Arndt, Johann Friedrich Wilhelm – 4. Predigt
Am Pfingstfeste.
Komm, heiliger Geist, erfülle die Herzen Deiner Gläubigen, und entzünde in ihnen das Feuer Deiner himmlischen Liebe. Amen.
Text: Matth. V., V. 6.
Selig sind, die da hungert und durstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.
Es ist immer ein ganz eigenes Gefühl, mit welchem der evangelische Prediger an Festtagen seine Kanzel betritt. An den gewöhnlichen Sonntagen umgiebt ihn eine Versammlung, welche durch den fortgehenden, regelmäßigen Besuch des Gotteshauses bereits mit der Lehre, die er vorträgt, vertrauter geworden ist, und ihn daher mehr oder weniger zu verstehen pflegt; an Festtagen indessen treten so manche Andere auch in’s Gotteshaus ein, die wenig oder gar nicht in der heiligen Schrift bekannt, desto bekannter aber mit den verbreiteten Irrlehren und Ansichten des Zeitgeistes und mit den Vorurtheilen ihres eigenen Herzens, nun die evangelische Lehre als eine neue, widersprechende und nicht selten strafende vernehmen, und gar nicht wissen, wie sie mit derselben daran sind. Wie soll der evangelische Prediger in einer so zerrissenen und aller Schriftkenntniß entfremdeten Zeit, ohne die Bedürfnisse der Ersteren zu vernachlässigen, zu den Letztern reden, daß sie Lust erhalten, wiederzukommen, sich mit dem Inhalte des Evangeliums näher bekannt zu machen und wahrhaft das zu werden, was ihr herrlich-schöner Name aussagt, Christen in der That und Wahrheit? Wahrlich, fühlen wir je, wie mangelhaft und unzureichend alle unsere Kräfte sind und wie das Werk des Glaubens und der Bekehrung lediglich das Werk des heiligen Geistes ist: so ist es an solchen Feiertagen der Kirche! Desto mehr aber fühlen wir uns gedrungen, zu seufzen, daß der Herr selbst uns Worte und Gedanken auf die Lippen legen, daß Er gut machen und ergänzen wolle, was wir gebrechlich und mangelhaft zu Tage bringen, daß Er durch uns predigen, Er euch das Herz öffnen wolle, damit ihr höret, nicht zum Schaden, sondern zum Segen eurer Seele. Er wolle es auch heute thun, wo wir die vierte Seligpreisung der Bergpredigt zu erwägen haben: Selig sind, die da hungert und durstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Die Worte zerlegen sich wieder von selbst in zwei Teile: 1) wer sind die Hungernden und Durstenden nach der Gerechtigkeit? 2) was wird ihnen vom Herrn verheißen?
O heiliger Geist, es ist Dein Fest, das wir feiern; gieb uns an demselben recht gnadenhungrige und heilsbegierige Herzen, und laß uns satt werden: dann feiern wir selige Pfingsten. Amen.
I.
Wenn die drei ersten Seligpreisungen die drei verschiedenen Stufen des Ausgangs aus dem Reiche der Sünde enthielten: Erkenntniß der geistlichen Armuth, Gefühl der göttlichen Traurigkeit über unsere Sünde, und Aufhören, zu widerstreben gegen den Geist des Herrn: so stellt die vierte Seligpreisung die erste Stufe des Eingangs in das Reich Jesu Christi dar. Der Sünder ist erwacht aus dem Schlafe seiner Sünden, er wendet sich weg von der Nacht, die sein bisheriges Leben umfing, und schaut nach Osten hin, woher die Sonnenstrahlen kommen, welche den neuen Tag anmelden. Unser Text sagt: Er hungert und durstet nach der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist derjenige Zustand, in welchem der Mensch so ist, wie er sein soll; also sittliche Vollkommenheit, Erfüllung und Beobachtung des göttlichen Gesetzes, wachsende und nach Vollendung ringende Heiligung, ohne die Niemand den Herrn schauen kann. Nach dieser Gerechtigkeit und gründlichen Besserung seines ganzen Wesens verlangt der zur Selbsterkenntniß gelangte Mensch. Wonach könnte er auch anders verlangen, als danach? Sieht er gleich mit Schmerzen ein, daß er nichts thun kann durch eigene Selbstkraft zu seiner Vervollkommnung, als daß er aufhört, zu widerstreben, und den Geist Gottes wirken läßt in seinem Herzen: dennoch verlangt, dennoch dürstet ihn nach Herzensreinheit und Fleckenlosigkeit seines Innern unaufhörlich. Wie rechter Hunger und Durst im Leiblichen immer auf dasjenige gerichtet ist, was den Menschen wahrhaft nähren und sättigen kann, und jeder Hunger nach andern Gegenständen eine Krankheit des Leibes oder eine Thorheit des Geistes voraussetzt: so ist auch für den erweckten Menschen Gerechtigkeit vor Gott das allein Wünschenswürdige; alles Andere ist werthlos in seinen Augen, und nichts, nichts vermag seine tiefste Herzenssehnsucht zu stillen, als dieses Gut aller Güter allein. Mögen Andere in Sinnenfreuden und Genüssen ihrem Herzen zu genügen suchen; Andere an Ruhm und Ehre, an Gold und Silber ihr höchstes Wohlgefallen finden; Andere ausschließlich in Kunst und Wissenschaft, in Freundschaft und Geselligkeit ihren Geist zu bilden und aufzuklären sich bemühen: für ihn treten alle diese Güter mehr in den Hintergrund. Er verschmäht und verachtet sie nicht, er verdammt nicht diejenigen, die Genußsucht, Reichthum, Ehre, Geistesbildung für die höchsten Aufgaben des Lebens ausgeben; aber er bedarf und verlangt jetzt mehr, um glücklich und selig zu sein. Nichts Vergängliches und Ungewisses kann die höchsten Bedürfnisse seiner unsterblichen Seele befriedigen; er ist für die Ewigkeit geschaffen: so hungert und durstet ihn auch nach ewigen Gütern; er ist für Gott geschaffen: darum ist sein Herz auch unruhig, bis es Ruhe findet im Herrn; er hungert und durstet allein nach Gerechtigkeit vor Gott.
Wie der leibliche Hunger und Durst ein ängstlich folternder Zustand ist, und, je länger er unbefriedigt bleibt, desto mehr das ganze natürliche Streben ausfüllt: so ist die Sehnsucht des erweckten Herzens nach Gerechtigkeit vor Gott auch ein unabweisbares und die ganze Seele ausfüllendes und beschäftigendes Verlangen. An Leichtsinn ist nicht mehr zu denken: wie bitter hat das erweckte Gemüth denselben schon büßen müssen! Die Sorglosigkeit und Lauheit hat ein Ende: für das erweckte Gemüth ist die wahrhafte und aufrichtige Besserung eine Sache des heiligsten Ernstes geworden! Das Aufschieben auf eine gelegnere Zeit ist nicht minder unmöglich: kann der Hungernde auch seinen Hunger aufschieben? kann der Durstende auch warten mit dem quälenden, peinigenden Gefühle des Durstes? Wie dort die Natur Befriedigung verlangt: so verlangt auch hier der Seelenhunger und Seelendurst auf der Stelle, oder doch bald, recht bald, Gewährung; längeres Verschieben brächte den Tod. Bloße flüchtige Wünsche oder fruchtlose Vorsätze reichen nicht mehr aus: was helfen dem Hungernden seine Wünsche, seine Hoffnungen, seine Vorsätze, zu essen und zu trinken, wenn er nicht zu essen und zu trinken hat? Nein, wie der Mensch, wenn ihn hungert, schreiet nach Wasser und Brodt, so schreiet unsere Seele, wenn sie getroffen und ergriffen ist vom heiligen Geiste, Gott, nach Dir. Unsere Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott; wann wird sie dahin kommen, daß sie Gottes Angesicht schauet? – Der Hunger wird um so größer, je weniger das befriedigt, was man hat, und sprichwörtlich heißt es sogar: Hunger thut weh! – ich frage euch, erweckte Gemüther, die ihr bisher unsern Betrachtungen gefolgt seid und an denen Gott sie gesegnet hat; ich frage euch, Pfingstseelen, die ihr, bange geworden über euren Zustand, fragen gelernt habt: Was muß ich thun, daß ich selig werde? ich frage euch: genügen euch im Lichte des Evangeliums noch eure eigene Gerechtigkeit, eure unvollkommene Tugend, eure gebrochenen Gelübde, eure befleckten Geistes- und Leibeskräfte, eure verlorenen Tage und Stunden? habt ihr euch nicht von dem Allen weggewendet? habt ihr nicht das Auge himmelan gerichtet? verlangt ihr nicht nach Neuem, Besserem, Fremdem? – Der Hunger wird um so größer, je näher die stillende Speise uns vor die Augen tritt und unsere Sinneswerkzeuge berührt – o, er kann brennend, verschmachtend, lüstern werden -: ich frage euch, heilsbegierige Seelen, war oder ist das nicht euer Zustand vor dem Herrn? Das Evangelium ist euch nicht fern, es ist euch nahe, unaussprechlich nahe, es liegt euch vor Augen, ihr braucht nur die Hände danach auszustrecken, ihr braucht es nur zu glauben und aufzunehmen. Wie Himmelswort – und es ist ja auch Himmelswort – schallt es in eure Ohren: „Kommt her zu mir Alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen. Wer da dürstet, der komme zu mir, und trinke! – und nehme Wasser des Lebens umsonst“ (Matth. 11,28.29 Joh. 6,35. 7,37.58 Jes. 55,1. 28,12.): wie? hört ihr nicht? fühlt ihr gar nichts in eurem Herzen bei diesen Worten? brennt und glüht es nicht in euch? brennt es euch nicht unter den Füßen, daß ihr laufen; brennt es euch nicht in den Händen, daß ihr zugreifen; brennt es euch nicht im Herzen, daß ihr schmachten möchtet, das rechte, einzige Himmelsbrodt, das ewige Lebenswasser, zu erhalten? könnt ihr – o ist es möglich – könnt ihr kalt, gleichgültig bleiben, nichts fühlen von Hunger und Durst des ewigen Lebens? Nein, es ist unmöglich; ihr wäret ja keine Menschen, keine Sünder, keine für Gott und den Himmel geschaffene Wesen, wenn es nicht sofort in euch hieße: „Herr, mein Gott, mein Heiland, Dich suchet und verlangt unaussprechlich meine ganze Seele, und nichts verlangt sie, als Dich allein, und wie sie in Deiner Gemeinschaft heiliger und seliger leben und sterben könnte. Komm, ziehe in mein Herz ein, daß ich sagen darf: Du in mir und ich in Dir, Dein Herz und mein Herz ein Herz; daß mir in der weiten Welt nichts theurer sei und werde, als Dein seligmachendes Wort, Dein heiliges Verdienst, Dein Kreuz und bitterer Tod; daß ich einen Blutstropfen von Dir höher halte, denn aller Welt Schätze und Kleinodien, Ehren und Freuden; daß ich mit einem recht starken, festen, feurigen Glauben Dich umfange und festhalte ewiglich. Herr, hilf mir; laß Dein heiliges Sterben und Leiden an mir armen Sünder nicht umsonst und verloren sein; laß mich Gnade und Trost, Rath und Hilfe bei Dir finden; ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn; ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben.“
Wie der leibliche Hunger und Durst den Menschen antreibt, Alles in Bewegung zu setzen, was er aufbieten kann, um zur Stillung seines Bedürfnisses zu gelangen, wie er den letzten Groschen daran setzt, das letzte Kleid verkauft, dem liebsten Hab und Gut entsagt: so ergreift der Heilsbegierige sehnsuchtsvoll auch alle Gnadenmittel, die zur sittlichen Vervollkommnung ihm gereichen können. Er meidet, im Bewußtsein seiner Verführbarkeit und Unzuverlässigkeit, nicht nur Alles, was ihm gefährlich werden kann, die Orte, an denen, und die Gesellschaften und Bücher, in denen seine Sinnlichkeit geweckt, seine Lieblingssünde genährt wird; er benutzt auch eifrig und begierig alle Förderungs- und Besserungsmittel, an die ihn Gott gewiesen hat. Jede Minute, die ihm vergönnt wird, in der Stille und Einsamkeit, fern vom Geräusch der Arbeit und vom Getümmel der Menschen, zuzubringen, benutzt er sogleich zur Sammlung und zur Einkehr in sich selbst. Jede Stunde, die ihm offen bleibt zur Lesung der heiligen Schrift und anderer christlicher und gottseliger Schriften, ergreift er mit Freuden, um an Erkenntniß, Trost und Kraft zu wachsen und immer mehr zu erfahren, wie er es anzufassen hat, um seiner schwachen Kraft zu Hülfe zu kommen und das himmlische Ziel zu erreichen. Jeder Tag des Herrn, der die Pforten der Kirche öffnet und Gottes Wort durch menschliche Erläuterung und Anwendung ihm nahe bringt, ist ihm tausendmal willkommen; da sammelt er die Vorräthe ein, an denen er die ganze Woche über zehren kann; da feiert er selige Feststunden vor Gottes Angesicht, und erquickt die matte, schmachtende Seele mit dem Himmelsmanna des ewigen Lebens. Und wenn je im Leben das Gebet an seiner Stelle ist und auch immer Stoff und Gegenstand findet zum Seufzen vor dem Herrn; wenn je mit Inbrunst, Treue und Ausdauer, je mit Gluth und Heftigkeit dem Himmelreich Gewalt angethan wird: so ist es in solchen Zeiten der Erweckung und Heilsbegier. O wie liegt jeden Morgen und jeden Abend, und so oft sie Zeit am Tage dazu findet, die Seele flehend und ringend vor dem Herrn! Wie ist der Umgang mit Ihm ihr der liebste Umgang auf Erden, und jeder andere ihr nur wünschenswerth insofern, als er zu Ihm hinführt, von Ihm zeugt und mit Ihm näher in Verbindung setzt! Kein Weg ist ihr zu weit, kein Wetter zu unfreundlich, kein Opfer zu schwer, keine Entbehrung zu groß, um zum Ziele aller ihrer Wünsche und Bestrebungen zu gelangen. Sie macht es, wie der Kaufmann im Evangelio, der Alles verkaufte, um die Eine, kostbare Perle zu erlangen, oder wie Paulus, der Alles für Schaden hielt, um Christum zu gewinnen.
Endlich, wie der leibliche Hunger und Durst sich täglich einstellt und Jedermann daraus, ob er sie empfindet oder nicht, seine Gesundheit oder seine Krankheit erkennen kann: so ist auch das geistliche Verlangen der erweckten Seele nach der Gerechtigkeit vor Gott ein täglich neues, ein beständig fortgehendes und wachsendes, wenn und wo es in der rechten Art vorhanden ist. Weil der Mensch täglich von Neuem seine Sünde fühlt, seine geistliche Armuth und Hülfsbedürftigkeit: so bedarf er auch täglich neue Kraft von Oben zur Labung und Erquickung. Könnte je dieser Hunger und Durst in ihm versiegen: es wäre ein Zeichen, daß das rechte Leben in Gott und aus Gott ihm abhanden gekommen wäre, daß er kränkelte oder gar krank wäre am inwendigen Menschen. Der Herr will täglich geben, weil wir täglich bedürfen: so muß es auch an uns sein, täglich zu nehmen aus Seiner Fülle Gnade um Gnade, täglich mehr zu verlangen, nie genügsam und zufrieden sein mit dem, was wir haben, immer weiter zu kommen, immer schneller zu laufen in dem Laufe, der uns verordnet ist, immer sicherere und festere Schritte zu thun, immer gewisser und seliger in der Ueberzeugung zu werden, daß es nichts giebt im Himmel und auf Erden, was die Seele befriedigen könnte im vollsten Umfange ihrer Bedürfnisse, als Christus und Seine Gnade allein, als das Reich Gottes und Seine Gerechtigkeit. Das heißt dann wahrhaft und in jeder Beziehung hungern und dursten nach der Gerechtigkeit.
II.
Was verheißt nun Jesus solchen Heilsbegierigen im Texte? „Selig sind,“ spricht Er, „die da hungert und durstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden;“ der Born der Gerechtigkeit soll sich reichlich in ihr Herz ergießen und weit mehr ihm gegeben werden, als es bitten und verstehen kann. Die Gerechtigkeit nämlich, welche der Herr meint und die Er geben will, ist Seine eigene, vollgültige Gerechtigkeit, Seine vollkommene Erlösung von der Schuld, Strafe und Herrschaft der Sünde, Sein ewig ausreichendes Verdienst. Wir können nicht heilig werden durch uns selbst: das ist eine Wahrheit, die der Mensch nie lebhafter fühlt, als im Zustande der Erweckung und Heilsbegier, wenn er es wirklich ernst meint mit sich selbst und nun alle Tage immer wieder auf Hindernisse stößt, die ihn nicht von der Stelle kommen lassen; das ist eine Wahrheit, die aber auch dem Herrn im Himmel nicht minder fest steht, als uns armen Pilgern hienieden auf Erden. Darum hat Er einen andern Weg uns gebahnt, heilig und gerecht vor Ihm zu werden. Weil wir uns zu Ihm nicht erheben können, will Er sich zu uns herniederlassen. „Was dem Gesetz unmöglich war,“ schreibt der Apostel (Röm. 8,3.4.), „sintemal es durch das Fleisch geschwächt ward, das that Gott, und sandte Seinen Sohn in der Gestalt des sündlichen Fleisches, und verdammte die Sünde im Fleisch dadurch, daß Er Ihn zum Sünder werden ließ. Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott Seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz gethan, auf daß Er die, so unter dem Gesetze waren, erlösete und wir die Kindschaft empfingen. (Gal. 4,4-7.) Gott hat Den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in Ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.“ (2. Cor. 5,21.) Was wir nun und nimmermehr leisten können: das hat Christus, der Sohn Gottes, aus freiwilliger Liebe für uns geleistet; Er ist Mensch geworden; Er hat das Gesetz vollkommen erfüllt an unserer Statt, da Er selbst es nicht bedurfte um Seinetwillen, sintemal Er über dem Gesetze unendlich erhaben dastand; Er hat die Strafen unserer Sünden auf sich genommen und weggetragen, und nun soll Sein Verdienst uns zu gute kommen, Seine Gerechtigkeit uns im Glauben so zugerechnet werden, als ob wir selbst sie geleistet hätten, und wir sollen durch Ihn als vollkommen gerecht vor Gott angesehen werden. O himmlisches Evangelium! frohe Botschaft ohne Gleichen und über alle Beschreibung! Keine Religion der Erde kann uns geben, was Du uns giebst. Hungrig und durstig vermögen sie uns wohl zu machen; aber stillen unsern Hunger und Rust kannst Du allein! Keine Religion der Erde weiß von einem Mittler, als das Evangelium; darum sind sie auch alle falsche Religionen, die weder sich selbst, noch den Menschen, noch Gott verstehen. Evangelium Christi auf Erden: wem du nicht genügst, dem genügt nichts in dieser Welt, der kennt dich nicht und mag dich nicht, weil ihn nicht hungert.
Aber, fragt ihr vielleicht, Geliebte, ist das denn möglich, daß uns eine fremde Heiligkeit so zugerechnet werden soll, als wäre sie unsere eigene, ohne daß wir selbst dabei etwas Anderes thäten, als sie annehmen? Ja, es ist nicht minder möglich, als es möglich war, daß Gott uns dies äußere Leben gegeben hat, und wir konnten auch nichts thun, als es annehmen; daß Gott uns alle leiblichen und geistlichen Wohlthaten zufließen läßt, deren wir bedürfen, und wir können auch nichts thun, als sie annehmen. Der das Eine thut, vermag auch das Andre; bei Ihm ist kein Ding unmöglich.
Aber, fragt ihr weiter, wenn es möglich ist, ist es auch gewiß? dürfen wir uns darauf verlassen? ist es keine falsche Auslegung, die wir der heiligen Schrift unterschieben? Nein, es ist keine falsche Auslegung; es ist vielmehr die einzig wahre Auslegung, die sich jedem unbefangenen Gemüthe sogleich von selbst aufdrängt, sobald man die heilige Schrift liest, und die von Anfang der Christenheit an durch alle Jahrhunderte von der Kirche behauptet worden ist; es ist sogar die Grund- und Hauptlehre des Christenthums, durch die es sich eben von allen Religionen unterscheidet. Kein Mensch und kein Teufel kann sie umstoßen und hat sie umstoßen können. Was die Feinde des Evangeliums gegen sie unternommen, hat nur gedient, sie zu befestigen. Wäre sie nicht wahr und gewiß: so wäre die ganze Führung der Menschen durch vier Jahrtausende auf und für Christum, so wären alle Weissagungen des Alten, alle Erfüllungen des neuen Testamentes Lügen, so wären die Apostel insgesammt Betrogene und Betrüger, wenn sie versichern: „Wir werden ohne Verdienst gerecht aus Gottes Gnade durch die Erlösung, so durch Christum Jesum geschehen ist. Und sind wir gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christ, und es ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind; an Ihm haben wir die Erlösung durch Sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünde“ (Röm. 3,24. 5,1. 8,1. Col. 1,14.); so wäre die Kirche am Pfingstfeste nicht auf Felsen, sondern auf Sand gebaut; so wäre das Blut der Märtyrer umsonst geflossen; so hätten die Reformatoren das nutzloseste Werk unternommen; so wären Selbsttäuschung, Verrath an der Wahrheit, Lug und Trug das Werk aller Gläubigen und Frommen gewesen; und wenn Luther singt: „Ob bei uns ist der Sünden viel, bei Gott ist viel mehr Gnade; Seine Hand zu helfen hat kein Ziel, wie groß auch sei der Schade; Er ist allein der gute Hirt, der Israel erlösen wird von seinen Sünden allen;“ wenn Paul Gerhardt singt: „Der Grund, da ich mich gründe, ist Christus und Sein Blut; das machet, das ich finde das ew’ge wahre Gut; an mir und meinem Leben ist nichts auf dieser Erd’, was Christus mir gegeben, das ist der Liebe werth;“ wenn Zinzendorf singt: „Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, damit will ich vor Gott bestehn und zu der Himmelsfreud’ eingehn;“ wenn Gellert singt: „Nimm mir den Trost, daß Jesus Christ mein Gott und mein Erlöser ist, und meine Schuld getragen, so muß ich angstvoll zagen;“ wenn Lavater in heiliger Begeisterung ausruft: „Christus, oder Verzweiflung;“ wenn Millionen in diesem Glauben selig gelebt, selig gelitten, selig geendet haben: so wäre das Alles Wahn, Aberglaube, Schwärmerei gewesen. Ich bitte euch um Gotteswillen: Wahn, Aberglaube, Schwärmerei? auch der unaussprechliche Friede, den sie im Herzen fühlten? auch der Muth, mit dem sie für diesen beseligenden Glauben Verbannung, Kerker, Fesseln und Bande, Marter und Tod jauchzend und lobpreisend ertrugen? auch die Seligkeit, mit der sie ihre letzte Stunde erwarteten und durchkämpften? Wahn, Aberglaube, Schwärmerei bei all’ den Weisen, die diesen Glauben vertheidigt, bei all’ den Fürsten, die für denselben gestritten, bei all’ den Frommen und Heiligen, die durch diesen Glauben andere, bessere Menschen sind geworden, bei all’ den Leidenden, die in ihm Trost gefunden in Noth und Tod, bei all’ den Seligen, die – ja, wir dürfen so reden, weil wir Gottes Wort verkündigen – im Himmel noch für diesen Trost dem Herrn ihre ewigen Loblieder anstimmen? O fühltet ihr nur einmal recht tief eure geistliche Armuth, eure Sündhaftigkeit und Unwürdigkeit; würdet ihr nur einmal recht bekümmert um eure Seligkeit; nähmet ihr nur einmal euch recht ernst vor, erst Gottes Gesetz kennen zu lernen und dann danach euer ganzes Leben streng einzurichten: ihr würdet in Kurzem euch mit Thränen im Auge und mit unabweisbarer Dringlichkeit der seligen Schaar derer beigesellen, die durch Christi Gerechtigkeit für immer entsagen; ihr würdet auf euren Knieen dem Herrn danken für Seine beispiellose Gnade; ihr würdet vollkommen satt, vollkommen beruhigt werden durch Seine Erlösung.
Wolltet ihr aber fürchten, Geliebte, ein solcher Trost sei ein Sündenpolster, und mache die Menschen nur sicher in ihren Sünden und träge im Guten, hemme vielmehr den Fortschritt in der Heiligung, statt ihn zu fördern, und verfehle den Zweck gänzlich: so wäret ihr sehr in Irrthum. Erfahret nur erst wahrhaft und lebendig an euch die Gerechtigkeit Christi im Glauben: dann werdet ihr auch ebenso gewiß erfahren, daß der nicht länger der Sünde dienen kann, der ihr gestorben ist in Christo Jesu; daß der wahre, rechtfertigende Glaube an Ihn auch ein heiligender Glaube ist und niemals ohne Werke bleibt; daß die Liebe Christi zu uns dringt, Ihn wieder zu lieben und diese unsere Liebe gegen Ihn auf alle Weise durch Treue, Gehorsam, Dankbarkeit, Heiligung des Lebens, Heiligung der Gedanken, Neigungen, Triebe, Worte und Thaten zu beweisen. mag es dabei immerhin noch schwach und dürftig zugehen, und die Liebe sich nie genug thun und Schuldnerin bleiben ihr Leben lang, - doch bereit sie nimmer, daß sie sich entschieden hat für den Herrn; möchte um keinen Preis die Gegenwart umtauschen gegen die Vergangenheit ihres Lebens, nie noch einmal leben, was und wie sie gelebt hat; sie vergißt, was dahinten ist, und streckt sich nach dem, was vor ihr liegt, und muß sich gestehen: trotz aller Schwachheit und alles Zurückbleibens hinter dem Ziele ist es doch besser geworden, mit dem neuen Herzen hat neue Sehnsucht nach dem Herrn, neues Verlangen, Ihm wohlzugefallen, von demselben Besitz genommen; sie kämpft einen guten Glaubenskampf; sie ergreift das ewige Leben; sie reinigt sich je länger je mehr von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes; sie lernt immer mehr, sich ganz dem Herrn hinzugeben und als eine gute Rebe am Weinstock Früchte zu tragen zum Preise des Weingärtners. Zuletzt lebt sie der seligsten Gewißheit, Ihn dermaleinst zu sehen, wie Er ist, und darin ganz satt zu werden, wenn sie erwachen wird, neu geschaffen, nach Seinem Bilde. (Ps. 17,15.) Kurz, es bleibt bei dem Textwort: „Selig sind, die da hungert und durstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“ Christus ist der gute Hirt; bei Ihm kann uns nichts mangeln. Er weidet uns auf grüner Aue und führet uns zum frischen Wasser um Seines Namens willen. Nicht tropfenweise, wie ein Strom fließt von Ihm Segen aus, Welle auf Welle, um uns ganz zu stillen.
Wollte Gott, wir Alle wären recht hungrig und durstig nach dieser Gerechtigkeit und würden es mit jedem Tage mehr und mehr! Ohne diesen Hunger und Durst ist das ganze Evangelium für uns todt und wirkungslos; ja, all’ unser Kirchengehen, all’ unser Predigen ist vergeblich, und hat auch noch nicht eine einzige Frucht getragen, wenn dieser Hunger und Durst nicht erwacht ist. Eine besuchte Kirche ist allerdings etwas Anzuerkennendes; aber es ist nur die Schale zum Kern. Die Hauptsache ist, daß die Kirche eine betende, eine suchende, eine hungernde und durstende nach Gerechtigkeit wird; sonst kann ihr nimmer geholfen werden. Am Pfingstfeste war auch der Tempel vollgefüllt mit Menschen in Jerusalem; aber welche feierten wahrhaft Pfingsten? Nicht diejenigen, welche sich entsetzten und irre wurden und sprachen: Was will das werden?- nicht diejenigen, die es ihren Spott hatten und höhnten: Sie sind voll süßen Weins; sondern diejenigen, die des heiligen Geistes theilhaftig wurden, die da fragten: Ihr Männer, lieben Brüder, was sollen wir thun? und als sie Petri Antwort vernahmen: „Thut Buße, und lasse sich ein Jeglicher taufen auf den Namen des Herrn Jesu Christi zur Vergebung der Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des heiligen Geistes,“ seine Worte gern annahmen und sich taufen ließen, und dann auch beständig blieben in der Apostellehre und in der Gemeinschaft und im Brodtbrechen und im Gebet. Parochialgemeinde, wollte Gott, es heiße so auch in dir immer entschiedener und bestimmter, wie dort in Jerusalem, fragend und antwortend, hörend und thuent! Wollte Gott, es erwachte auch unter uns ein Hunger und Durst nach dem Worte des Lebens und nach dem Reiche der Gerechtigkeit! Doch das sind menschliche Wünsche; sollen sie göttliche That werden, dann mußt Du in uns schaffen Wollen und Vollbringen nach Deinem Wohlgefallen, Geist Gottes, Geist des Vaters und des Sohnes! Beides ist allein Dein Werk, das Verlangen nach Dir und die Stillung des Verlangens. Gieb uns denn Verlangen, brennendes Verlangen, und dann stille das Verlangen. Laß uns hungern und dursten nach Deiner Gerechtigkeit, und dann mache uns satt.
Selig sind, die sehnlich schmachten
Nach Gerechtigkeit und Heil,
Die mit Durst und Hunger trachten
Nach der Seele bestem Theil;
Deren Herz des Glaubens Frucht
Auch im Werk zu zeigen sucht;
Die da Geiz und Unrecht hassen:
Satt wird Gott sie werden lassen.
Amen.