Tholuck, August - Homilie zu Apg. 1,1-14

An unseren letzten zwei Betrachtungen legte ich euch, meine Freunde, die Forderungen Gottes an uns an's Herz. Es ist aber das Auszeichnende evangelischer Predigt, dass sie nicht bloß von dem Menschen fordert, sondern ihm auch gibt. Vom Sinai herab ward nur gefordert, von Golgatha herab wird gegeben. So muss denn auch in unserer christlichen Predigt ein Wechsel sein zwischen Fordern und Geben. Gegeben wird nun aber nicht bloß in denen Aussprüchen der Schrift, welche in bestimmten Worten Verheißungen und Zusicherungen göttlicher Kraft und Gnade enthalten, sondern wo irgend uns der Heiland vorgeführt wird, da wird auch gegeben; denn ihn kannst du nimmer anschauen, weder in seinem Reden noch in seinem Tun und Leiden, ohne dass dir nicht dadurch gegeben werde. So sind denn nun auch jene Festtagsevangelien, welche die Hauptpunkte des Lebens des Erlösers darstellen, wie Sonnen, welche nach allen Seiten hin Licht und Wärme schicken. Es ist zu bedauern, dass die Ordnung des Gottesdienstes für diese Gemeinde die Festtage für euch leer ausgehen lässt. In Erwägung dessen habe ich zum Text für unsere heutige Erbauung einen Abschnitt auserwählt, welcher eigentlich einem unserer Festtage angehört, dem Himmelfahrtsfest. Zwar entbehrt nun diese Predigt, da sie am heutigen festlosen Tage gehalten, einer mächtigen Stütze in eurem Herzen, des Festgefühls; - erwägt man aber einerseits, wie selten es derzeit in unserer Kirche ist, dass noch ein Christ das ganze christliche Festjahr in seinem eigenen Innern mit durchlebt, und andererseits, dass in gewissem Sinn doch jedweder Christ die ganze jährliche Festreihe auch wieder alle Tage in sich durchleben muss - denn Weihnachten und Karfreitag, Ostermorgen, Pfingsten und Himmelfahrtstag muss eigentlich alle Tage in jedem Christenherzen neu werden - so wird ja wohl der Unterschied nicht zu bedeutend sein, auch wenn ich am heutigen Tag über einen Festestext zu euch rede. Möge nur der allmächtige Gott geben, dass, nachdem meine zwei früheren Reden an euch so viel von euch gefordert haben, ihr durch diese wiederum empfangen mögt, Kraft um Kraft, Gnade um Gnade.

Wenn man den Text zur Geschichte der Himmelfahrt des Herrn auszusuchen hat, so kann man in Zweifel sein, welchen man wählen solle, da keiner von den verschiedenen Berichten der Schrift Alles, was dahin gehört, zusammenfasst. Da indessen der reichhaltigste Bericht uns im ersten Kapitel der Apostelgeschichte niedergelegt ist, so wollen wir diesen vor der christlichen Gemeinde verlesen:

Apostelgeschichte 1,1-14.
“Die erste Rede habe ich zwar getan, lieber Theophile, von alle dem, das Jesus anfing, beides zu tun und zu lehren, bis an den Tag da er aufgenommen ward, nachdem er den Aposteln (welche er hatte erwählt) durch den heiligen Geist Befehl getan hatte. Welchen er sich nach seinem Leiden lebendig erzeigt hatte durch mancherlei Erweisungen, und ließ sich sehen unter ihnen vierzig Tage lang, und redete mit ihnen vom Reich Gottes. Und als er sie versammelt hatte, befahl er ihnen, dass sie nicht von Jerusalem wichen, sondern warteten auf die Verheißung des Vaters, welche ihr habt gehört (sprach er) von mir. Denn Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber sollt mit dem heiligen Geist getauft werden nicht lange nach diesen Tagen. Die aber, so zusammen kommen waren, fragten ihn, und sprachen: Herr, wirst du auf diese Zeit wieder aufrichten das Reich Israel? Er sprach aber zu ihnen: Es gebührt euch nicht zu wissen Zeit oder Stunde, welche der Vater seiner Macht vorbehalten hat, sondern ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, welcher auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein zu Jerusalem, und in ganz Judäa und Samaria, und bis an das Ende der Erden. Und da er solches gesagt, ward er aufgehoben zusehens, und eine Wolke nahm ihn auf vor ihren Augen weg. Und als sie ihm nachsahen gen Himmel fahren, siehe, da stunden bei ihnen zween Männer in weißen Kleidern, welche auch sagten: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr, und seht gen Himmel? Dieser Jesus, welcher von euch ist aufgenommen gen Himmel, wird kommen, wie ihr ihn gesehen habt gen Himmel fahren. Da wandten sie um gen Jerusalem, von dem Berge, der da heißt der Ölberg, welcher ist nahe bei Jerusalem, und liegt einen Sabbat-Weg davon. Und als sie hinein kamen, stiegen sie auf den Söller, da sich aufhielten Petrus und Jakobus, Johannes und Andreas, Philippus und Thomas, Bartholomäus und Matthäus, Jakobus, Alphäi Sohn, und Simon Zelotes, und Judas Jakobi. Diese alle waren stets bei einander einmütig mit Beten und Flehen, samt den Weibern, und Maria, der Mutter Jesu, und seinen Brüdern.“

Die erquickenden Gedanken, auf welche uns diese Geschichte leitet, sind folgende:

  1. Die Stätte seines Scheidens, die Stätte seines Leidens:
  2. Verhüllet ist sein Anfang, verhüllet ist sein Ausgang;
  3. Der Schluss von seinen Wegen ist für die Seinen Segen;
  4. Er ist von uns geschieden, und ist uns doch geblieben;
  5. Er bleibt verhüllt den Seinen, bis er wird klar erscheinen.

Die Stätte seines Scheidens, die Stätte seines Leidens.

Von dem Augenblick an, wo der Heiland aus dem Grab sich erhoben, und die Sterblichkeit in demselben zurückgelassen, gehörte er nicht mehr der Erde an; während er früher, wie der Vater mit seinen Kindlein, ununterbrochen zusammen war, erscheint er ihnen jetzt nur ab und zu an verschiedenen Orten. Wo er nun sich aufhalte, sie fragen ihn nicht. Sie fragen ihn nicht, und wir wissen es nicht. Dass er wieder zum Vater gehen werde, das hat er ihnen oftmals gesagt: so mögen sie wohl gedacht haben, er wird nun bei seinem Vater sein. Er hat sie zum letzten Mal versammelt in der Hauptstadt. Über sich selbst hat er ihnen nicht mehr gesagt. Vom Reich Gottes hat er mit ihnen gesprochen. Am frühen Morgen, in einer Tagesstunde, wo kein ungeweihtes Auge ihn sehen konnte - denn nur die an ihn geglaubt hatten, hatten ihn damals geschaut - wandelt er mit den Elfen - der Zwölfte war an seinen Ort gegangen, wie die Schrift spricht - durch die noch stillen Straßen der Hauptstadt, zum Tor hinaus, und besteigt mit ihnen den Berg, dessen Fuß mit den Tränen, ja mit dem blutigen Schweiße des nun Verklärten benetzt worden war. Wer ermisst es, was nun durch sein göttliches Herz ging, als er dastand auf dieser freien Höhe, und den letzten irdisch-menschlichen Blick auf die Stätte seiner Kämpfe, auf die Stätte seiner Tränen warf? „Es ist vollbracht!“ - hatte er damals ausgerufen, als er am Kreuze das Haupt neigte; „es ist vollbracht!“ - wird er noch einmal ausgerufen haben. Jetzt liegen Elfe zu seinen Füßen, welche seine Kämpfe und seine Tränen der Welt abgestritten als einen teuren Raub, aber die mehr als elf Millionen, die einst zu seinen Füßen liegen würden, und für welche diese Elfe der geringe Samen sind, schaut sein ahnender Blick. - Es ist vollbracht! - Geliebte, ihr wisst, die Schrift spricht nicht bloß durch die in ihr enthaltenen Reden zu uns. O, eine noch unendlich lebendigere Sprache sprechen ihre Tatsachen. Geht die Ereignisse der jüdischen Geschichte, geht die der Geschichte unsers Herrn durch - gleichsam wie durchsichtig erscheint eine jegliche Begebenheit. Durch sie alle hin geht eine heilige Symbolik. Auch dieses Ereignis ist ein Sinnbild, oder wäre es Zufall gewesen, dass er sich zu dem Aufschwung zum Vater gerade die Stätte erkoren, welche seine schwersten Kämpfe gesehen? Auch für die Seinigen müssen die Stätten ihres Leidens und ihrer Tränen die Stätten ihrer Verklärung werden - das ist die Wahrheit, welche durch diese Tatsache uns gepredigt wird. Kämpfende, betend kämpfende Jünger Christi, jetzt teilt ihr mit eurem Erlöser seine Nacht, die Nacht Gethsemanes, wo ihr schreit: „Vater ist's möglich, so gehe dieser Kelch vorüber!“ aber ihr werdet auch mit ihm seinen Himmelfahrtsmorgen feiern, wo ihr mit ihm rufen werdet: „Es ist vollbracht!“ wo die Erde unter euch wird leicht werden, und mit allem ihrem Weh' dahinsinken. „In uns ist zweierlei Natur, doch Ein Gesetz für beide: es geht durch Tod und Sterben nur der Weg zur wahren Freude.“ In einem starken Ausdruck sagt Paulus: „Wir tragen allezeit das Sterben des Herrn Jesu an unserem Leib, auf dass auch das Leben des Herrn Jesu an unserem Leib offenbar werde“ - ein überaus dunkler Ausspruch für den, welcher kein lebendiges Glied Christi ist, aber verständlich für den, dessen Leben ein Leben für Christum geworden ist. Alles Leid, was einen solchen auf der Erde trifft in Folge der Sünde, sieht er in einem großen Zusammenhang mit dem, was der Herr für ihn gelitten, und also sich wissend in der Gemeinschaft der Leiden seines Herrn, weiß er, dass auch für ihn die Gethsemanenacht zu einem Himmelfahrtsmorgen werden wird - und darauf voll Trost hinblickend singt er:

Ein kleines Häuflein wallen sie
Durch diese Erd' von Kampf und Müh',
Und tragen edlen Samen;
Einst wird der Tag der Ernte sein,
Wo die sich unaussprechlich freu'n,
Die aus viel Trübsal kamen.

Verhüllet war sein Anfang, verhüllet war sein Ausgang.

Und so musste es sein. Urteilt selbst, meine christlichen Brüder, wie verändert er vor euch stehen würde, wenn es anders wäre. Wie, wenn er nur die Wiederholung gewesen wäre von dem Adamsbild, das wir alle an uns tragen! Wie, wenn vom irdischen Vater erzeugt, der Vater ihn hätte in die Arme schließen dürfen und sagen: „Kind, du bist mein Bild - mit deinen Tugenden und deinen Lüsten bist du mein Bild!“ Wie, wenn er am Ende ausgestreckt worden wäre auf dem Krankenbett, mit gebrochenen Augen, mit erlöschenden Zügen, und mit röchelnder Brust, den weinenden Vater, die jammernde Mutter an seiner Seite, mit dem Klageruf: „O, dass auch über dieses Kind die kalte Erde sich legen muss!“ - O christliche Welt, fasse das Geheimnis: Er kam als der Bekannte und doch als ein geheimnisvoller Fremdling; er ging als ein geheimnisvoller Fremdling, und doch als dein Bekannter. Jene wunderbare Mischung des Nahen und Fernen, der Erde und des Himmels, des Menschen- und des Gottessohnes - ist es nicht gerade das, was so rätselhaft uns bewegt, so geheimnisvoll zu ihm hinzieht, so ehrfurchtsvoll, und doch so vertrauensvoll zu seinen Füßen uns legen lässt! Ein großer Theologe unserer Zeit hat den Ausspruch getan, dass in der Andacht christlicher Gemeinde des Zweifels derer, die draußen sind, auch nicht einmal gedacht werden müsse. Es ist wahr, hier an dieser Stätte wenigstens möchte man durch nichts daran erinnert werden, dass das Heilige, vor dem wir unsere Knie beugen, seine Feinde hat, die es mit Füßen treten. Wenn aber wirklich der Zweifel mit hereingebracht wird in diese Versammlung, wenn auch das Wort von der Kanzel, statt ein freudiges Echo in eurer Brust zu wecken, nur Fragezeichen ausruft, erlaubt es die Nüchternheit und Wahrheit, dass der christliche Prediger darauf nicht achte? Freilich sind die Gründe, mit denen von diesem Ort herab gegen den Zweifel gestritten wird, andere als die der Schule. Größtenteils ist euer gewecktes religiöses Gefühl selbst der Boden, auf dem hier gegen euch gestritten wird. Das nämlich wird doch vorausgesetzt werden dürfen, dass die christliche Versammlung an heiliger Stätte einen gewissen Gesamteindruck hervorbringt von der Herrlichkeit und Erhabenheit Jesu Christi, auch wenn die Ansichten über die Art und Weise derselben noch auseinandergingen. Diesen Gesamteindruck seiner Höhe und Größe, der euch hier ergriffen hat, lasst auch mich ansprechen. Findet sich auch in unserer Mitte ein solcher, dem diese Tatsache, von der wir predigen, noch eine von den Fabeln der christlichen Kinderzeit ist - hier, wo du eingetaucht bist in heilige Gefühle, die dir selber unbewusst sich um den Namen Jesu reihen - tu' ich die Frage an dich: Und wenn nun dein Zweifel wahr wäre, wenn der, welcher zum ersten Mal aus Josephs von Arimathia Gruft als Sieger über den Tod hervorging, zum zweiten Male als Besiegter dem Tod zur Beute geworden wäre, in gebrechlichem Alter, auf schwerem Krankenlager ausgestreckt - hast du das Herz, es laut in die Christenheit hineinzurufen? hast du das Herz, ihr statt ihres Himmelfahrtsfestes einen zweiten Karfreitag zu geben? - einen Karfreitag, auf welchen kein anderer Ostermorgen folgt, als der, wenn alle Toten auferstehen?

Der Schluss von seinen Wegen ist für die Seinen Segen.

Ihr wisst es alle, meine Freunde, wie unendlich wert einem der letzte Blick eines scheidenden Freundes ist, wie damals sein Antlitz aussah - das Bild prägt sich am tiefsten in die Seele. Warum ist es schrecklich, am Sterbebett eines Freundes stehen zu müssen, den der kalte Tod schüttelt? Ach, vor Allem meine ich: weil einem der Geliebte dann in diesem Schmerzensbild in der Erinnerung bleibt. Wie lieblich ist es nun, wenn wir sehen, auf welche Weise der letzte Blick des Heilandes auf die Seinigen gefallen ist. Es heißt im Evangelio Lukas: „Und er hub die Hände auf, und segnete sie, und es geschah, da er sie segnete, schied er von ihnen.“ Wenn eine künstlerische Phantasie sich ausdenken wollte, wie der letzte Abschied des Heilandes, der das zerknickte Rohr nicht zerbrach, und das glimmende Docht nicht auslöschte, beschaffen gewesen sei, könnte sie ein passenderes, ein schöneres Bild entwerfen? Schon bei einer andern Veranlassung habe ich euch darauf aufmerksam gemacht, wie reich die evangelische Geschichte auch an wahrhaft künstlerischen Darstellungen sei. Auch diese Art des Scheidens ist kein Zufall. Es gehört zum Ganzen des Lebens dessen, der nicht in die Welt gekommen war, zu richten, sondern selig zu machen. Denkt euch an's Ende des Lebens des Sünderheilands den Schluss des Lebens jenes Bußpredigers, des Elias, den das Ungewitter des Herrn im feurigen Wagen gen Himmel führte, und ihr fühlt es, dass dieser Schluss zu dem Anfang und zu der Mitte nicht passt. Wir lesen von den Aposteln: „Sie aber kehrten wieder nach Jerusalem mit großer Freude!“ Mit Freude? mit Freude, nachdem ihr Ein und Alles von ihnen geschieden - während sie damals doch nicht seiner Wiederkehr im Geist gewiss waren? Ja mit Freuden; - sie hatten die segnend ausgebreiteten Hände gesehen; - wo sie standen und wo sie gingen, da waren die segnenden Hände vor ihren Augen. - Nicht wahr, lieben Brüder, wir hätten mögen dabei sein, wir hätten sie auch sehen mögen, jene segnenden Hände? Nun, Teure, so tretet denn desto öfter im Geist hinzu zu jener heiligen Geschichte; feiert seine Himmelfahrt in eurem Herzen. Und wo ihr sonst immer Trauernde und Bekümmerte seht, da zeigt ihnen die segnenden Hände!

Indes wäre er völlig von dannen gegangen, meine Brüder, dann hätten doch auch die beim Scheiden aufgehobenen segnenden Hände sie nicht für immer trösten können. Und hätten sie, die es mit Augen gesehen, sich derselben fort und fort getröstet, so könnten doch wir es nicht.

Er ist aber von uns geschieden, und doch bei uns geblieben!

Ihr wisst es, Geliebte im Herrn, dass nicht alle Evangelisten uns die Geschichte seiner Auffahrt beschreiben. Warum sie es nicht alle beschreiben? O Geliebte, von so vielen Dingen haben sie uns nur Verse geschrieben, wo wir Kapitel wünschten, und Kapitel, wo wir ganze Bücher haben möchten. Wenn ich so das Bruchstückmäßige des ganzen Neuen Testamentes ansehe, will mich's oftmals bedünken, als hätte von einem ganzen reichen Blumengarten ein Windstoß nur etliche Lilien und Rosen herübergeführt. So z. B. jene lieblichste aller Erzählungen, die Erscheinung des Herrn am See Tiberias, von der man in Wahrheit sagen kann, dass, wie sie am frühesten Morgen stattfand, sie auch wie von Morgenduft und Morgenrot umzogen ist - von der haben nicht nur alle anderen Evangelisten geschwiegen, sondern Johannes sogar hat sie nur als einen Anhang zu seinem Evangelium hinzugeschrieben. Aber so umflossen ist eben auch diese letzte Erzählung des Johannes von einem jenseitigen Verklärungslicht, dass demjenigen das Herz dreimal erstorben sein muss, der da meinen könnte, nach solchen Auftritten hätte sich der Auferstandene auf dem Krankenlager ausgestreckt, und wäre den Weg alles Fleisches gegangen. Und wenn wir nun den andern Apostel betrachten, welcher ebenfalls von der Auffahrt schweigt, und am Schlusse seines Evangeliums als die letzte Rede des Auferstandenen die Worte finden (Matth. 28,18.20.): „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden - ich bin bei euch bis an der Welt Ende!“ braucht ihr mehr Zeugnis, dass der, welcher diese Worte sprach, den Tod verschlungen hat in den Sieg, und in ein ganz anderes Haus eingezogen ist als in die kalte Grabeskammer? Nur wenn er sich nach seiner Auferstehung als der Herzog des Lebens zur Rechten des Vaters auf den Thron gesetzt - nur dann haben diese Worte ihre Bedeutung: „ich bin bei euch bis an der Welt Ende!“ Er sagt es, dass er bei den Seinigen bleibe bis an der Welt Ende, und seine Kirche bezeugt es. Sie bezeugt es im Großen und Ganzen, sie bezeugt es in der Person jedes Einzelnen. Er ist bei seiner Kirche geblieben. Wenn ihr die Hundert zwanzig, die sich nach seiner Himmelfahrt versammelt hatten, nach zehn Tagen angewachsen seht zu drei Tausenden, nach zehn Jahren zu hundert Tausenden; wenn ihr dieselben, die allesamt die Flucht ergriffen unter seinem Kreuz, nachher, nachdem sie die Stäupung empfangen, von des hohen Rates Angesicht freudig hinausgehen seht; wenn ihr Athens Ölzweig samt Roms Adler am Kreuzesstamm des Nazareners niedergelegt seht, werdet ihr zweifeln, dass er bei seiner Kirche geblieben ist? Wenn damals jenem Hauptmanne, der unter dem Kreuz Wache hielt, Jemand gesagt hätte: „Weißt du wohl, dass der Name jenes Mannes nach tausend Jahren mit Kniebeugen genannt werden wird bis an das Ende der Erde, und dass dasselbe Kreuz ein Zeichen werden wird, vor dem in dreihundert Jahren der Kaiser des römischen Reiches sein Haupt neigen wird?“ - für einen Geisteskranken hätte er einen solchen Propheten gehalten, und doch - ist es geschehen! Er ist geblieben, und er bleibt bei jedem gläubigen Glied seiner Gemeinde. Er ist bei den Seinen geblieben! O lebengebendes Wort, welches schon so manches matte Herz erquickt hat - wie haben dich die Schriftgelehrten einer jüngstvergangenen Zeit entmarkt! Gemeinde des Herrn! Seine Lehre haben sie euch gegeben, dass sie bei euch bleibe bis an's Ende der Zeit, aber Ihn selbst haben sie euch dafür entzogen! Und ist es seine Lehre nur gewesen, die bei euch bleiben sollte, warum hat nicht auch ein Plato und ein Aristoteles zu den Seinigen sagen mögen: „Ich bleibe bei euch bis an der Welt Ende!“ - denn ihre Jünger haben diese Lehre doch auch noch jetzt. Und wenn das hehre Wort zu uns tönt: „Wo Zwei oder Drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen,“ so wäre es denn auch nur wieder seine Lehre oder sein Andenken? Soll also das etwa des hehren Wortes hohler Sinn sein: „Wenn zwei oder drei im Gedächtnis meiner und meiner Lehre zusammen sind, so ist meine Lehre mitten unter ihnen?“ Brauche ich euch darauf aufmerksam zu machen, dass in Seinem Namen sich versammeln doch nichts anderes sagen will als in Seinem Andenken, in der Erinnerung an Ihn und Seine Lehre - die bringen wir mit, und was Er uns dafür gibt, wäre nun wieder Seine Lehre und Sein Andenken? O ihr, die ihr den Segen eines gemeinschaftlichen Gebetes in Seinem Namen kennt, o ihr, die ihr wisst, was es heißt „einen Freund im Himmel haben“ ihr versteht auch das trostreiche Wort von Seinem Bleiben. Er selbst ist uns geblieben, und in dieser Gemeinschaft mit ihm selbst legt mit dem frommen Dichter jedes christliche Herz das Bekenntnis ab:

Was wär' ich ohne dich gewesen?
Was würd' ich ohne dich noch sein?
Zu tausend Schmerzen auserlesen,
Stund' ich in weiter Welt allein.
Nichts wüsst' ich sicher, was ich liebte,
Die Zukunft war' ein dunkler Schlund,
Und wenn mein Herz sich tief betrübte,
Wem tät ich meine Sorge kund?

Einsam verzehrt von Lieb' und Sehnen,
Erschien' mir nächtlich jeder Tag,
Ich folgte nur mit heißen Tränen
Dem dunkeln Strom des Lebens nach,
Ich fände Unruh' im Getümmel,
Und hoffnungslosen Gram zu Haus.
Wer hielte ohne Freund im Himmel,
Wer hielte da auf Erden aus!

So sind denn die Seinen selig, bei denen er geblieben ist, selig und doch nur - auf Hoffnung. Denn mitten in dem seligsten Innewerden seines Naheseins empfinden wir doch, dass es eine noch innigere Gemeinschaft mit ihm geben muss, und danach verlangt unser Herz. O Geliebte, und das geht nicht bloß uns so, das ist nicht bloß als eine Schwäche unseres Glaubens anzusehen. Er ist bei dem Jünger der Liebe geblieben, wie bei wenig Anderen, und doch kann derselbe mit Sehnsucht ausrufen: „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, wenn es aber erscheinen wird, werden wir ihm gleich sein.“ Er ist bei dem Jünger des Glaubens geblieben, und doch kann derselbe ausrufen: „Ich habe Lust abzuscheiden, um bei Christo zu sein.“ Er ist bei dem Jünger der Hoffnung, bei Petrus, geblieben, und doch kann er rufen: „Freut euch, dass ihr mit Christo leidet, auf dass ihr auch zur Zeit der Offenbarung der Herrlichkeit des Herrn Freude und Wonne haben mögt.“ Darum bedürfen wir denn auch noch eines andern Trostwortes, welches uns ebenfalls unser Himmelfahrtstext zuruft.

Verhüllt bleibt er den Seinen, bis klar er wird erscheinen.

Das ist das Trostwort, welches die himmlischen Boten in unserem Text den Aposteln zurufen: „dieser Jesus, welcher von euch aufgenommen ist in den Himmel, wird kommen, gleichwie ihr ihn habt sehen gen Himmel fahren.“ In diesem Wort, Geliebte, findet der Himmelfahrtstrost der Christen seine Vollendung. Es wird bei der geheimnisvollen, unsichtbaren Gemeinschaft nicht sein Bewenden haben - wir werden ihn sehen, wie er ist. Er selbst in den Tagen seiner Tränen auf Erden hat wohl verkündigt, er werde die Seinen nicht Waisen lassen, er werde wieder zu ihnen kommen im Geist, und doch ist diese Art der Gemeinschaft ihm selbst noch nicht genug gewesen. Auf eine innigere und nähere deuten die rätselhaften Worte hin Luk. 22,15: „Mich hat herzlich verlangt, das Osterlamm mit euch zu essen, ehe denn ich leide; denn, ich sage euch, dass ich hinfort nicht mehr davon essen werde, bis dass es erfüllt (das heißt: auf vollkommene Art genossen) werde im Reich Gottes.“ und Matth. 26,29: „Ich werde von nun an nicht mehr trinken von diesem Gewächs des Weinstocks, bis an den Tag, da ich es neu (das ist: auf eine neue, verklärte Weise) trinken werde mit euch in meines Vaters Reich.“ Was anders zeigen diese Worte an als die Gemeinschaft mit den Seinigen in einem ewigen Abendmahl - das weder die Feindschaft der Welt mehr trüben, noch unsre eigene Lauigkeit unterbrechen wird, das nichts mehr an sich haben wird von Sinnbild und Schatten, sondern eitel Wesen sein und Wahrheit.

O seht, welche Fülle der Gnade uns in jener Einen Tatsache dargeboten wird: das Unterpfand, dass wir in Seiner Gemeinschaft einst werden rufen können: es ist vollbracht! - die ausgebreiteten Segenshände, die aufgehoben bleiben über den Seinigen - die verhüllte Gemeinschaft mit Ihm während der Wallfahrt - die offenbare Gemeinschaft mit Ihm in der Heimat!

O nehmt, nehmt meine Brüder Kraft um Kraft, Gnade um Gnade, die euch in dieser beseligenden Geschichte dargeboten wird! –

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