Tholuck, August - Am Totenfeste 1834.

Warum sehe ich heute diese Stätte mit der Farbe des Todes überkleidet, warum liegt heute mehr noch als sonst, wenn ihr an diesem Ort zusammenkommt, feierlicher Ernst auf eurem Antlitz? Ihr seid zusammengekommen, um euch an eure Toten zu erinnern, um euch an euren eigenen Tod zu erinnern. O dass ihr ihn öfter dächtet, den Gedanken an den Tod und zwar vor dem Altar Gottes! Ist er doch, so gedacht, schon für Manchen die Geburtsstätte eines neuen Lebens geworden. Und was wollt ihr, das am heutigen Tag ich euch predige? O Geliebte, darf ich denn euch predigen, was ihr wollt? Doch - was wollt ihr, das ich euch predige? Etwa die Versicherung, dass von leichter Welle jeder eurer entschlafenen Lieben in einen Hafen der Ruhe sei hinübergetragen worden? Etwa, dass ich euch ausmale mit goldenen Bildern, wie sie allesamt nun ausruhen von ihrer Arbeit auf grüner Wiese, an jenem klaren Bach, der nach dem Wort der Weissagung aus dem ewigen Tempel rinnt? Und wie nun, wenn ich heute so euch predigte, und mit süßem Ton in sanften Schlummer euch wiegte, und der Blitz des Todes träfe euch in dieser Nacht, dass ihr am Morgen in der Ewigkeit erwachtet und ihr säht, ich hätte euch betrogen? Was sollte ich euch antworten, wenn ihr dort vor dem Thron der Majestät mich fragtet: Diener Jesu Christi! warum hast du uns betrogen - betrogen von der Stätte herab, wo nichts als Gottes Wahrheit erschallen soll? Geliebte, ich darf euch nicht predigen, was ihr wollt, ich darf euch nicht predigen, was ich will: was der Herr will, muss ich euch predigen. Hat er gesagt, dass der Weg schmal ist und die Pforte eng, wie könnte ich Armer das Gegenteil zu sagen wagen? Darum, Geliebte, die ihr am Grab eurer Lieben weint, zürnt mir nicht, wenn ich nicht euch allen ohne Unterschied Blumen zu streuen vermag. Einen Kranz will ich euch dagegen vorhalten, einen Amaranthenkranz, einen unvergänglichen, unverwelklichen, unbefleckten Kranz, welchen, wie der Apostel sagt, zu seiner Zeit der Selige und allein Gewaltige, der König aller Könige, der gerechte Kampfrichter wird darreichen Allen, die seine Erscheinung lieb haben. Ob alle eure Lieben denselben bereits gewonnen haben - ach, das kann ich ja nicht wissen. Ob ihr alle ihn gewinnen werdet? auch das kann ich nicht wissen; aber, meine Brüder und Schwestern in dem Herrn, lasst uns alle zusammen unsere Hände falten und bitten, lasst die Lenden uns gürten und laufen - ob wir ihn gewinnen mögen. Denn, sagt das ernste Wort des Apostels: „Ob auch Einer kämpft, wird er doch nicht gekrönt, er kämpfe denn recht.“

Damit wir nun recht kämpfen um den unvergänglichen Kranz, so lasst uns allzumal beherzigen, was Paulus zu den Kolossern sagt im 3. Kap. V. 3.4. „Denn ihr seid gestorben und euer Leben ist verborgen mit Christo in Gott, wenn aber Christus euer Leben sich offenbaren wird, dann werdet ihr auch offenbaret werden mit ihm in der Herrlichkeit.“

Nur wer ein in Gott verborgenes Leben geführt hat in der Zeit, wird offenbar mit Gott leben in der Ewigkeit, das ist die ernste Stimme, welche uns hier entgegen tönt. Und meine heutige Rede an euch soll sich darauf beschränken, euch die Wahrheit dieses Satzes darzutun. Um aber die Wahrheit dieses Wortes zu erkennen, bedürfen wir nichts anderes, als dass ich zuerst die Natur eines in Gott verborgenen Lebens euch entfalte, denn - sein Ausgang ist die Herrlichkeit. So lasst uns denn in unserer heutigen Andacht das in Gott verborgene Leben betrachten in seinem Anfang, in seinem Fortgang und in seinem Ausgang.

Ein in Gott verborgenes Leben - ein geheimnisvoller Ausdruck. Wie viele unter euch führen ein verborgenes Leben? Ein offenbares Leben führt ihr alle. Man sieht eure Genüsse und eure Entbehrungen, euren Sonnenschein und eure Gewittertage, eure Schlachten und eure Friedensschlüsse. Indem aber die heilige Schrift von einem verborgenen Leben des Menschen spricht, setzt sie voraus, dass bei den Christen neben jener mannichfaltigen bunten Reihe der äußeren Ereignisse auch im Innersten der Brust eine Reihe innerer Ereignisse sich hinziehe, eine Reihe innerer Genüsse und Entbehrungen, inneren Sonnenscheins und innerer Gewittertage, innerer Schlachten und innerer Friedensschlüsse. Der Christ hat nicht bloß eine äußere Geschichte, er hat auch eine innere. Wehe dem Christen, der, wenn er nach längerer Zeit der Abwesenheit seinen Freund wiedersieht, ihm nur von der Geschichte seines Lebens zu erzählen weiß, von den Genüssen und Entbehrungen, dem Sonnenschein und dem Gewitter, welches vor den Augen aller Welt geschehen ist. Aber, ihr christlichen Jünglinge, wie viele Freunde gibt es denn unter euch, die, wenn sie sich wiedersehen, die Geschichte eines in Gott verborgenen Lebens sich zu erzählen haben? Und doch vom Thron der Majestät herab wird einst an euch alle der Aufruf ergehen: Mensch, wo ist deine Geschichte? Und von was willst du dann erzählen, du Ärmster, wenn du zwar eine Geschichte deines Lebens in der Welt, aber nicht deines Lebens in Gott hast? Das also ist die erste Wahrheit, die wir uns auf Veranlassung unseres Spruches vergegenwärtigen sollen: In jedem Menschen soll die Religion eine Geschichte haben - eine Geschichte, die da fortläuft von dem Augenblicke, wo das Kind zum ersten Mal die Hände zum Himmel faltete, und sein Vaterunser lallte, bis zu dem letzten Atemzug, der da ruft: O Sohn Gottes, erbarme dich meiner - fortläuft bis in die Unendlichkeit!

Und nun lasst uns den geheimnisvollen Strom des in Gott verborgenen Lebens des Menschen bis zu jenem ersten Quellpunkt verfolgen, wo er so leise fließt, dass er schon da ist, ehe der Mensch selbst es merkt. „Gott hat gemacht - sagt der Apostel - dass von einem Blut aller Menschen Geschlechter auf dem ganzen Erdboden wohnen, und hat Ziel gesetzt und zuvor versehen, wie lange und weit sie wohnen sollen, dass sie den Herrn suchen sollten, ob sie ihn fühlen oder finden möchten, und zwar ist er nicht fern von einem Jeglichen unter uns; denn in ihm leben, weben und sind wir.“ Seht da die geheimnisvolle Stelle, wo der Born der Ewigkeit in die Zeit hineinfließt. Als der Ewige in den neugeschaffenen Erdensohn seinen Odem hineinblies, und zu ihm sprach: du bist mein Bild! da entstand das Geheimnis der Menschennatur, in welchem, wie in einem verschlungenen Namenszug, die Ewigkeit sich mit der Zeit vermählt hat. Gott ist allen Menschen nahe, denn „sie leben, weben und sind in ihm.“ Von den Heiden sagt derselbe Apostel im Brief an die Römer, dass „eine göttliche Wahrheit in sie hineingeboren ist, die sie in Ungerechtigkeit aushalten,“ d.i. nicht zu Worte kommen lassen, dass sie „von Natur das Gesetz Gottes wissen, dass auf die Sünde der Tod folgt!“ (Röm. 1,3l.) „Es gibt ein Licht, wie Johannes uns sagt, was jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt.“ Und in diesem Licht, in dieser von Gott in uns hineingeborenen Wahrheit zu leben, das, meine Freunde, ist das verborgene Leben, es ist das in Gott verborgene Leben, denn kein anderer als Er, aus dem es hervorquillt, weiß um seinen verborgenen Wellenschlag - Er ist es, in dem es gelebt wird. Soll ich nun den Schleier von eurer Brust heben, soll ich sie euch deuten die vielleicht von euch selbst noch unverstandenen Anfänge jenes Lebens in Gott, so lasst mich zuerst euch hinweisen auf jene Augenblicke, die wohl in dem Leben Keines von euch gefehlt haben, wo ihr nach Etwas verlangt habt, das die ganze Welt euch nicht bieten konnte. Denn wenn über die Welt hinaus kein anderes Gut ist als Gott, so hat eure Seele sich damals nach Gott gesehnt - es sind die Anfänge gewesen eines verborgenen Lebens in Gott. O dass nur der Mensch in solchen Augenblicken sich selbst verstände, o dass ein liebendes Freundeswort der Dolmetscher würde für jene geheimnisvolle Gottessprache, denn für wie viele spricht Gott, ohne dass sie es ahnen. Lasst mich euch den göttlichen Ruf nachweisen in den Momenten, die euch wohl allen bekannt sind. Ein feierlicher Sternenhimmel, die Höhen der freien Berge, ein stiller Sommermorgen mit dem fernen Ruf der Glocke, die zur Anbetung lädt - wo wäre ein noch so tief in der Welt versunkenes Herz, in dem nicht dann und wann dabei eine Sehnsucht aufgegangen wäre, eine Sehnsucht, die du bald eine Sehnsucht nach einem unbekannten Etwas, bald eine Sehnsucht nach Gott, bald eine Sehnsucht nach einer Ruhe nanntest, welche die Welt nicht geben kann. Ob dir's auch selber nicht bewusst ist, du sehntest dich damals wahrhaftig nach Gott. Du legst die glühende Wange an den Busen des Freundes, du stützt das müde Haupt an die Brust der Gattin, du lässt alle Güter des Lebens an dir vorübergehen, und fühlst dich so arm! „Gott hat den Menschen geschaffen zu ihm, darum findet das Menschenherz keine Ruhe, als bis es ruhet in ihm.“ Mitten im Geräusch der Gesellschaft ergreift einen Anderen jene Sehnsucht; die rauschende Musik schweigt einen Augenblick - ein Augenblick und alles um dich und hinter dir däucht dir ein langer Traum und alle Menschen Träumende - o wehe dir, der du den Augenblick nicht festhältst, und dich wieder hineinstürzt in die Woge, bis sie über deinem Haupt zusammenschlägt! So beginnt, ein einzelner Blitz, das verborgene Leben des Menschen; Christus nennt diese inneren Flammen die Züge vom Vater, und es kommt nun darauf an, ob dieser Anfang einen Fortgang haben soll. Gott hat sich dir genaht, es kommt darauf an, ob du nun ihm wieder nahen willst (Jak. 4,8.) Du tust es, das unbekannte Etwas, nach dem du dürstest, drängt dich; du suchst die stillen Stunden, du gehst ihm entgegen, ob es sich dir noch näher enthüllen wolle, dir näher entgegen kommen, du rufst: „Unbekanntes Etwas, nach dem ich die Hände ausstrecke, ohne noch seinen Namen zu wissen, offenbare dich mir und gib mir Ruhe!“ In der Sehnsucht deines Innern greifst du zur Rechten, greifst du zur Linken - endlich, endlich greift deine Hand auch zum Neuen Testament. Und nun wird Alles anders. Du liest, und es fallen die Schuppen von deinen Augen. Du wusstest selbst nicht, was deine Unruhe und Sehnsucht eigentlich meinte. Da lernst du es erkennen, dass die Sünde es sei, die dir den Weg zum Land der Ruhe verschloss, das ahntest du nicht. An Sünde dachtest du überhaupt nicht. Nun siehst du diese Scheidewand. Nun sehnst du dich aber auch nicht mehr nach einem unbekannten Etwas - nun weißt du, was dir fehlt; du sehnst dich nach dem reinen Herzen, ohne welches man Gott nicht schauen kann. Und das, das, meine Freunde, ist der Anfang im verborgenen Leben, der wahrhaftig einen Fortgang hat. Christliche Gemeinde, wir stehen jetzt in einer wichtigen Periode des Reiches Gottes, in einer Zeit großer Sehnsucht. O wie viele von Sehnsucht zerrissene Herzen mag es auch in dieser Versammlung geben! Doch wie viele auch zugleich, denen in diesem Sehnen ein Jahr ums andere vergangen ist, und das Suchen hat kein Finden werden wollen. Könntet, dürftet ihr vortreten vor die Gemeinde Gottes, ihr zerrissenen Herzen, und dürftet ihr eurem Schmerze Worte geben - wie hör' ich euch jammernd rufen: „Ach, dass das verborgene Leben, von dem du sprichst, bei mir nur zerrissene Blitze sind, nach denen die Nacht desto schauerlicher wird, und ein Morgen will nimmer tagen!“ Freunde! So lange eure Sehnsucht noch die nach einem unbekannten Etwas ist, da könnet ihr freilich nicht finden. Das war es ja eben, was ich euch sagte. An das bestimmte Wort der Schrift muss sie sich anknüpfen; die Gottheit, welche für euch noch keinen Namen hatte, muss eine Gestalt vor euch bekommen; ihr müsst den Heiligen erkennen, der da sagt: „Ich bin heilig, und ihr sollt heilig sein!“ ihr müsst aus der Schrift lernen, was die Scheidewand ist vom Lande der Ruhe, und alles euer Gebet muss in das Eine sich auflösen: „Mein Gott, schaff' in mir ein reines Herz!“ Ein solcher Anfang, Brüder, hat wahrhaftig einen Fortgang.

Es ist wahr, meine Andächtigen, in dieser Frühlingszeit des Reiches Gottes, in der wir leben, schlagen viele Bäume aus, von denen es zweifelhaft ist, ob je der Herbst ihre Blüten in Früchte verwandeln werde. Zahlreich sind unter Männern und Frauen, und insbesondere auch unter euch, ihr Jünger der Wissenschaft, diejenigen, bei denen ein gewisser Sinn für die unsichtbare Welt erwacht ist, eine Sehnsucht nach einem namenlosen Etwas, aber mit diesem Sinn und dieser Sehnsucht seid ihr nun hingegangen von einem Jahr zum andern, und die zerrissenen Bausteine haben sich nicht zusammenfügen wollen zu einem Tempel Gottes. Das macht, dass jene eure Sehnsucht noch keinen sittlichen und heiligen Charakter hat, dass es ein unbestimmtes Hangen und Schweben, ein dunkles, dichterisches Träumen ist. Soll ich in den Worten eines Dichters die Natur eures Sehnens aussprechen?

„Wo fass' ich dich, unendliche Natur?
Euch Brüste wo? Ihr Quellen alles Lebens,
An denen Himmel und Erde hängt.
Dahin die welke Brust sich drängt -
Ihr quellt, ihr drängt, und schmacht' ich so vergebens?

Das ist nicht eine einzelne Stimme, das ist die Stimme Vieler unseres Geschlechts. Und so lange das verborgene Leben in Gott nur diesen Charakter hat, so fehlt ihm auch die fortgehende Geschichte des inneren Menschen. Diese beginnt eigentlich erst damit, wenn jene Sehnsucht nach Ruhe eine Sehnsucht nach einem reinen Herzen geworden ist. Eine solche Sehnsucht nach einem reinen Herzen flattert nämlich nicht mehr ins Unbestimmte hinaus, sondern schließt sich unmittelbar an die Person des Erlösers an, und eben darin liegt der Grund, dass ein solcher Anfang des verborgenen Lebens auch seinen Fortgang hat. Ist jene unbestimmte Sehnsucht eine Sehnsucht nach einem reinen Herzen geworden, so gehen alle Gedanken auf den Erlöser als ihren Mittelpunkt hin. Sein heiliges Opfer wird der Trost, wenn das Gewissen uns anklagt; die Gemeinschaft mit ihm durch den Glauben wird die Quelle der Lebenskraft; sein heiliges Bild wird Vorbild. Darum heißt denn auch das verborgene Leben selbst in den Worten des Apostels Christus, „wenn Christus, euer Leben - heißt es - wird offenbar werden.“ Von dem an, wo dieses eintritt, besteht das verborgene Leben nicht bloß in vereinzelten Augenblicken, in zerrissenen Blitzen, es wird eine zusammenhängende, fortgehende Reihe innerer Erfahrungen - nach der langen Nacht bricht der Morgen an. Während vorher die ganze Reihe der äußern Begebenheiten des Lebens losgelöst von deinem inneren Leben an dir vorüberging, bringst du nun zu allem deinem Tun und Treiben die Beziehung auf den Erlöser mit, so dass jedes Wort und jede Tat des vor der Welt offenbaren Lebens des Christen mit einem inneren Worte und einer inneren Tat des verborgenen Lebens in Gott zusammenhängt. Während du vorher, unmittelbar nachdem der Blitz vom Himmel her dich durchzuckt hatte, dich wieder im Schlamm der Erde wohlfühlen konntest, kommt nun Einheit in dein Leben. Freilich kommen auch noch Zeiten, wo der Zusammenhang dieses inneren Lebens uns gestört erscheint, wo es uns vorkommt, als wäre es erloschen. Wie der Wanderer auf hohem Felsenrand tief unten unter dem Gestein kaum vernehmbar leise den kleinen Bach rauschen hört, so vernimmt auch der Gläubige zuweilen nur leise, dass der Strom seines inneren Lebens fortfließt - doch steht er nicht mehr still. Das ist das tiefe Wort unsers Luthers, dass der Glaube bei dem wiedergeborenen Christen gleich dem Pulsschlag des Blutes selbst in der Nacht nicht stille steht. Über sein eigenes Gnadenwerk in unserer Seele hält der Herr zuweilen den Schatten seiner Hand, dass wir es nicht sehen können, um im Glauben uns zu prüfen, und in der Demut uns zu erhalten. Da nun aber, nachdem der Mensch seinen wahren Schaden erkannt hat, das Verlangen nach dem reinen Herzen nicht mehr aufhören kann, so wird das Christenherz auch fortwährend nach seinem Herrn hingedrängt; denn Bedürfnis nach Erlösung kann nimmer aufhören, und eben damit kann denn auch der innere Strom nie völlig abbrechen. Ja nicht nur hört der Strom des verborgenen Lebens nicht auf zu rinnen, sondern er nimmt zu. Zwar haben gläubige Christen darüber verschieden gedacht, aber gewiss, dünkt mich, müssen wir sagen, dass in der Reinigung des Christen von der Zeit an, da er gläubig wurde, wenn auch von einzelnen Stillständen oder wohl gar Rückschritten unterbrochen, doch im Ganzen ein Fortschritt sein muss bis zu seinem Ende. Mit jedem größeren Zeitabschnitt muss die Lust der Welt uns verächtlicher, die ewige Wahrheit uns heiliger, Gottes Wille uns leichter, der Gedanke an den Tod uns freundlicher werden, dafern wir ächte Christen sind. Was heißt es denn anders, wenn der Apostel auffordert: immerdar zu wachsen, „bis dass wir alle hinankommen zu einerlei Glauben, und ein vollkommener Mann werden nach dem Maße des vollkommenen Alters Christi?“ Zwar mag uns der Schatten der Hand des Herrn nicht nur, wie ich vorhin sagte, unsere innere Verbindung mit Gott, sondern auch unseren Wachstum darin zuweilen verdecken, aber die, mit welchen wir in der nächsten Beziehung stehen, die müssen es wahrnehmen können zum Preise Gottes, dass an allen Ästen des Baumes unseres Lebens die goldenen Früchte der Gerechtigkeit sich mehren, und wenn auch deren Auge zu schwach sein sollte, so muss das unsichtbare Gottesauge uns dieses Zeugnis geben können.

Das ist der Fortgang des verborgenen Lebens mit Christo in Gott. Es heißt „ein verborgenes Leben mit Christo in Gott“ das will hier sagen, wie Christus - gleichwie es Christus hat, gleichwie Christus selbst in seiner irdischen Erscheinung seinem wahren Wesen nach der Welt verborgen blieb. So wie der Apostel anderwärts sagt, dass wir mit Christo begraben sind, wenn er sagen will, dass wir geistig begraben sind wie Christus leiblich. Aber Christus soll offenbar werden. Das Kreuz soll Strahlen erhalten, dass aus ihm ein Stern werde, und der Dornenkranz soll zum Diadem werden. Die Schrift nennt dieses eine Offenbarung Jesu Christi. Wohl war für das Auge des Gläubigen auch der Kreuzespfahl schon ein Thron der Herrlichkeit gewesen, und hatte sein Auge das Haupt mit der Dornenkrone von Himmelsglanz umflossen gesehen; aber sichtbarlich herausgetreten vor aller Augen, auch vor die Augen der Welt, war jene Majestät nicht. „Gleichwie er in der Welt war - sagt nun sein Jünger - so sind wir auch in der Welt.“ Wohl weiht jenes in Gott verborgene Leben der Christen sie zu Königen und Priestern der Menschheit, und machet sie herrlich an ihrem inwendigen Menschen; aber nach außen hin tragen sie, wie der Apostel sagt, das Leiden des Herrn Jesu an sich, und sterben täglich. (2 Kor. 4,10. 1 Kor. 15,31.) Darum denn abermals der Jünger, den der Herr lieb hatte, sagt: „Darum kennt euch die Welt nicht, denn sie kennt ihn nicht!“ Wann nun ihr König wird offenbar werden in Herrlichkeit, dann soll auch ihre innere Herrlichkeit offenbar werden, und soll ihr Schmuck und ihre Krone sein in Ewigkeit. Begreift ihr die Höhe und Tiefe solcher apostolischen Lehre? Nicht von außen her soll Seligkeit, Schmuck und Herrlichkeit in den Schoß der Erwählten Gottes fallen, nicht von außen her soll der Himmel hineingetragen werden in ihre Brust - o des wunderbaren Worts! - von innen heraus soll der Himmel samt der Herrlichkeit sich offenbaren und entfalten, und Alles, was noch Tod an ihnen heißen könnte, verschlingen ewiglich. (1 Kor. 15,54.55. 2 Kor. 5,4.) Jenes verborgene Leben Gottes im Gläubigen hatte der Apostel das Leben Christi in uns genannt - „wenn Christus, euer Leben - hatte er gesagt - wird offenbar werden.“ Sein Leben und unser Leben, das steht nun im innigsten Zusammenhang, heißen wir doch Glieder an seinem Leibe. Wird Sein Leben offenbar, dann wird auch das unsrige es werden, wo das Haupt herrlich wird, da wird seine Verklärung den Glanz werfen auf alle seine Glieder.

Ist nun aber alle jenseitige Seligkeit nichts anders, als das Freiwerden und Offenbarwerden des verborgenen Lebens in Gott, was wir schon hier geführt haben, o wie wollt ihr selig werden, die ihr keinen verborgenen Strom des göttlichen Lebens in euch tragt, der, wenn des Leibes Fessel gefallen ist, sich in das Meer der Ewigkeit ergießen könnte? (Joh. 4,14.) Ihr seht, Geliebte, bestätigt, was ich am Anfang unserer heutigen Betrachtung euch zurief: Nur wer hier ein verborgenes Leben mit Gott geführt hat in der Zeit, kann dort mit Gott offenbar leben in der Ewigkeit. O täusche sich Keiner! Man kommt nicht durch das bloße Sterben in den Himmel. O ihr, deren Tränen am Grab eurer Lieben fließen, ihr habt doch nur ein Recht zu weinen, wenn ihr zweifeln müsstet, ob eure dahingeschiedenen Lieben ein Leben in Gott in sich trugen, was dort mit Christo offenbar werden kann. Darüber vielmehr müsstet ihr an diesem Tag weinen, wenn euer Herz euch anklagte, dass, was ihr tun konntet, nicht alles geschehen ist, um ein verborgenes Leben in ihnen zu begründen. Ihr Eltern, die ihr um dahingeschiedene Kinder weint, pflanztet ihr denn auch bei denen, die euch noch geblieben sind, das verborgene Leben in Gott? Du Freund, der du über den dahingeschiedenen Freund weinst, baust du denn bei den Freunden, die dir noch geblieben sind, die Freundschaft auf das verborgene Leben in Gott? Ihr, die euer Herz anklagt, dass ihr selbst noch kein mit Christo in Gott verborgenes Leben in euch tragt, weint ihr denn über euch selbst? - Doch wie, wenn nun auch Weinende unter euch sind, welche jene Gewissheit, dass ein in Gott verborgenes Leben in ihren Dahingeschiedenen angefangen, nicht haben können? Ihr blickt zum Verkündiger des göttlichen Wortes hinauf, und fragt: „Und für uns - hast du für uns denn gar keinen Trost?“ Meine Geliebte, ohne allen Strahl der Hoffnung lässt das göttliche Wort euch nicht. Nur das, was mit deutlicher und unzweifelhafter Klarheit es verkündet, wollte ich am heutigen Tag euch aussprechen. Unsre nächste Betrachtung soll aber auch euch des Trostes darbringen, so viel das Wort der Wahrheit uns davon darreicht.

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