Tholuck, August - 1. Cor. 11, 26 "Die Verkündigung des Todes des Herrn durch die christliche Gemeinde"

Zwei äußere Bänder sind es, meine Freunde, durch welche der Zusammenhang einer Gemeinde mit der Kirche sich kund thut: die Theilnahme am Gottesdienst und der Genuß des Sakraments. Für wie viele ist jenes erstere Band jetzt nicht mehr vorhanden! Wenn allsonntäglich zu bestimmter Zeit der Glockenschall in die Stadt hineinruft: auf, ihr Christen, die Gemeinde des Herrn versammle sich! - wie viele giebt es wohl in den höhern Klassen, die bei diesem Klange sich zum Kirchgange anschicken? Daß dieser Glockenschall der ganzen Stadt gilt, daß die ganze Stadt eine Gemeinde Jesu Christi ist, durch Sein Blut erlöst, auf Seinen Namen getauft, daß daher die ganze Stadt erwartet wird an heiliger Stätte - wer denkt daran noch? Wen überrascht das nicht, als wäre es ein neuer und unerhörter Gedanke? Die Theilnahme am Genusse des Nachtmahls des Herrn hat in demselben Maaße abgenommen, wie die an dem Gottesdienste. Wenn einst in dieser Stadt, als ihre Einwohnerzahl noch unendlich geringer war, eine einzige Kirche mehrere Tausend von Kommunikanten zählte, so sind es jetzt von fünfundzwanzigtausend, welche diese Stadt bewohnen, bei weitem nicht die Hälfte, die im Laufe des Jahres auch nur einmal dem Tische des Herrn nahen. Doch giebt es auch solche, die, wenn auch das Band des Gottesdienstes der Gemeinde sie nicht mehr bindet, doch wohl noch dann und wann zum Altare hintreten, und geschähe es auch nur wie ein altväterliches Herkommen, immer ist es eine Gelegenheit, wo sich der Mensch doch einmal darauf besinnt, daß er einer Ewigkeit entgegengeht, daß er auf den Namen eines gekreuzigten Welterlösers getauft ist. Soll nun das christliche Leben wieder in die Gemeinde einkehren, so müssen solche Augenblicke ergriffen werden, so muß man solche Handlungen der Gemeinde in Geist und Leben zu verwandeln suchen, und darum ist es Noth, daß in dieser Zeit gepredigt werde von der Benutzung des Sakraments für Glauben und Leben. Zwar sind nun die beiden Abtheilungen unsrer evangelischen Kirche gerade über diese Bedeutung getheilt, allein es giebt auch darüber ein Bekenntniß, in welchem sie sich vereinigen können, müßte auch der eine Theil sagen, daß er damit noch nicht in das Innerste des Heiligthums geführt sei. Und dieses Bekenntniß, welches über dem Streite der Konfessionen steht, wollen wir unserer Betrachtung zu Grunde legen. So vernehmet denn den Text unsrer heutigen Predigt aus 1 Kor. 11, 26.: „So oft ihr von diesem Brote esset, und von diesem Kelch trinket, sollt ihr des Herrn Tod verkündigen, bis daß er kommt.“

Die Verkündigung des Todes des Herrn durch die christliche Gemeinde, das wird der Gegenstand unsrer Predigt seyn, und zwar die Verkündigung seines Todes 1) in der Theilnahme am Sakrament, und 2) vermittelst der Theilnahme am Sakrament im ganzen christlichen Wandel.

Wir betrachten also zuvörderst die Verkündigung des Todes des Herrn durch die christliche Gemeinde in der Theilnahme am Sakrament.

Das heilige Mahl, christliche Gemeinde, von dem wir sprechen, ist zunächst ein Gedächtnißmahl. In wohlgemeintem Eifer für die Bedeutung desselbigen haben Manche diesen Ausdruck gescheut; wie wollten wir ihn aber scheuen, wenn des Herrn Mund so gesprochen: „Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird, das thut zu meinem Gedächtniß?“ Und woran, frage ich, sollen wir dabei gedenken? Giebt's ja doch so Vieles, dessen wir bei seiner Erscheinung gedenken können, wie er die Kranken geheilt hat und die Todten auferweckt, wie er die Kindlein gesegnet hat, und seinen Jüngern die Füße gewaschen, wie er so schöne Lehren und Sprüche hinterlassen hat: das Alles ist es aber nicht, wozu dieses Gedächtniß gestiftet worden; das heilige Nachtmahl ist ein Gedächtnis) des Todes des Herrn. Darauf führen uns zunächst die Zeichen, welche er für dieses Gedächtniß geordnet hat; eine Speise bietet er dar, eine Speise, die seinen Tod abbildet; das gebrochene Brot, ist das nicht sein im Tode gebrochener heiliger Leib? der Kelch des Weines, ist das nicht sein im Tode vergossenes heiliges Blut? „So oft ihr, ruft der Apostel, von diesem Brote esset, und von diesem Kelch trinket, sollt ihr des Herrn Tod verkündigen, bis daß er kommt!“ Ja, jenes Abend- oder Nachtmahl, das die Kirche feiert, ist ein Gedächtniß seiner Todesnacht. So oft die feierlichen Worte: „der Herr Jesus, in der Nacht, da er verrathen ward, nahm er das Brot,“ vor dem Ohre erschallen - und wenn einer das ganze Jahr lang nicht daran gedacht hätte - wem tritt sie da nicht vor das Auge des Geistes, die schauervolle letzte Nacht mit ihren Thränen, mit ihren Kämpfen, mit ihrem Blute? So verkündigt uns also die Einrichtung des Nachtmahls selbst den Tod des Herrn, und zwar - fragen wir - in welcher Beziehung?

Sie verkündigt uns einmal den Tod des Herrn zum Gedächtniß der Sünde der Welt, sie verkündet uns zum Andern den Tod des Herrn zum Gedächtniß der Versöhnung der Welt. - Ich sage, sie verkündet uns den Tod des Herrn zum Gedächtniß der Sünde der Welt. Alle Jahre kehrte in Israel der feierliche Versöhnungslag wieder, wo Israel ein Opfer brachte für die gemeinsame Sünde des Volks, und von diesem Opfer steht geschrieben: „durch diese Opfer geschiehet alle Jahre ein Gedächtniß der Sünden.“ Ein Gedächtniß der Sünde war es, wenn das jüdische Volk das Blut des unbefleckten Opferthieres fließen sah, zum Zeichen, was sie selbst hätten erdulden sollen. Gin weit höheres und heiligeres Gedächtniß der Sünde wird der Christenheit vorgeführt, so oft sie vom geheiligten Kelche trinket; ein unvergängliches Gedächtniß der Sünde der Welt ist hier gestiftet, wo das Andenken an den Tod dessen erneuert wird, der von keiner Sünde wußte, des unbefleckten, heiligen Gotteslammes, welches die Sündhaftigkeit der Menschen gelästert, gegeißelt, und an das Kreuz geschlagen. In dieser Thal„ fache, welche die Sündhaftigkeit des ganzen Geschlechts offenbaret, wie keine andere, empfindet Jeder, der zum Altare hinzutritt, seine eigene Sünde. Die Sündhaftigkeit, welche in uns das Licht haßt, und das Herz des heiligen Gottes alle Tage betrübt, sie ist nur auf der Spitze hervorgetreten in jener Sünde, die den Herrn der Herrlichkeit an's Kreuz geschlagen, und indem wir vor der Schuld erschrecken, welche damals das Geschlecht auf sich lud, erschrecken wir zugleich vor unserer eigenen Schuld. Was irgend in uns der Finsterniß angehört, wir lernen es erst recht verabscheuen, wenn wir bedenken, daß dasselbige, auf die höchste Spitze getrieben, dem Heilande den Tod gebracht. Also feiern wir in dem heiligen Mahle jenen Tod, der ein Gedächtniß war der Sünde der Welt.

Wäre er aber nichts Anderes gewesen, als dieses, worin stände dieses Opfer über den Opfern des Alten Bundes? Nein, nicht bloß als ein Gedächtniß der Sünde der Welt feiern wir in dem heiligen Mahle seinen Tod, sondern als die Versöhnung der Sünde der Welt. In den Kämpfen und Todesschauern Jesu, in seinem: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ sehen wir das Leiden, was der Welt Sünde über ihn gebracht hat, welches aber auch zugleich von Gott geordnet worden ist als die Genugthuung für unsere Sünde; denn ist einmal eine gläubige Seele in die Gemeinschaft mit ihm getreten, so ist auch Alles, was sein ist, ihr; sein heiliges Leben, sein heiliges Leiden ist ihr Eigenthum geworden, und dem anklagenden Gewissen, welches Strafe für Schuld verlangt, ist genug geschehen. Darum lauten die Einsetzungsworte aus dem Munde unseres Herrn: „das ist mein Blut des Neuen Testamentes, welches vergossen wird für Viele, zur Vergebung der Sünden.“

So verkündiget denn diese Feier an und für sich, nach ihrer Einrichtung und Bedeutung, den Tod des Herrn zum Gedächtniß und zur Vergebung der Sünden. Der Apostel aber fordert uns auf, daß wir selbst beim Genusse des Mahles den Tod des Herrn verkündigen, und verlangt eben damit, daß, was die Bedeutung des heiligen Mahles sei, dadurch lebendig werde in jedweder Seele, die zum Genusse hinzutritt. Nicht eine äußerliche, zauberisch reinigende Handlung ist es, die an jenem Altare vollzogen wird, Herzen müssen dabei seyn, lebendige Herzen. Nur dann verkündigen wir seinen Tod, und nur so genießen wir das heilige Mahl würdig. Und das meinet der Apostel, wenn er hinzusetzt: „Welcher nun unwürdig von diesem Brote isset, oder von dem Kelch des Herrn trinket, der ist schuldig an dem Leibe und Blute des Herrn. Der Mensch aber prüfe sich selbst, und also esse er von diesem Brot und trinke von diesem Kelch.“ Es ist ein grauenvolles Wort, was der Apostel hiemit ausspricht. Wie von der Person des Herrn selbst geschrieben steht, daß er „gesetzt ist dem Einen zum Fall, dem Andern zum Aufstehn: so heißt es von diesem Mahle des Segens und der Erquickung, daß es ein Gericht seyn kann, eine Verschuldung an dem Leibe und Blute des Herrn selbst. In dem Augenblicke, wo die Gemeinde im Großen und Ganzen die innigste Vermählung mit dem Gottessohne feiert, in dem Augenblicke, wo sie in seliger Wonne singt:

Hier feir' ich deinen Mittlertod,
Hier nährst du mich mit Himmelsbrot,
Hier ist das unschätzbare Gut,
Das du mir giebst, dein Leib und Blut;
O Liebe, welcher keine gleicht,
O Wunder, das kein Sinn erreicht,
Wie unbegreiflich und doch wahr,
Du sagst es, und dein Wort ist klar -

in dem Augenblicke kann es vorkommen, daß auch zugleich das Gericht vollzogen wird an heiliger Stätte, das Gericht über den, der des Herrn Leib nicht unterscheidet, der unwürdig genießet. Wie überall, so sehet ihr auch hier: das Wort Gottes, welches dir entgegentritt, in der rechten Hand Honig und Manna und die Friedenspalme - es trägt zugleich in der linken Hand das Schwert. O meine Brüder, warum habt ihr euch doch allzumal durch die Schwachheit und Schlaffheit der Zeit verführen lassen, nur dasjenige aus der heiligen Schrift herauszulesen, was euch lieblich klingt, und alle diejenigen Blätter still umzuschlagen, auf denen die Zeugnisse der Sünde und des Ernstes Gottes niedergelegt sind? Ob es unter den neuntausend Communicanten dieser Stadt im Laufe des Jahres wohl noch Etliche giebt, welchen diese apostolische Mahnung als ein drohendes Himmelszeichen entgegensteht? Sehet, in der Zeit, wo die heilige Schrift noch eine Kraft für die Menschen war, weil sie daran glaubten, eine Kraft durch ihre Verheißungen in den Himmel zu führen, und durch ihre Drohungen eine Kraft, in den Abgrund zu stürzen; da gab es nicht selten solche, die von jenem Worte des Apostels geschreckt, nur darum nicht wagten an den Altar hinzutreten, weil sie statt Segen Fluch zu empfangen fürchteten. O wo sind in unserer Zeit die erschrockenen Gewissen, wie Luther sie nennt? Und wo keine Wunden sind, was soll der Balsam? -

„Würdiglich genießen“ - ach wie das Wort schon manche blöde Seele in Bangigkeit und Furcht gesetzt hat!

Wo nehm' ich die Feierkleider her, um würdiglich vor dem Ehrenkönig zu erscheinen? wo finde ich die Opfer, die ihm gefallen auf seinem Altar? Blöde, geängstete Seele, fürchte dich nicht:

Vor ihm geht's göttlich her.
Und nicht nach Stand und Würden,
Herodem läßt er leer,
Und füllet die Hirten bei den Hürden.

Was ist jene Würdigkeit, Geliebte, die hier der Apostel verlangt? Sie ergiebt sich uns aus der Beschaffenheit dieser Todesfeier selbst. Erstens: In deinem eigenen Herzen sollst du seinen Tod feiern als ein Gedächtniß deiner Sünden. Hat der Ankläger Wochen, hat er Monate lang in deinem Herzen geschwiegen: wenn, wie heraufziehende Nachtwolken die Worte: „Unser Herr Jesus Christus in der Nacht, da er verrathen ward“ mit ihrem feierlichen Ernste dich überschatten, dann soll in diesem seinen Todesdunkel das Gedächtniß alles dessen in deine Seele treten, wodurch du täglich aufs Neue dem Herzen deines Heilandes Schmerz bereitest! Erinnert sich wohl Mancher von euch aus seiner Kindheit an die Zeit, wo er über das bittre Leiden seines unschuldigen Heilandes Thränen geweint hat? O Christen, warum habt ihr jetzt, da ihr erwachsen seid, keine Thränen mehr für die Leiden des Herrn? Siehe, das Heilige Nachtmahl, das ist eine Zeit, wo die Thränen deiner frühen Kindheit wieder fließen sollen - nicht, Freunde, als ob er unserer Thränen bedürfte: „Er ist aus der Angst und dem Gerichte genommen, Wer will seines Lebens Länge ausreden!“ Ja schon damals, als die Perlen des Angstschweißes noch auf seiner Stirn standen, auf seinem letzten Kreuzesgange hat er des Mitleids Thränen verschmäht. Als die Weiber Jerusalems über ihn weinten, was hat er ihnen zugerufen? „Töchter Jerusalems, weinet nicht über mich, sondern über euch!“ Ernstere Thränen sollen um sein Leiden stießen, die Thränen, daß unsere Sünden ihm solche Wunden geschlagen! Und unsere eignen Sünden, wir sollen sie mit empfinden in der, welche ihn an das Kreuz brachte; denn der Unglaube und die Verstockung, der Fleischessinn und der Hochmuth, der unfern Heiland damals an's Kreuz brachte: ist es nicht derselbe, den wir noch heut in unserm Herzen tragen, und der gerade dann in seiner Abscheulichkeit uns vor die Seele tritt, wenn wir auch die Ursache seiner Leiden darin erkennen? - Zweitens: du sollst seinen Tod feiern als eine Versöhnung deiner Sünden. Wenn der Glaube schon sonst sich in der Einheit weiß mit dem Leben und mit dem Leiden seines Herrn, wenn der Glaube schon sonst in der Gemeinschaft mit seinem Thun und Leiden sich gerechtfertigt weiß vor Gott, so ist es die Handlung des Sakraments, in welcher, wenn das Unterpfand der Versöhnung auch für den äußern Menschen zum Genusse dargereicht wird, dieser geistige Genuß der „Gemeinschaft der Leiden“ die höchste Spitze erreicht. Wie das äußere Unterpfand dem äußern Menschen dargereicht mit Fleisch und Blut sich verbindet, so verbindet sich der für uns in den Tod gegebene Erlöser mit dem innern Menschen zur unauflöslichen Gemeinschaft. Da weiß ich: Ich bin kein Einzelner mehr! Da weiß ich: Ich stehe nicht für meine eigne Person vor Gott! Da werde ich mir selig bewußt: Nur ein Glied bin ich seines Leibes, und was der ganze Leib hat, daran nimmt auch das Glied Antheil! Was er gethan und gelitten, für mich hat er es gethan und gelitten, „durch seine Wunden bin ich heil worden.“

Es ist aber noch ein drittes, was zur würdigen Feier und zur rechten Verkündigung des Todes des Herrn gehört. Es ist dies nämlich die Feier der gliedlichen Gemeinschaft der Jünger Christi unter einander. Nicht Einzelnen wird das heilige Mahl gereicht, sondern in großer Anzahl müssen sie sich versammeln an der Gottesstätte, und als die christliche Gemeinde noch kleiner war, da waren sie bei solcher Feier Alle zusammen als Ein Mann. Ein und dasselbige Brot wurde ihnen Allen gebrochen, ein und derselbige Kelch ihnen Allen gereicht; so liegt denn in dieser Handlung auch das feierliche Bekenntniß, daß es Eine geistliche Speise und Ein geistlicher Trank ist, der sie Alle nährt wie Glieder eines und desselbigen Körpers. „Denn Ein Brot ist es, sagt der Apostel, so sind wir Viele Ein Leib, dieweil wir Alle Eines Brotes theilhaft sind.“ Ist dem also, so gehört denn auch zu der rechten Verkündigung des Todes des Herrn und zum würdigen Genusse, daß des Herrn Mahl genossen werde in dem Bewußtseyn der brüderlichen Einheit mit Allen, welche sammt uns zur Gemeinschaft Jesu Christi gehören. Was irgend von Haß und Neid und Feindschaft im Herzen vorhanden war, das soll ausgetilgt werden an diesem Tage, und ist irgend eine andere Zeit geeignet, die Herzen in vergebender Liebe einander nahezubringen, wahrlich, so ist es diese, wo ihr selbst hinzutretet, um an der Vergebung eurer eignen Sünden den Antheil zu erhalten. So ist denn auch schon feit alter Zeit der Gebrauch aufgekommen, daß die Glieder der Familie, welche vereint daran Theil nehmen, vor dem Mahle, an dem sie die Vergebung ihrer eignen Sünden feiern, die Vergebung einer gegen den andern walten lassen. „Vergebet Einer dem Andern, gleichwie Gott vergeben hat in Christo.“ dieses Wort tönt an diesem Tage hold und mild durch alle Christenherzen, und wie vom Himmel her ein versöhnter Vater die Hand seinen Kindern vergebend herabgereicht hat, so breiten auch sie ihre Arme aus, um „zu vergeben ihren Schuldnern.“ Ach, obwohl wir das apostolische Wort vernommen haben: „Lasset die Sonne nicht untergehen über eurem Zorne!“ so tragen wir doch so manchmal geheimen Samen des Grolls auch gegen unsere nächsten Lieben Wochen und Monden lang mit uns herum! Der Tag wenigstens, wo wir unsere Versöhnung mit Gott feiern, sollte für uns Alle auch ein Fest der Versöhnung mit allen unsern Brüdern seyn. Ihr, die ihr einst das Amt der Seelenhirten verwalten werdet, traget Sorge dafür, daß solche schöne geheiligte Gebräuche nicht völlig untergehen! Schon ist auch dieser schöne, heilige Brauch in den Gemeinden im Verschwinden begriffen; o traget Sorge dafür, zukünftige Seelenhirten, daß er nicht ganz verschwinde, und daß er, wo er unverstandene Form ist, Geist und Leben werde! Indeß nicht blos mit denjenigen, die uns durch irdische Bande nahe stehen und verbunden sind, soll an diesem Tage der Bruderbund in Christo auf's Neue geschlossen werden; auch das Bewußtseyn soll sich erneuen, daß es noch eine Kirche Christi auf Erden giebt, eine Gemeinschaft der Heiligen, deren Glieder wir sind. Noch wird zum Gedächtnisse seines Todes dieses geweihte Brot über die ganze Erde hin gebrochen. Am Nordpol und in der heißen Sonne Indiens versammeln sie sich mit eben denselben Gefühlen und Gedanken, welche bei diesem Genusse durch unser Herz ziehen. So sind wir denn Alle, „die wir von diesem Brote essen, und von diesem Kelche trinken, Ein Leib,“ und mit Erhebung denken wir den großen Gedanken: „Es giebt eine Kirche Christi auf Erden - es giebt eine Kirche Christi auf Erden, welche, durch Räume getrennt, in Christo Eins ist.“

Wo nun der Tod des Herrn auf diese Weise verkündigt worden ist in der heiligen Handlung, da, meine Freunde, nimmt man auch eine Verkündigung seines Todes in das Leben mit, die im ganzen Wandel sich darstellt.

Wo sein Tod gefeiert worden ist zum Gedächtniß unserer Sünde, da nehmen wir ein Herz mit, das mit neuem Abscheu vor der Sünde erfüllt ist. Das Leiden unseres Herrn hat unser eigenes Sündethun in ein Sündeleiden verwandelt. Seitdem wir in seinen Leiden die Sünden, durch welche sie ihm bereitet wurden, haben verabscheuen lernen, seitdem macht die Sünde in uns selbst uns nicht mehr Freuden, sondern Leiden. Und hätten wir das sonst nicht kräftig erfahren, dort am Altare, wo wir seinen Tod feiern, da erfahren wir es, und nehmen diese Erfahrung mit in das Leben hinaus. Der innerste Mensch hat nun kein Gefallen mehr am Sündendienst, und wo die böse Lust uns überwältigt, da brechen mit ihr zugleich die Thränen aus, und wir rufen: Sünde, Einmal hast du meinen Heiland an das Kreuz geschlagen, du sollst ihn nicht abermal in mir kreuzigen! - Zum Andern: wo also der Tod des Herrn im Genusse des Sakraments verkündigt worden ist als ein Gedächtniß zur Vergebung der Sünde, da nimmt der Christ ein gutes Gewissen mit, durch welches er auch in seinem Leben den Tod des Herrn verkündigt. „Ist Gott für uns - so ruft das versöhnte Christenherz mit Paulus aus - wer mag wider uns seyn? Wer will verdammen?“ So ruft der, welcher „die Gemeinde des Herrn verfolgt hat,“ so ruft der, welcher sich „der Sünder größten“ nennt, aber - „er ist abgewaschen, aber er ist geheiligt, aber er ist gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesu, und den Geist seines Gottes!“ Solcher Art ist das gute Gewissen, welches der Christ mit hinausnimmt, wenn er vom Tische des Herrn kommt, und durch welches er seinen Tod vor der Welt verkündigt. - Endlich, meine Lieben, so oft der Christ von dem geweihten Kelche getrunken, und dabei sich des heiligen Bandes bewußt geworden ist, welches ihn mit Allen, die von demselben Brote genießen, zusammenschließt: so oft tritt er mit einem neu versöhnten und einem liebreichen Herzen hinaus unter die, welche mit ihm an demselbigen Brote Antheil haben. Wer von euch hätte jenen tiefen Gottesfrieden nicht an sich oder an Andern erfahren: jene Milde und Versöhnlichkeit, mit der wir nach dem Genusse des heiligen Mahles wieder unter unsre Brüder treten? Ja, möchten wir nicht dann Allen, die uns begegnen, laut zurufen: „das Alte ist vergangen, siehe, es ist Alles neu worden?“

So ist denn der Genuß des heiligen Sakraments ein rechtes Seelenbad, wo man wieder zum neuen Menschen wird, und der Bund sich erneuert, der in der Taufe geschlossen ist. - Wie oft es zu genießen sei, darüber hat kein Apostel, und der Herr selbst nicht uns einen Befehl gegeben. „Solches thut, so oft ihr es thut“ - sagt der Apostel, und giebt dadurch ausdrücklich zu erkennen, daß dies Sache des Bedürfnisses eines jeden Einzelnen sei. Dieses Bedürfniß aber ist ein zwiefaches; denn, Brüder, ist es nicht eben so sehr das Gefühl der Fülle, wie das des Mangels, welches zum Tische des Herrn hintreibt? Es ist das Gefühl des Mangels. So oft eine Seele inne wird, daß sie arm ist an jenem Gefühl der Sünde, oder an jenem Bewußtseyn der Versöhnung, oder an jenem Bewußtseyn des Bruderbundes mit den Kindern Gottes, da geht sie dorthin, um reich zu werden. Und dieses ist es ja wohl, was uns Alle am öftesten zu diesem Gnadenmahle hingezogen hat. Aber auch noch eine andere Feier desselben giebt es, die aus dem Gefühle des innern Reichthums kommt. Wo nämlich einmal eine jener Sabbathsstunden des geistlichen Lebens eintritt, in welcher das Herz überwallt in der Gewißheit des seligen Bewußtseyns: „mir ist Gnade widerfahren!“ und wo der Jünger des Herrn die Arme ausbreitet, um im Vollgefühle der eignen Versöhnung alle diejenigen an die Brust zu drücken, welche desselben seligen Glaubens Genossen sind: auch aus diesem innern Reichthum entsteht dann das Bedürfniß, für das, was das Herz innerlich erfahren, einen Ausdruck zu suchen, und wir finden ihn im gemeinschaftlichen Genusse des Mahles des Herrn. Und dies freilich ist die seligste Feier desselben, - das ist die, wie wir es ewig feiern werden im Zustande der Verklärung (Off. 3, 20. 19, 9.); denn es verhält sich mit dem Genusse des Sakraments nicht anders, als mit dem Gebete. Wohl sind auch jene Gebete angenehm, welche erst den Geist herabziehen aus der Höhe, aber die seligsten sind ja doch die, wo aus dem vom Geiste bewegten Herzen die reine Opferflamme gen Himmel steigt.

Wohlan denn, Gemeinde des Herrn, es werde aufs Neue für einen Jeden unter euch das Mahl, welches jener Altar spendet, ein Mahl der Gnade, das ihr aufsuchet in der Armuth eurer Seele, wie in ihrem Reichthume. O daß ihr des seligen Berufes nicht vergesset, den Tod unseres Herrn zu verkündigen, und ist dieses große Geschäft bei Manchem von euch eine lebenlose Form gewesen, o lasset uns unsere Hände in dieser Stunde gemeinsam aufheben, und beten: „Verklärter Heiland, deine Gemeinde bittet Dich, gieb uns Allen Deinen Geist, damit wir die Kraft Deines Todes und Deines Gedächtnisses verstehen!“ -

Tholuck, August - Predigten über Hauptstücke des christlichen Glaubens und Lebens, Band II.

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