Tholuck, August - Mark. 2, 27.28. "Die Bedeutung der äußeren Zucht des Gesetzes im Christenthume."

Werfen wir einen vergleichenden Blick auf die Gestalt der Frömmigkeit in unsern Tagen, und in den Tagen unserer Vorfahren, so stellt sich als eine Hauptverschiedenheit dar, daß die Frömmigkeit unserer Vorfahren in höherem Grade mit einer äußern Zucht zur Gottseligkeit verbunden war, während sie bei uns nur davon abhängig zu sein scheint, wie eben Einer mehr oder weniger von seinen Gefühlen getrieben wird. Unsere Väter gingen von dem Glauben aus, den der Apostel in den Worten niedergelegt hat, daß „Gott will, daß allen Menschen geholfen werde, und sie zur Erkenntniß der Wahrheit kommen,“ und stellten darum auch an einen Jeglichen die Anforderung, „mit Furcht und Zittern“ zu bitten, zu suchen und anzuklopfen, bis die Thür sich aufthue, und Christus komme, und mit der Seele sein Abendmahl halte. Wir gehen häufig von der Meinung aus, als ob das Wort des Apostels: „Der Glaube ist nicht Jedermanns Ding,“ eben nichts Anderes sagen wolle, als daß man, um an Christum zu glauben, auf bestimmte Weise, wie man es nennt, in seinem Innern organisirt seyn müsse. Und so sehen wir es auch wohl an, wenn von solchen, die schon gläubig geworden, die Einen eine reiche Kraft des Glaubenslebens und viele schöne Früchte entfalten, die Andern aber dürre und unfruchtbare Bäume bleiben. Unsere Vorfahren fanden aber auch da einen großen Theil der Schuld darin, daß auch innerhalb des Lebens des Christen die Zucht des Gesetzes nicht kräftig genug waltete. Sehen wir nun, wie würklich unter den Christen unserer Tage es immer nur tönt von Freiheit, Geist, Kinder Gottes, wie aber von der Zucht des Gesetzes, der Verläugnung und der Bedeutung eines Knechtes Gottes weniger die Rede ist, so scheint es, daß es eine fruchtbringende Betrachtung seyn werde, wenn wir uns nach der Bedeutung der äußern Zucht des Gesetzes innerhalb des Christenlebens fragen, und einen allseitigen und tiefen Aufschluß hierüber erhalten wir durch den Ausspruch des Herrn Marc. 2, 27. 28.: „Und er sprach zu ihnen: der Sabbath ist um des Menschen willen gemacht, und nicht der Mensch um des Sabbaths willen. So ist des Menschen Sohn auch ein Herr des Sabbaths.“

Der Ausspruch hat etwas Räthselhaftes, aber dennoch schließt sich sein Sinn dem Betrachtenden leicht auf. Daß der Herr seinen Jüngern erlaubt hatte, am Sabbathe Aehren auszuraufen, und so das Gesetz der strengen Sabbathsfeier gebrochen, war den Schriftgelehrten zum Anstoß gewesen. Da zeigt der Herr, wie es sich mit der bindenden Gewalt des äußern Gesetzes und insbesondere des ceremoniellen Gesetzes verhalte. „Der Mensch, sagt er, ist nicht um des Sabbaths willen geschaffen,“ d. h. das Ziel des menschlichen Daseyns wird nicht erreicht durch die Beobachtung ceremonieller Gebote, das Ziel des menschlichen Daseyns ist das Leben in Gott - „vielmehr, sagt der Herr, ist der Sabbath um des Menschen willen gemacht,“ d. h. solche äußere Verordnungen, wie der Sabbath, sind nur zu dem Zwecke gegeben, um den Menschen zu erziehen, als eine äußere Zucht, um von außen ihn zu dem zu bilden, wozu er von innen heraus sich zu bestimmen noch nicht die Kraft hat. Von innen heraus sollte alle Tage dem von Gott geschaffenen Menschen der Gedanke an den kommen, der ihn gemacht hat; aber das Fleisch ist schwach, und so mußte Israel seinen Sabbath, und die Christenheit ihren Sonntag haben, um durch diese äußere Zucht erzogen zu werden zu dem, was der Geist von innen heraus winken soll. Und wie diese ceremoniellen Gebote und Anordnungen nur um des Menschen willen gemacht sind, so kann das auch in einem gewissen Sinne von allen sittlichen Geboten Gottes gelten, insofern sie bloße Gebote sind. Nur so lange nämlich, als der Geist Gottes nicht von innen heraus zu allem Guten antreibt, sind sie erforderlich. „Des Menschen Sohn aber, so heißt es hier, ist der Herr des Sabbaths;“ denn „wer den Geist ohne Maaß hat,“ wie von ihm geschrieben steht, was bedarf der noch von außen her eines erziehenden Gesetzes?

Ihr seht, meine Andächtigen, wie eben so klar als tief dieses Wort des Herrn uns die Belehrung giebt über die Bedeutung der äußern Zucht des Gesetzes für den gläubigen Christen. Der Menschen- und Gottessohn ist Herr über das Gesetz, dieweil er „den Geist hat ohne Maaß,“ den Seinen aber wird dieser Geist gegeben durch den Glauben, und so lehrt uns denn jener Ausspruch einmal: wo der Geist Gottes waltet, da hört die äußere Zucht des Gesetzes auf; es lehrt uns aber ebenso bestimmt zweitens: wo der Geist Gottes noch nicht waltet, da muß die äußere Zucht des Gesetzes bleiben.

Ich sage: wo der Geist Gottes waltet, da hört jede äußere Zucht des Gesetzes auf. Den Gerechten, spricht der Apostel, ist kein Gesetz gegeben.„ Und wiederum: „wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“, und abermals: „Alles ist euer,“ und: ich habe es Alles Macht.“ Das sind kühne, das sind gefährliche Worte. Das sind solche Worte, wie sie der Schwärmer, einer brennenden Fackel ähnlich, in die Welt hineinschleudert.

Aber wir wissen es ja auch längst, Geliebte, daß jedem großen Irrthumsschatten ein großes Wahrheitslicht entsprechen muß, daß die Irrthümer, welche wir kräftig nennen, nur ihre Kraft entlehnen von einer entstellten großen Wahrheit. Unläugbar aber ist es, daß am Ziel der christlichen Entwicklung der Zustand einer solchen Freiheit liegt, für welche es keine Schranke mehr in der Welt giebt. Wo der Geist Gottes allbeherrschend im Innern waltet, da hören gewiß die Gebote der Religion auf, für den Menschen eine Schranke zu seyn; ja es giebt gar keine Gebote mehr für einen solchen Menschen. Was weiß der von einem Gebote: „liebe Gott über Alles,“ für den die Liebe Gottes der Odem seiner Seele ist? was weiß der von einem Gebote: „liebe die Brüder,“ dem die Bruderliebe so zur andern Natur geworden, daß er zu leben aufhörte, wenn er aufhörte zu lieben? Und so mit allen Geboten der Religion, mit der Selbstverläugnung, der Keuschheit, der Demuth. Wie dort von dem Frommen geschrieben steht, daß er „ein Baum sei, gepflanzt an Wasserbüchen, der seine Frucht bringet zu seiner Zeit,“ so quellen alle guten Werke zu seiner Zeit, d. h. so oft die Aufforderung von außen kommt, aus einer solchen priesterlichen Seele hervor, ohne daß sie auch nur daran denkt, daß es Gebote dafür giebt. Will es euch ein zu erhabenes Ideal dünken, was ich euch vorführe? Erinnert euch, wie es schon jetzt uns ergeht, uns, die wir die Erstlinge des Geistes empfangen haben, mit den bürgerlichen Geboten. Wer denkt noch daran, daß das bürgerliche Gesetz unter harter Strafe uns gebietet: „du sollst nicht stehlen, du sollst nicht ehebrechen!“? Aus dem eigenen Innern gehen diese Gebote bei uns hervor. Wir müßten uns selbst verläugnen, wenn wir nicht so handelten, wie das Gebot gebietet, und darum wissen wir uns mitten in ihren Schranken frei. - O wie das so wohl thut, wenn wir uns nicht zu treiben brauchen, um Gottes Gebote zu erfüllen, wenn, wie Paulus sagt, „Gottes Geist Gottes Kinder treibt,“ wenn es nicht mehr von außen heißt: thue dies, thue das, laß dies, laß das, wenn Gottes Willen zu thun, die Speise unserer Seele ist. Wer so vom Geiste Gottes innerlich frei gemacht ist von allem Gebot, wie der auch so frei dasteht mitten unter den Schranken aller Verhältnisse der Welt, ja ihrer Drangsale! Frei ist er in den Ketten, frei im Kerker, frei unter der Last der nagenden Krankheit. Gottes Wille ist es, der die Ketten, die Kerker und die Krankheit gewollt hat, und da mein Wille nichts anderes will, als sein Wille, so bin ich frei in allen diesen Schranken. Stellt es euch vor, das königliche Bewußtseyn, wenn Alles, was von außen als Nothwendigkeit mir entgegen kommt, mit Freiheit ich mir selber setze und beschließe. Das war der königliche Sinn, mit dem die ersten Christen durch die Welt wallten, mit dem ein Paulus ausruft: „Alles ist euer!“ Ja wahrlich, wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit! Aber da, wo er nicht ist, dahin gehört auch die Zucht. Und waltet auch in uns, die wir gläubig sind, fortwährend der Geist? Wenn aber ein Paulus von sich und allen Christen als denjenigen spricht, die nur erst „die Erstlinge des Geistes empfangen haben,“ und die jenseits auf die volle Aerndte warten, wie er Röm. 8. sagt: „nicht allein aber die Kreatur, sondern auch wir selbst, die wir haben des Geistes Erstlinge, sehnen uns selbst nach der Kindschaft“ - was sollen wir Armen von uns sagen? - Das sollen wir sagen, daß da, wo der Geist Gottes noch nicht waltet, die äußere Zucht des Gesetzes bleiben muß. Ja Freunde, insoweit in uns Allen der Geist Gottes noch nicht das Scepter führt, bedürfen wir noch des Gesetzes. Und zwar bedürfen wir es erstens als einen Spiegel der Tugend, die uns fehlt, zweitens als einen Riegel der Sünde, die uns quält, und drittens als ein Siegel des Gnadenweges, den wir erwählt.

I.

Wir bedürfen des Gesetzes als eines Spiegels der Tugend, die uns fehlt. „Die Erkenntniß der Sünde, sagt Paulus, kommt aus dem Gesetz,“ und so lehrt es uns denn die Tugend, die uns fehlt. Viele Beweise der Wahrheit des Christenthums und der Göttlichkeit der heiligen Schrift mag es geben, aber, Freunde, einen kräftigeren und höheren wüßte ich euch nicht zu nennen, als daß es kein anderes Buch giebt, welches das Geheimniß des menschlichen Herzens so aufschlösse, wie dieses Buch. Groß sind die Geheimnisse Gottes in der Höhe, in die uns das Bibelbuch eingeführt hat, aber wahrlich nicht minder groß sind die Geheimnisse in der Tiefe der menschlichen Brust, in welche es einführt, und in dem Maaße, als der Geist des Herrn noch nicht in uns waltet, müssen wir Alle in dieser Schule zur Selbsterkenntniß erzogen werden unser Lebelang. Ein Paulus hat es weit gebracht in der Erkenntniß seiner selbst, und doch hat er das denkwürdige Wort müssen aussprechen: „Es ist mir ein Geringes, daß ich von einem menschlichen Tage gerichtet werde; auch richte ich mich selbst nicht. Ich bin mir wohl nichts bewußt, aber darinnen bin ich nicht gerechtfertigt: der Herr ist es, der mich richtet.“ Wollt ihr inne werden, Freunde', wie es mit eurer Selbsterkenntniß steht, so antwortet auf die Frage: Könnt ihr das dem Apostel aufrichtig nachsprechen? Seid ihr würklich überzeugt, daß, wenn ihr euch gar nichts bewußt wäret, daß ihr darum noch nicht gerechtfertiget wäret? Könnet und müsset ihr das auch sagen, nun so braucht ihr ja auch den Spiegel, der euch die Tugend zeigt, die euch fehlt, so braucht ihr den Spiegel des göttlichen Gesetzes. Und zwar verstehe ich hier unter dem Gesetze Gottes nicht etwa bloß die Gesetze des alten Bundes, sondern Alles, was in der Schrift geschrieben steht, insofern wir es als einen gebietenden Buchstaben betrachten, aus dem wir die Anforderungen Gottes erkennen lernen können, ist Gesetz. So sind die Geschichten des alten Bundes, in denen Gott mit seinem Volke hadert, weil es immer wieder die lebendige Quelle verläßt, und zu den Abgötter n sich wendet, ein Spiegel des Gesetzes, eine fortwährende Predigt an das Menschenherz: „du sollst nicht andere Götter haben neben mir;“ so ist die ganze Geschichte Jesu Christi eine Predigt an das Menschenherz: „wer saget, daß er in ihm bleibet, der soll auch wandeln, gleichwie er gewandelt hat;“ so ist die ganze Geschichte Pauli eine fortgehende Predigt: „seid meine Nachfolger, gleichwie ich Christi;“ so ist die Geschichte aller Zeugen des Evangelii in der Schrift und außer der Schrift eine fortgehende Predigt: „darum auch wir, dieweil wir einen solchen Hausen Zeugen um uns haben, lasset uns ablegen die Sünde, die uns abhält, und immer träge macht.“ „Denn, sagt derselbige Paulus, alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit, daß ein Mensch Gottes sei vollkommen, zu allem Guten geschickt.“ O ihr, die ihr Ernst macht mit dem christlichen Bekenntniß, haltet ihr ihn euch täglich vor, diesen Spiegel der Anforderungen Gottes an uns? Wieder und immer wieder habe ich darauf euch hingewiesen, und ob wohl nur der Eine und der Andere es auch würklich hat zur That werden lassen? Ich hoffe es zu Gott, wenngleich wohl wenige Zeiten gewesen sind, wo die Predigt so leicht Beifall gefunden hat, und so schwer Gehorsam. Ach, nach was anders fragen und suchen selbst manche Prediger des Worts, als nach diesem erbärmlichen Beifall in den Gemeinden, statt zu fragen, ob das gepredigte Wort auch Gehorsam finde? - Dieser Gehorsam gegen die Predigt fehlt aber deshalb, weil wir Christen dieser Zeit uns zu sehr gehen lassen. Und eben darum, weil wir zu sehr uns gehen lassen, bedürfen wir

II.

Zweitens, wo der Geist Gottes noch nicht waltet, die äußere Zucht des Gesetzes als einen Riegel für die Sünde, die uns quält. Wie jedwedes Thun des Menschen ein Ausfluß ist seines Willens, so würkt er auch wieder auf denselben zurück; wie aus dem sündlichen Gedanken das sündliche Wort und die sündliche That entspringt, so würkt das sündliche Wort und die sündliche That auch wieder auf den Gedanken zurück. Die Eitelkeit, der Zorn, die unkeusche Lust quält uns im Innern, und verlangt auszubrechen in das Wort. Du sprichst es aus, und zündend fährt ein feuriger Pfeil in dein eignes Herz zurück. Darum gilt immerdar, was der Herr zu Kam gesprochen: „Bist du nicht fromm, so ruht die Sünde vor der Thür, aber laß du ihr nicht den Willen, sondern herrsche über sie.“ Christen, wir dürfen unter keinen Umständen der Sünde den Willen lassen. Kann von innen heraus der Geist sie noch nicht dämpfen, so mußt du von außen her ihr den Riegel des Gesetzes setzen. Bei der Verweichlichung nun unserer Zeit fehlt es vor allem unserm Christenthume daran. Unsere Religion ist eine Religion des Gefühles, aber nicht des Gebetes und des Gebotes; fühlen wir uns fromm erregt, so sind wir fromm, ist das Gefühl fleischlich, so lassen wir uns gehen und sind fleischlich. Aber steht nicht geschrieben, daß wir „durch den Geist des Fleisches Geschäfte todten sollen?“ Christen, gehorchen müssen wir in jedem Augenblicke unseres Lebens dem unsichtbaren Könige, deß wir sind; könnt ihr es nicht als seine Kinder, wohlan! so müßt ihr es als seine Knechte. Aber gehorchen müssen wir. Darum muß denn auch im Leben des Christen in jeglichem Augenblicke eine herrschende Macht über ihm walten. Und ist es nicht von innen die Flamme des Geistes, so sei es von außen der Riegel des Gesetzes. Wer ist ein Mann des Geistes gewesen, wie Paulus, und doch hat auch bei ihm das Geschäft der Heiligung sich nicht immer so leicht und frei vollendet. Hat doch auch er sich müssen von außen her Damm und Riegel setzen, wenn er sagt: „Ich betäube meinen Leib und quäle ihn, daß ich nicht den Andern predige und selbst verwerflich werde.“ Darum, Christen, schreibt es tief in euer Gewissen: nichts schickt sich weniger für einen Christen, als sich jemals gehen zu lassen. Gehen lassen kann sich nur, wer keinen Herrn hat. Wir aber, „leben wir, so leben wir, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir aber leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“ Gehen lassen kann ein Christ sich nie, entweder er wird getrieben - von der Flamme des Heiligen Geistes, oder er wird gehalten - von dem Riegel des Gesetzes Gottes. Denkt euch, Geliebte, den Mann, dem es vergönnt ist, in der Nähe seines Monarchen zu weilen, vor dessen Angesicht das Leben zu führen, wird er jemals sich gehen lassen? Nein, gehen lassen wird er sich nimmer; wird er nicht getrieben von dem Geiste der Ehrfurcht und Liebe von innen, so wird er gehalten werden von außen durch den Riegel des Gesetzes. Aber auch wir, Christen, leben fortwährend vor dem Angesichte eines großen Königes - des allgegenwärtigen Gottes, darum wehe uns, wenn wir jemals uns gehen lassen!

Und hier ist nun auch der Ort, zu lernen, was es mit jenen äußerlichen Geboten für eine Bewandniß habe, die nicht eigentlich sittliche Gebote sind, die nur auf Zucht und Ordnung des äußern Lebens gehen. Manchmal mögt ihr wohl mit Verwunderung auf jene Unzahl äußerer Ceremonien und Gebote geblickt haben, mit denen Moses die Kinder des alten Bundes umringt hat. Kaum konnte eine Stunde ein Israelit dahingehen, ohne an eine der vielen Verpflichtungen dieser Art, die ihm auferlegt waren, erinnert zu werden. Auch diese äußerlichen Zuchtgebote sind nichts anderes, als ein solcher Riegel für die sündlichen Neigungen des Herzens, in dem der Geist noch nicht waltet. Drang es noch nicht aus der Tiefe des Innern, das Gefühl der fortgehenden Abhängigkeit in allem ihren Thun vor dem unsichtbaren König aller Könige, so mußte durch solche äußere Zuchtgebote es immer auf's Neue erweckt werden; sie durften sich nie gehen lassen. Ein jegliches dieser Gebote war gleichsam eine thatsächliche Predigt an das gottvergessene Herz: „Mensch, du bist ein Knecht Gottes.“ Und wie wir Christen, insofern der Geist des Herrn nicht in uns ist, unter der äußern Zucht des Gesetzes überhaupt stehen, gleichwie Israel, so können wir auch solcher äußerlichen Zuchtgebote, solcher äußerer Verordnungen nicht entbehren: denn auch sie sind ein Riegel für die Sünde, die uns quält. Wie auch der Geistigste unter uns noch nicht so Geist ist, daß er solche Gebote äußerer Ordnung entbehren könnte, laßt es mich an einem Beispiele euch deutlich machen, wo es unläugbar ist, an unsern Gottesdiensten. Ihr wißt von jener Christenpartei - mit dem einfachen Namen der Freunde hat sie sich belegt - welche darauf dringt, daß in den heiligen Versammlungen der Christen das Feuer der Andacht sich einzig und allein von innen entzünde, und die darum von keinem Glockenruf zur Andacht, und keinen himmelanstrebenden Tempeln, und keinen festlichen Sabbathskleidern und keinen heiligen Zeiten wissen wollen, die unter keinem andern Glockengeläute, als dem der betenden Seele, und in keinen andern Festgewändern, als in dem Schmucke der Andacht zusammenkommen. Und wie anders, sagen sie, könnte man wohl des Herrn Wort auslegen vom „Anbeten im Geist und in der Wahrheit?“ Und fürwahr, ginge der heilige Strom des Geistes Gottes durch unser Aller Herzen, was bedürften auch wir jener feierlichen Altäre und dieser priesterlichen Gewänder, des Glockenrufes und des Orgeltons, und solcher himmelanstrebenden Hallen? O an dem Sabbath, wo Christen die ewige Ruhe feiern werden, wird sie kommen die Zeit, wo wir vollkommen anbeten werden im Geist und in der Wahrheit, wo die verklärte Gemeinde des Herrn die Orgel und den Glockenruf nicht mehr nöthig haben wird, die Andacht im Innern wach zu rufen. Aber wer von uns hätte nicht die volle Ueberzeugung, daß jetzt, wo der Geist des Herrn sich kaum in seinen Erstlingen in uns entfaltet hat, auch der Geistigste unter uns aller dieser äußern Anordnungen und Zuchtgebote nicht entbehren kann? Wie nun also im öffentlichen Gottesdienst die bloß äußerliche Ordnung dem Geiste zu Hülfe kommen muß, so auch in Bezug auf die Frömmigkeit überhaupt. Wir bedürfen einer äußeren Regel, welche dem Geiste zu Hülfe kommt. Auch an einer solchen fehlt es nun dem Christenthum unserer Zeit, welches auf den Wellen des Gefühles unsicher hin und her schwankt. Da ist keine Sonntagsfeier mehr und regelmäßiger Kirchgang, kein regelmäßiges einsames Gebet im Kämmerlein und kein gemeinsames in den Familien. Geist, Geist! rufen wir. Aber kämen sie wieder, die Propheten Gottes, wie vor Alters, und sähen unsere Werke - Fleisch, Fleisch! würden sie uns entgegen rufen. - Fürwahr, Freunde, auch der Geistigste unter uns kann einer Regel, einer Ordnung in seiner Sittlichkeit und Frömmigkeit nicht entbehren, wenn nicht das Fleisch wieder mächtig werden soll. Und ihr Alle, die ihr von euch bekennen müßt, daß das Walten des Geistes Gottes in euch noch schwach ist, führet denn ein in euer Leben heilige Ordnungen. Nehmet, wie es der Apostel befiehlt, euer Mahl „mit Danksagung,“ um daran zu denken, daß es eine Gabe unverdienten Erbarmens ist; feiert euren Sonntag mit Kirchgang und Gebet, um, wenn es in der ganzen Woche nicht geschehen, wenigstens an diesem Tage lebendig daran zu denken, wer euer Herr ist, und welcher Gemeinde ihr angehört; führt das einsame Gebet in euer Kämmerlein ein und das gemeinsame in eure Familie. Und, möchte es euch scheinen, als würde das Joch euch zu schwer werden, bedenket, ihr habt ja doch schon die Erstlinge des Geistes; die Liebe zu eurem Heiland hat in euch angefangen, und wo dies der Fall ist, da wird auch nicht leicht mehr das Gesetz um des Gesetzes willen geübt werden, ohne daß sich nicht die Liebe hineinmischt. Denket euch die sauersten Pflichten, die schwersten Krankheitsleiden, die herbsten Verluste; nicht wahr: die Liebe wird sich doch hineinmischen, und, wenn sie auch nicht Alles thut, sie wird doch wenigstens helfen, euch das Gebot und die Wicht leicht zu machen? -

III.

Doch wäre auch die äußerliche Zucht des Gesetzes uns weder nothwendig als Spiegel der Tugend, die uns fehlt, noch als Riegel der Sünde, die uns quält, so würde sie uns doch heilsam seyn als Siegel des Gnadenweges, den wir erwählt, und darauf lasset uns schließlich noch einen Blick werfen. Diese äußerliche Zucht des Gesetzes, wenn man ihr sich unterwirft, ist ein fortgehendes Siegel, daß der Gnadenweg durch Christum zum Vater, den wir erwählt, allein den Menschen glücklich zu machen im Stande ist. Wer nämlich in Wahrheit der Zucht der göttlichen Gebote sich unterwirft, dem wird unzweifelhaft gewiß, daß auf dem Wege des bloßen Verdienens in jener Welt nicht die Seligkeit, und in dieser nicht die Ruhe jemals zu erwerben ist, denn erst in dieser Zucht lernt er, wie schwer es sei, die Gebote Gottes zu halten. Aber, fragt ihr, wäre der Wahn, bei Gott sich etwas zu verdienen, noch unter uns, wo kein Wort öfter von der Kanzel in das Ohr klingt als Liebe und Gnade? O Freunde, ich sage euch, vielleicht unter uns nicht in minderem Grade als in der Kirche, aus der die unsrige hervorgegangen. Aber freilich mit den veränderten Zeiten hat auch dieser Wahn ein anderes Kleid angezogen. Er hat das Kleid der Bildung angethan. - Es hält die Hand der ewigen Gerechtigkeit die zwei Wagschaalen, es fallen auf die linke eure ungerechten Werke, und auf die rechte eure Tugenden; wird die rechte so schwer seyn, daß sie sinkt? - wird die rechte sinken? O ich wollte nicht dafür stehen, daß aus dem Herzen eines Jeden von uns die Antwort verneinend klingen wird. Ich wollte nicht dafür stehen, - denn euer Auge ist ja zu blöde, um zu sehen, was auf die linke fällt. Ihr seht die Werke eurer Hand, aber die Werke eures Mundes, eures Herzens seht ihr nicht. Aber sehet doch, Christen, die ungerechten Worte, die ungerechten Gedanken und Wünsche, die je und je in eurem Herzen aufgestiegen - auch sie fallen herab auf die linke Schaale ohne Zahl! Doch ich höre es, wie aus dem Herzen der Meisten laut und ohne Zögern der Ruf dringt: ach nein, die rechte wird steigen; aber nun: was legt ihr hinein, daß sie sich senke? Ist es die reine unverdiente Erbarmung Gottes in Christo Jesu? O ich sehe, ich sehe, wie etliche Thränen in die rechte träufeln, etliche Thränen der Wehmuth und Reue und vor eurem Auge steigt die linke. Ja, Christen, hat Roms Kirche eine Werkgerechtigkeit gehabt von Kasteiungen und Wallfahrten, so haben wir eine Werkgerechtigkeit der Thränen. Freilich ist es so wahr, ach, es kann unendliches Gewicht in einer einzigen Thräne liegen, größer als alles Gewicht der Berge der Erde, in der Thräne, die aus dem tiefsten Grunde der Seele fließt, welche Buße that, und dennoch - versöhnen können uns auch die Thränen nicht, und zwar schon aus dem einfachen Grunde nicht, weil unsere Reue niemals tief genug, und unsere Thränen niemals heiß genug sind; versöhnen kann nur allein die reine unverdiente Gnade Gottes im Glauben angeeignet. Gläubige, die wird aber auch hineinfallen in eure rechte Schaale, und sie wird sinken! Zu diesem Bewußtseyn nun, daß weder unsere Werke, noch unsere Thränen machen können, daß die rechte Schaale sinkt, kommt allein, wer auf dem sauer n Wege der Zucht des Gesetzes Gottes gewandelt ist, und so drückt denn auch dieses ernste Leben unter dem Gesetze fest das Siegel darauf, daß wir zu unserm Heile den Gnadenweg erwählt, der uns die Seligkeit jenseits und die Ruhe des Herzens diesseits giebt.

Wohlan denn, Christen, wer von euch es ernst meint mit seinem Heile, lasset euch nimmermehr gehen! Betet um den Geist Gottes, der von innen heraus die Kinder Gottes treibt; aber wo irgend eine Pflicht, irgend ein Gebot euch vor das Gewissen tritt, das ihr auf Antrieb des Geistes zu vollbringen nicht im Stande seid, seid gehorsam dem Gesetze Gottes, und es wird auch für euch der Zuchtmeister auf Christum werden, wo ihr mit dem Menschensohne sprechen könnt: wer den Geist hat, der ist der Herr des Sabbaths, und mit seinem Apostel: „dem Gerechten ist kein Gesetz gegeben.“

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