohl, am Kreuze hängend und als Missethäter sterbend, die gewünschte Labung erwarten? Maria und Johannes und die andern Frauen, wie gern waren sie zu seiner Erquickung herbeigeeilt! Welch einen süßen Trost hätte es ihnen gewährt, wenn es ihnen vergönnt gewesen wäre, ihm in seiner letzten Noth wenigstens einen kleinen Liebesdienst zu erweisen! Aber es war unmöglich. Die römischen Soldaten ließen in ihrer gewohnten Strenge eine Abweichung vom Gesetze nicht zu. Niemand durfte den Hingeopferten sich nähern. Sie allein konnten und durften also das Verlangen des Herrn befriedigen. Und - Gottlob! - sie hatten Mitgefühl und Mitleid genug, bei aller ihrer Rohheit und Verwilderung, um ihn nicht vergebens schreien und schmachten zu lassen. Bei dergleichen Hinrichtungen hatten sie nun gewöhnlich einen Ysopstengel, einen Schwamm und ein Gefäß mit Essig zur Hand, welches der gewöhnliche Trank für Missethäter war, der sogenannte Missethätertrank; Besseres war der Gehenkte nicht werth. Sie tauchten daher in das Getränk einen Schwamm, legten diesen um einen Ysopstengel und reichten es dem Herrn an den Mund (V. 29). Da erfüllte sich das Wort der Schrift: „Sie gaben mir Galle zu essen, und Essig zu trinken in meinem großen Durst“ (Ps. 69, 22). Da bestätigten sich Jesu eigne Worte, die er am Abende vorher zu seinen Jüngern gesprochen: „Ich werde hinfort nicht mehr von dem Gewächs des Weinstocks trinken, bis an den Tag, da ich es neu trinken werde mit euch in meines Vaters Reich“ (Matth. 26, 29). - Aber gestehet, welch ein elender und kärglicher Labetrunk in der größten Pein! Wie wenig geeignet, die letzten Augenblicke Jesu Christi zu erquicken! Wie war hier Alles vereinigt, um die ganze Größe der Leiden auf ihn zu wälzen! O auch der Aermste unter uns ist in seiner Todesnoth besser daran, als es der Herr war. Teilnehmende Herzen umgeben sein Sterbelager, sie forschen nach des Sterbenden Bedürfnissen, sie lauschen auf seine Seufzer, sie suchen zu errathen, was ihm irgend erquicklich sein könnte, sie sparen nichts, um ihn auf das Beste zu laben. Und der Herr mußte rufen, und Essig reichte man ihm dar auf einem umwickelten Rohre! - Und doch ist der zu beneiden, der selbst das Geringe ihm bringen konnte. Es war doch etwas, was ihn erquickte, und ein Zeichen, daß sich im Herzen des Römers ein Gefühl des Mitleids regte. Glücklich - nicht wahr? - selig würden wir uns gepriesen haben, wenn es uns vergönnt gewesen wäre, die dürftige Labung ihm zu reichen, um seine letzten Augenblicke weniger schmerzvoll zu machen, und sogar die Trennung von ihm wäre uns leichter geworden. Doch höret, was Jesus spricht: „Was ihr gethan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir gethan“ (Matth. 25, 40). In unsern Armen, Unglücklichen, Kranken und Sterbenden können wir ihn tränken, speisen, kleiden, Pflegen und trösten, und die Seligkeit theilen, die wir genossen haben würden, wenn wir ihm unter seinem Kreuze die Qualen hätten erleichtern können.
Aber den Herrn dürstete nicht nur nach der leiblichen Labung: ihn dürstete auch nach geistiger Erquickung, nach unserer Seelen Seligkeit; und wenn wir jenen seinen Durst ihm nur mittelbar in seinen Gliedern stillen können: diesen Durst können wir Alle unmittelbar an uns selbst ihm stillen. Keinen Menschen giebt es in der weiten Welt, den, nicht der Durst nach Gemeinschaft mit Gott, nach Ruhe, Vergebung, Frieden, Heil und Leben angeboren wäre. Das menschliche Herz ist für Gott geschaffen; darum ist es unruhig in sich selbst, bis es Ruhe findet in ihm. Wie der Leib Speise und Trank bedarf, und wenn beides zur bestimmten Zeit fehlt, Hunger und Durst fühlt: so bedarf die Seele der Gemeinschaft mit dem Herrn, bedarf geistig belebenden Zufluß von oben, und ist, wenn ihr dieser abgeht, kalt und todt in sich selbst. Nur der gemeine, im sündlichen Treiben und im äußeren Weltleben erstorbene Mensch kennt diese höhere Sehnsucht der Seele nicht; bei ihm ist sie untergegangen; die irdischen Abgötter der Lust, der Ehre, des Goldes, welchen er sein Herz opfert, täuschen nicht nur seine Erwartungen des irdischen Glückes, sie ersticken auch die Fähigkeit und Empfänglichkeit für die höheren Güter und die geistigen Freuden, welche der Seele allein aus der Gemeinschaft mit dem Herrn erwachsen können. Wer aber nur irgendwie sich selbst versteht oder nur einigermaßen auf sich achtet: der wird bald die Leere seines Herzens erkennen und jene wehmüthige Sehnsucht, jenes heilige Heimweh fühlen, das die ganze Welt mit allen ihren Gütern nicht zu stillen vermag; jene Sehnsucht und jenes Heimweh, dem hier unten nichts genügt, weil es in allen Dingen nur Eitelkeit und in allen Menschen Sünde gewahrt, und das darum anfänglich in gewissen großen und feierlichen Stunden des Lebens besonders stark erwacht und das ganze Herz übernimmt, zuletzt aber nach vielen bittern Erfahrungen, schweren Verlusten und Selbstverläugnungen, nach vielen vereitelten Hoffnungen und zusammengefallenen Herrlichkeiten die stehende Grundstimmung des Gemüthes wird. Was David rief: „Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott; wann werde ich dahin kommen, daß ich Gottes Angesicht schaue?“ (Ps. 42, 2 - 4.); was Hiob bekannte: „Muß nicht der Mensch immer im Streit sein auf Erden und seine Tage sind wie eines Tagelöhners? Wie ein Knecht sich sehnet nach dem Schatten und ein Tagelöhner, daß seine Arbeit aus sei: also habe ich wohl ganze Monden vergeblich gearbeitet, und elender Nächte sind mir viel worden.“ (?, 1-3); was Sirach bezeugte: „Es ist ein elend jämmerlich Ding um aller Menschen Leben, von Mutterleibe an, bis sie in die Erde begraben werden, die unser Aller Mutter ist; da ist nichts als Sorge, Furcht, Hoffnung und zuletzt der Tod.“ (40, 1 - 3.); was der Grundton des ganzen alten Testamentes ist: „Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien, und schweige nicht über meinen Thränen; denn ich bin beides, dein Pilgrim und dein Bürger, wie alle meine Väter“ (Ps. 39, 13): das ist, bewußt oder unbewußt, der Grundton jedes menschlichen Herzens. Tiefe dunkle allgemeine Sehnsucht, welche durch die Leiden und Unvollkommenheiten des äußern Lebens angeregt wird, möchte der Herr nun in eine bestimmtere innere Sehnsucht nach sich verwandeln, um dann innere und äußere Sehnsucht zugleich zu stillen, und nicht blos zeitlich und vorübergehend, sondern vollkommen und für alle Ewigkeit. Darum spricht er: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke. Wer an mich glaubet, wie die Schrift sagt, von deß Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen (Joh. 7, 37 - 33.) Selig sind, die da hungert und durstet nach Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden“ (Matth. 5, 6). Darum verheißt er schon (Zach. 13, 1): „Zu der Zeit wird das Haus David und die Bürger zu Jerusalem einen freien, offenen Brunnen haben wider die Sünde und Unreinigkeit; denn ich will Wasser gießen auf die Durstigen, und Ströme auf die Dürre, daß sie wachsen sollen, wie Gras, wie die Weiden an den Wasserbächen“ (Jes. 44, 3, 4). Darum ruft er: „Mich dürstet; und wen dürstet, der komme, und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst“ (Offenb. 22, 17). Wie? Wollen wir nun nicht schöpfen aus den unversiegbaren Quellen, die auf Golgatha in reichen Strömen zu uns herniederfließen? wollen wir seines Durstes nach unserer Seligkeit noch spotten? wollen wir seinen Todesruf nach unseren Seelen nicht hören? wollen wir, ohne Labung ihm zu gewähren, ihn schmachten lassen nach unserm Heil? wollen wir die Sehnsucht nach ihm, die in uns liegt, den Nothschrei unseres Herzens betäuben und ersticken, sei es, indem wir durch angestrengte Arbeit ihn loszuwerden suchen, sei es, indem wir durch sinnliche Zerstreuungen aller Art und durch die Lüste des Fleisches ihn zu bezähmen hoffen? Ihn dürstet nach uns, und wir wollen nicht dürsten nach ihm? Wir können seinen heißen Durst vollkommen stillen dadurch, daß wir uns ihm ganz hingeben, und wir wollten ihm sauern Essig nur darbieten, indem wir halb mit ihm, halb mit der Welt es zu halten gedenken; sauern Essig, indem wir nicht einmal in dieser seligen Passionszeit seinen Leiden und Sterben die nöthige Aufmerksamkeit schenken, jede Lust, wenn sie nur nicht grobe, offenbare Sünde ist, sogar jetzt uns gestatten; indem wir der Welt mit falschen Erquickungen uns zu- und vom Herrn uns abwenden; indem wir nach unserer Seligkeit kein Verlangen tragen, nach der ihn doch dürstete; indem er uns unter allen der Gleichgültigste und Vergessenste ist, wie das Lied sagt: „Oft muß ich bitter weinen, daß Du gestorben bist, und Mancher von den Deinen Dich lebenslang vergißt; von Liebe nur durchdrungen, hast Du so viel gethan, und doch bist Du verklungen und Niemand denkt daran.“ O höre das Wort allbarmherziger Liebe, höre das Rufen Deines Heilandes, und stille den Durst Deiner unsterblichen Seele, indem Du den Durst Jesu Christi nach Deiner Seligkeit stillst; eile in sein Erbarmen, glaube an ihn, gieb Dich ihm ganz hin, und Du wirst finden, was du begehrst, Heimath, Friede, Seligkeit, so gewiß die Apostel und Märtyrer und Reformatoren und alle Gläubigen hier unten und alle Seligen dort oben gefunden haben; und hast Du gefunden in Christo, wonach Deine Seele dürstet, hast Du die himmlische Gottesstadt einmal von ferne gesehen, dann wirst Du Dich freuen, daß Du ihr darfst täglich näher gehen und ihre hellen goldenen Gassen lebenslang nicht aus den Augen lassen. Bedenke wohl: einmal wird Dich gewiß noch furchtbar dürsten, im Tode; darum eile im Leben zu Christo, daß Du nicht einst im Tode verschmachtest; erquicke ihn durch treue Hingabe, damit er Dich einst wieder erquicke mit dem Balsam seines Verdienstes. Christi Blut und Gerechtigkeit werde Dein Schmuck und Ehrenkleid, damit Du kannst vor Gott bestehn und zu der Himmelsfreud eingehn. Wie grauenvoll klingt von jenseits herüber das Wort des reichen Mannes: „Vater Abraham, erbarme dich mein, und sende Lazarum, daß er das Aeußerste seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme“ (Luc. 16, 24) Wie lieblich lautet dagegen die Verheißung vom Himmel: „Sie wird nicht mehr hungern, noch dürsten; es wird auch nicht auf sie fallen die Sonne oder irgend eine Hitze; denn das Lamm mitten im Stuhl wird sie weiden und leiten zu dem lebendigen Wasserbrunnen, und Gott wird abwischen alle Thränen von ihren Augen“ (Offenb. 7, 16, 17).
Wie Vielen ist dieser Durst unter uns gestillt? Wir wissen es nicht. Auch ziemt uns die Frage nicht. Aber gefehlt hat es Keinem an Gelegenheiten, die diesen Durst haben wecken können und stillen sollen, und wer diese Gelegenheiten nicht benutzt hat, ist unglücklich und unselig geblieben bis auf diese Stunde. Auch Euch, geliebte Jünglinge und Jungstauen, die Ihr heute zum ersten Male das Abendmahl genießen wollt, war schon diese Gelegenheit gegeben; Euer Unterricht im Christentum und der Confirmationstag mit seinen Thränen und Gelübden wollte nichts anderes bei Euch bezwecken als das! Heute tretet Ihr nun zum Altare, an welchem Jesus Christus Euch erwartet und Euch zuruft: „Mich dürstet.“ Bei Eurer Jugend, bei der Rührung Eures Herzens, bei der Feier dieser Stunde, bei Euren Bekenntnissen und Gelübden beschwöre ich Euch: Bleibet treu, gebet dem Heilande Eure Herzen, erneuert heute Euer Gelübde und erscheinet oft wieder am Tische des Herrn, Euch zu stärken zum Kampf gegen die Sünde und die Welt, damit Ihr einst vor ihm als Euerm Richter gefaßt und freudig erscheinen könnt, und als die Gesegneten seines Vaters zu seiner Rechten möget gestellt werden. Die Uebergabe Eures Herzens an ihn ist die größte That Eures Lebens, und nie werdet Ihr bereuen, was Ihr ihm gelobt und zugesagt habt, wenn Ihr es treu und ehrlich haltet.
Herr, Du rufst uns zu Deiner Gnadentafel! Dich dürstet nach uns! O hilf, daß Dein Durst unsern Durst erwecke, und wir in Deinem hochheiligen Sakramente überschwänglich finden Speise und Trank des ewigen Lebens. Laß Keinen herantreten, Keinen hinweggehen ohne tiefen neuen Eindruck Deiner leidenden Liebe; laß Keinen kommen, keinen gehen ohne neue, kräftig lodernde Flammen ewiger Dankbarkeit und Gegenliebe. Amen.